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Pädophile Sexualstörung: Darüber sprechen, bevor es zu spät ist

Menschen mit einer sexuellen Vorliebe für Kinder halten diese in der Regel geheim. Doch mit einem Therapeuten darüber zu sprechen, könnte Schlimmeres verhindern. Ab 2018 wollen die gesetzlichen Krankenkassen Modellprojekte unterstützen und prüfen, ob sie künftig die Kosten für Therapien übernehmen.
Mann hält kleines Mädchen an der Hand

"Ich wusste, irgendetwas läuft falsch", erinnert sich Thomas. Thomas heißt eigentlich anders und hat für eine wissenschaftliche Publikation in der Zeitschrift "Sexuologie" seine Geschichte aufgeschrieben. Auch wenn er sich nicht an Kindern vergangen hat, so spürt er den Drang danach, kreisen seine Fantasien darum. Es ist eine Geschichte über Angst und Scham, Selbstmordgedanken und Depressionen.

Thomas ist pädophil. Wer sich dazu bekennt, erzeugt bei den meisten Menschen Ablehnung, schürt Angst und Wut. Kaum jemand kann den Betroffenen gegenüber eine neutrale, sachliche Haltung bewahren. Als pädophil gilt, wer länger als ein halbes Jahr sexuell erregende Fantasien hat, sexuelle Sehnsüchte verspürt oder sexuelle Verhaltensweisen zeigt, die sich auf Kinder bis zu einem Alter von zwölf Jahren beziehen. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO und der American Psychiatric Association wird die Neigung zur Störung, wenn Betroffene unter ihr leiden oder eine Gefahr für andere darstellen.

Wissenschaftler schätzen den Pädophilen-Anteil auf ein Prozent der Allgemeinbevölkerung, darunter fast ausschließlich Männer – im Schnitt befindet sich unter 100 Pädophilen eine Frau. Die Ursachen der Störung sind noch weitgehend unklar. Es gibt unterschiedliche Hypothesen, die bislang aber nicht hinreichend belegt sind, etwa dass Pädophilie zum Teil genetisch bedingt sein könnte oder mit bestimmten Hirnanomalien einhergeht.

Etwa die Hälfte der Betroffenen belässt es bei Fantasien, kontrolliert den Drang, kämpft dagegen an. "Jemand, der diese Präferenz hat, begeht nicht zwangsläufig einen Übergriff", erläutert Klaus Beier, Sexualwissenschaftler an der Berliner Charité. "Häufig werden die beiden Begriffe, Pädophilie und Kindesmissbrauch, aber synonym verwendet. Es wird nicht differenziert zwischen sexueller Präferenz und sexuellem Verhalten."

Beier und sein Team haben 2011 gemeinsam mit Kollegen aus Kiel, Regensburg, Leipzig, Hannover und Hamburg das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden" ins Leben gerufen, das inzwischen bundesweit elf Anlaufstellen für Menschen mit pädophiler Neigung zählt. Das Netzwerk gilt als aussichtsreicher Kandidat für Fördermittel in Millionenhöhe, die ab 1. Januar 2018 vergeben werden sollen.

25 Millionen Euro für Präventionsprojekte

Hintergrund ist ein neues Gesetz, das den Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenversicherungen (GKV) darauf verpflichtet, über fünf Jahre lang insgesamt 25 Millionen Euro an Modellprojekte zu vergeben, die Therapien für Menschen mit pädophiler Störung anbieten. Ziel ist zu überprüfen, ob und wie bestehende Angebote zur Kassenleistung werden könnten. Dazu soll untersucht werden, wie gut die bisherigen Angebote wirken und wie sie sich verbessern lassen, etwa um noch mehr Betroffene zu motivieren, eine Therapie zu beginnen und abzuschließen. Des Weiteren geht es um die künftige Finanzierung: Was sollten die Kassen zahlen, was etwaige andere Mittelgeber?

Anfang Juni hat der GKV-Spitzenverband Kriterien für Modellprojekte veröffentlicht, die sich bis 10. Juli 2017 mit einer Projektskizze um eine Förderung bewerben können. Aussichtsreiche Kandidaten erhalten im zweiten Schritt die Gelegenheit, einen umfassenden Förderantrag einzureichen.

"Das ist ein Meilenstein", sagt Beier, der weltweit zu den renommiertesten Experten seines Fach gehört. "Denn der Bedarf ist offensichtlich vorhanden." Laut Netzwerk haben sich in den vergangenen fünf Jahren rund 7000 Menschen anonym in Berlin und an den anderen Standorten gemeldet – mit Fragen, Bitten, Hilfegesuchen. Für einen Therapieplatz kommen nur jene in Frage, die sich nicht in einem strafrechtlichen Verfahren befinden. Zu groß ist sonst das Risiko, dass die Teilnehmer nicht genug eigene Motivation mitbringen oder lediglich dem Gericht gegenüber Besserungsabsicht demonstrieren wollen.

