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Human Brain Project: Der Streit um das Hirnforschungsprojekt eskaliert

In einem offenen Brief machen Kritiker ihrem Ärger Luft. Sie werfen den Projektverantwortlichen Intransparenz vor. Bleibe es dabei, soll das Geld lieber umgeleitet werden.
Hirnstimulation

Vergangenen Oktober wurde es auf den Weg gebracht, nun ist das eine Milliarde Euro schwere Human Brain Project der EU unter heftigen Beschuss von Kritikern geraten: Das wissenschaftliche Unterfangen drohe vom Kurs abzukommen. Der Grund dafür sei schlechtes Management.

155 Wissenschaftler haben einen Protestbrief unterzeichnet, der am 7. Juli an die Europäische Kommission verschickt wurde (seitdem kamen noch 125 weitere Unterstützer hinzu, Anm. d. Red.). Die Unterzeichner verlangen darin, dass sich die Kommission ernsthaft mit der Frage auseinandersetzt, ob das Projekt noch seiner Bestimmung gerecht wird. Derzeit begutachtet die Kommission die Anträge für eine zweite Förderrunde ab 2016.

Das Human Brain Project (HBP) wurde ins Leben gerufen, um durch Unterstützung der Hirnforschung und Verwertung ihrer Ergebnisse wichtige Impulse für die Computertechnologie zu gewinnen. Ein zentraler Baustein der Initiative, die bereits einige internationale Nachahmer gefunden hat, ist deshalb die Entwicklung von Supercomputern zur Simulation des Gehirns. Doch die ursprüngliche Zielvorstellung ist in der Zwischenzeit aufgeweicht worden.

Hirnforschern platzt der Kragen

Nach monatelangem Streit und allerlei Diskussionen über die wissenschaftliche Ausrichtung des Programms platzte Ende Mai vielen Beteiligten endgültig der Kragen, als das drei Mann starke Leitungsgremium entschied, einige Bestandteile des Projekts, darunter auch der Bereich kognitive Hirnforschung, aus der zweiten Förderphase auszuschließen. Autokratisch und unwissenschaftlich sei diese Entscheidung getroffen worden, kritisieren die Unterzeichner des offenen Briefs.

Leiter des neurokognitionswissenschaftlichen Unterprojekts war Stanislas Dehaene, der Direktor der INSERM-CEA Cognitive Neuroimaging Unit in Paris und einer der Gewinner des diesjährigen Brain Prize, einer prestigeträchtigen Auszeichnung. Am 30. Mai zog er seine Teilnahme an der zweiten Phase zurück. Als Grund nannte er, dass er das Vertrauen in einige der zuvor getroffenen Entscheidungen und in die Projektleitung verloren habe. Den Protestbrief hat er nicht unterzeichnet.

Die Mitglieder des internen und externen Beirats des HBP zeigten sich erschrocken über die Eskalation des Streits. Bis zum Ende hatten sie gehofft, die Spannungen, für die sie ebenfalls in Teilen intransparentes Management verantwortlich machen, abbauen zu können. Sten Grillner, ein Hirnforscher vom Karolinska-Institut in Stockholm und Mitglied des internen Beirats, sagt, es sei "enttäuschend", dass die Angelegenheit in aller Öffentlichkeit explodiert sei. "Ich hoffe, dadurch entsteht kein Schaden."

Anschuldigungen "völlig grundlos"

Das HBP ist eins der beiden Flaggschiffprojekte "Future and Emerging Technologies" der Europäischen Union. Interdisziplinäre Forschung soll die Informations- und Kommunikationstechnologie in Europa voranbringen. Rund 80 Universitäten und Forschungseinrichtungen nehmen am HBP teil, das in die drei miteinander vernetzten Sektionen Informatik, Hirnforschung und Medizin organisiert ist. Das Unterprojekt zur kognitiven Neurowissenschaft beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie das Gehirn zur Erzeugung und Kontrolle von Emotionen beiträgt oder wie auf neuronaler Ebene Entscheidungen getroffen werden.

Für den Koordinator des HBP, den Hirnforscher Henry Markram von der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Lausanne (EPFL), vertreten die Kritiker eine Minderheitenposition der HBP-Mitglieder. Die Anschuldigung, es mangele dem Projekt an Transparenz, bezeichnet er als "völlig grundlos": "Es wäre schwierig, noch transparenter zu sein oder noch mehr auf die Wünsche unsere Mitglieder einzugehen, als wir es tun." Konkret zu dem Protestbrief möchte Markram sich nicht äußern.