So arbeiten Therapeuten mit pädophilen Patienten

740 Teilnehmer haben eine Therapie begonnen, darunter Menschen zwischen 18 und 72 Jahren, knapp die Hälfte von ihnen befand sich in einer Beziehung mit einem erwachsenen Partner. 269 Patienten sind noch in Behandlung, 295 haben sie abgeschlossen. Die Abbruchraten von rund 20 Prozent sind mit Quoten anderer anspruchsvoller Therapien vergleichbar, beispielsweise bei Patienten mit Essstörungen oder Borderline-Persönlichkeitsstörung.

Das Programm, die Berliner Dissexualitäts-Therapie, besteht aus zwölf Modulen. Die Teilnehmer überprüfen unter anderem eigene Gedankengänge – etwa die Annahme, dem Kind etwas Gutes zu tun. Sie analysieren Gefühle wie Einsamkeit und Wut. Sie hinterfragen, welcher Zusammenhang besteht zwischen dem, was sie empfinden, und dem, was sie tun. Und sie versuchen, sich in ihr Opfer einzufühlen, Empathie zu entwickeln.

"Wiederholte Messungen weisen ganz klar darauf hin, dass die Pädophilie sich schon während der Pubertät manifestiert und sehr stabil ist"

Gegen Ende der Therapie sollen die Patienten ein positives, lebensbejahendes Selbstbild entwickeln und einen Notfallplan für Risikosituationen an die Hand bekommen. Denn dass die pädophile Neigung je ganz verschwindet, halten die Therapeuten im Netzwerk für unrealistisch. Zwar streiten Experten noch über die Veränderlichkeit der Pädophilie, "doch wiederholte Messungen weisen ganz klar darauf hin, dass die Pädophilie sich schon während der Pubertät manifestiert und sehr stabil ist", sagt Beier.

Die Therapie dauert ein bis eineinhalb Jahre, jede Woche findet eine zweistündige Sitzung statt. Meistens in der Gruppe, gelegentlich auch in Einzelgesprächen. "Rund 25 Prozent der Teilnehmer erhalten zusätzlich zeitweise triebdämpfende Medikamente", berichtet Beier.

Die Medikamente wirken beispielsweise, indem sie die körpereigene Produktion des Geschlechtshormons Testosteron reduzieren. Oder indem sie die Konzentration des körpereigenen Botenstoffs Serotonin erhöhen – ein hoher Serotoninspiegel kann sexuelle Bedürfnisse und impulsives Verhalten mindern. Die Mittel können aber auch eine Reihe von Nebenwirkungen auslösen: Müdigkeit, Gewichtszunahme, eine verringerte Knochendichte.

Wie gut wirkt das Präventionsprojekt "Kein Täter werden"?

Doch wie gut wirkt das therapeutische Gesamtpaket? "Unsere eigenen Evaluationen zeigen, dass wir Risikofaktoren für Übergriffe durch die Behandlung beeinflussen können", sagt Beier. Die Sexualwissenschaftler haben die ersten Ergebnisse ihrer therapeutischen Arbeit von 2005 bis 2011 am Berliner Standort in einer Pilotstudie evaluiert und dabei Daten von 53 Teilnehmern des Programms im Nachgang mit Angaben von 22 Betroffenen einer Wartegruppe verglichen. Derzeit laufen Follow-up-Untersuchungen, die den langfristigen Therapieerfolg prüfen.

Nach der Behandlung hatten Gedanken und Haltungen, mit denen sie Kindesmissbrauch für sich selbst legitimierten, abgenommen

Direkt nach der Behandlung gaben die Patienten an, sich weniger einsam zu fühlen und sich besser in ihre Opfer hineinversetzen zu können als vor der Behandlung. Gedanken und Haltungen, mit denen sie Kindesmissbrauch für sich selbst legitimierten, hatten abgenommen, etwa dass sie dem Kind mit ihren Handlungen etwas Gutes täten oder dass ihr Verhalten etwas mit Liebe zu tun habe. Schlüssel zum Therapieerfolg ist, je nach Patient, zum einen die Bereitschaft, die Neigung als Teil der eigenen Persönlichkeit anzunehmen, zum anderen der Umgang mit Risikosituationen wie Einsamkeit, die einen Übergriff unter Umständen begünstigen.

In der Therapiegruppe begingen fünf der 53 Teilnehmer während der Behandlung einen sexuellen Übergriff, in der Wartegruppe waren es drei von 22 – der Unterschied war statistisch gesehen nicht bedeutsam. Es handelte sich durchweg um Rückfälle, das heißt, die acht Personen hatten zuvor schon Kinder missbraucht; Schwere und Häufigkeit der Übergriffe hatten jedoch abgenommen. Nach einem Jahr ohne Therapie beging in der Kontrollgruppe einer von zehn einen Übergriff, in der Therapiegruppe hingegen einer von 20.

Die Evaluation birgt allerdings methodische Probleme. Zum einen handelt es sich nur um eine kleine Stichprobe, zum anderen wurden die Probanden nicht zufällig auf Therapie- und Wartegruppe aufgeteilt, und alle Probanden wussten, ob sie sich in Therapie befanden oder darauf warteten. So ist eine Aussage darüber, wie gut die Behandlung wirkt, nur sehr eingeschränkt möglich, da bereits das Wissen um eine Behandlung erstaunlich wirksam sein kann.

Nicht jeder, der ein Kind missbraucht, ist pädophil

Obwohl die vorliegenden Ergebnisse noch viele Fragen offenlassen, gilt das Berliner Projekt als State of the Art. Darüber hinaus gibt es in Deutschland neben vereinzelten kleineren Initiativen zwei weitere große Modellprojekte: eines zur Prävention sexuellen Missbrauchs (PsM) in Göttingen sowie die Behandlungsinitiative Opferschutz (BIOS-BW). Sie richten sich nicht ausschließlich an Pädophile, sondern auch an Menschen, die sich aus anderen Gründen an Kindern vergangen haben oder fürchten, dies zu tun. Denn was viele nicht wissen: Sexuelle Übergriffe auf Kinder können Ausdruck einer pädophilen Neigung sein, müssen es jedoch nicht. In rund der Hälfte der Fälle liegen andere Störungen zu Grunde, so Experten. Manche Täter verfügen beispielsweise nicht über die nötigen sozialen Fertigkeiten, um einen erwachsenen Sexualpartner zu finden, und suchen Ersatz in Kindern. Andere nutzen den Kindesmissbrauch als Ventil, um Stress abzubauen oder mit beruflichem Druck umzugehen.

Das Präventionsprojekt an der Göttinger Asklepios Klinik für Forensische Psychiatrie rief der Psychotherapeut und Chefarzt Jürgen Müller ebenfalls schon 2011 ins Leben. Anders als im Berliner Modell werden dort die genannten zwei Gruppen gemeinsam behandelt. Das Netzwerk versorgt die einen im Rahmen des Projekts "Kein Täter werden", die anderen in den Instituten oder Ambulanzen vor Ort, weil sich die Behandlungsziele unterscheiden können. So sollen Pädophile in der Therapie lernen, ihre sexuelle Neigung als Teil ihrer Persönlichkeit anzunehmen. In Göttingen betrachtet man die Pädophilie vielmehr als einen Risikofaktor von mehreren. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass die Patienten lernen sollen, Risiken frühzeitig zu erkennen und alternatives Verhalten einzuüben.

"Wir möchten möglichst viele Menschen behandeln, die diesen Drang verspüren oder davorstehen, ein Missbrauchsdelikt zu begehen – unabhängig davon, ob gerade gegen sie ermittelt wird, ob sie pädophil sind, ob sie unter Alkoholeinfluss handeln oder ihre Macht demonstrieren wollen", erläutert Müller. Das Ziel sei stets das gleiche: zu verhindern, dass diese Menschen ihr sexuelles Interesse an Kindern ausleben. Die Gelder der Krankenkassen sollen jedoch nur in jene Behandlungen fließen, die ausschließlich Patienten mit einer pädophilen Störung versorgen.

Ein Problem gilt es noch zu lösen: Im Rahmen der Präventionsprojekte für Pädophile war Anonymität garantiert. Diese ist auch im neuen Gesetz zur Förderung der Modellvorhaben fest verankert. Wie die Anonymität der Patienten bewahrt werden kann, sollten die Krankenkassen die Behandlungskosten auf Dauer übernehmen, ist bislang unklar. Eine Möglichkeit wäre die Abrechnung über Quartalspauschalen, wie dies bereits in Modellprojekten oder in forensischen Ambulanzen der Fall ist.

Der Göttinger Psychotherapeut Müller hält die ärztliche Schweigepflicht für grundsätzlich ausreichend, auch für die medikamentöse Behandlung. Allerdings nur, wenn die persönlichen Daten weiterhin nicht an die Krankenkassen gemeldet werden. Denn dies könnte Menschen mit pädophiler Neigung abschrecken, erläutert er. "Besser wäre ein gemeinsam finanzierter Topf, aus dem die Präventionsprojekte diagnoseunabhängig gefördert werden."

Dass über das Modellvorhaben hinaus die Anonymität der Patienten unbedingt garantiert bleiben muss, steht auch für die Verantwortlichen vom Netzwerk "Kein Täter werden" außer Frage, wie dessen Sprecher Jens Wagner bekräftigt: "Es gibt kaum einen Patienten, der bereit ist, sich unter Angabe seiner persönlichen Daten an seine Krankenkasse behandeln zu lassen."

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