Allerdings erklärte er sich bereit, Empfehlungen umzusetzen, die die Beiräte des HBP in der vergangenen Woche machten, um die Spannungen unter den Mitgliedern abzubauen. Laut diesen Ratschlägen soll der Vorsitzende des Verwaltungsrats vom Forschungsrat, das heißt von den Leitern der 13 wissenschaftlichen Unterprojekte, gewählt werden und selbst keinem dieser Unterprojekte vorstehen, um einen Interessenkonflikt zu vermeiden. Auch soll der Forschungsrat die Mitglieder des Leitungsgremiums auf drei Jahre befristet ernennen.

Gelder sollen umgeleitet werden

Nicht alle halten diese Maßnahmen für ausreichend. So zum Beispiel Zachary Mainen, Experte für kognitive Neurowissenschaft und Leiter des Hirnforschungsprogramms am Champalimaud Centre for the Unknown in Lissabon, der an der Protestinitiative maßgeblich mitwirkte. Die Änderungen würden grundsätzliche Schwächen unberührt lassen. Das HBP solle lieber die Ansichten aller Mitglieder und der erweiterten Neurowissenschaftlergemeinde vertreten – und nicht bloß die des Leitungsgremiums.

Zu den Unterzeichnern des Protestbriefs zählen auch die Vorstände einiger führender Hirnforschungszentren, von denen nicht alle in das Projekt eingebunden sind. In dem Schreiben wird jetzt die Forderung erhoben, dass der Begutachtungsprozess für die zweite Förderphase offener gestaltet wird und außerdem die Identität der Gutachter publik gemacht wird. Zudem sollen Vertreter des Gutachtergremiums während der Auswahlphase am externen Lenkungsausschuss teilnehmen, um sicherzustellen, dass die Empfehlungen des Gremiums in die Tat umgesetzt werden.

Sollten ihre Forderungen nicht berücksichtigt werden, fordern die Unterzeichner des Briefs die Europäische Kommission dazu auf, die Fördergelder umzuleiten – etwa an den Europäischen Forschungsrat, der europäischen Fördereinrichtung für Grundlagenforschung. Der könnte sie zur finanziellen Unterstützung von allgemein neurowissenschaftlichen Forschungsprojekten einzelner Institute einsetzen.

"Bürokratie in nie dagewesenem Ausmaß"

Das jährliche Budget des HBP liegt bei 100 Millionen Euro, davon bringt die Kommission allerdings nur die Hälfte auf. Die andere Hälfte müssen die Teilnehmer aus Fördertöpfen der EU-Länder einwerben, die auch anderen Einrichtungen offenstehen. Die Unterzeichner legten sich deshalb die Selbstverpflichtung auf, solange sie mit ihrer Klage kein Gehör finden, auf Bewerbungen um diese Fördergelder zu verzichten.

Als im Januar dieses Jahres die Vorbereitungen für die neue Finanzierungsrunde begannen, brachte das die Kluft zwischen den beteiligten Neurowissenschaftlern sofort ans Tageslicht. Dehaene beispielsweise erklärt, er sei bestürzt gewesen von "einer Bürokratie und einem Geschwafel in nie dagewesenem Ausmaß und dem Fehlen transparenter und demokratischer Begutachtungsprozesse" in der Leitung des HBP. "Es gab keinen Grund, das HBP nur Monate nach dem Start komplett umzuschreiben", sagt Dehaene.

Die Spannungen scheinen allerdings auf die neurowissenschaftliche Sektion des HBP beschränkt zu sein. Der Physiker Karlheinz Meier von der Universität Heidelberg, der der Informatik- und Robotiksektion vorsitzt und auch Leiter der futuristischen Computing Platform ist, sagt, dass seine Sektion glücklich und zufrieden sei. "Ich sehe auch keine Unterschiede in puncto Offenheit und Transparenz zu anderen Megaprojekten, die in einer Transformationsphase stecken", erklärt Meier. " Vielleicht sind Biologen weniger an Projekte von diesem Umfang gewöhnt als Physiker."

Laut Thomas Skordas, dem Leiter der Flaggschiffprogramme der Europäischen Kommission, verfolgt die Kommission den Fortschritt der Projekte sehr genau. Die Kommission habe außerdem die Macht, im Zweifel einzugreifen, sollte sich dies als notwendig herausstellen. In einigen Monaten will die Kommission dazu ein Dokument herausgeben, in dem die Erwartungen der Kommission an die Leitungsebene im Detail dargestellt würden.

Dieser Artikel erschien unter dem Titel "Row hits flagship brain plan" bei Nature News.

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