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Interview: "Deutschland hat zu wenig Dauerstellen in der Forschung"

Der in Ludwigsburg geborene Biochemiker Hartmut Michel erforscht Proteine in den Zellmembranen. Als Begrenzung nach außen sind diese halbflüssigen Lipidstrukturen für viele Funktionen der Zelle essenziell und die hier lokalisierten Enzyme wichtige Zielstrukturen für die Medikamentenentwicklung. Michel erhielt zusammen mit Johann Deisenhofer und Robert Huber im Jahr 1988 den Nobelpreis für Chemie für die Entschlüsselung der exakten Struktur eines Fotosynthesereaktionszentrums mit Hilfe der Röntgenbeugung an Proteinkristallen. Heute ist er Direktor des Max-Planck-Instituts für Biophysik in Frankfurt.
Hartmut Michel in Lindau

Herr Professor Michel, welche Bedeutung haben die Proteine in den Membranen für die Entwicklung neuer Medikamente?

Hartmut Michel: Ganz früher hat man gedacht, dass Pharmaka frei durch die Membran diffundieren; man hat damals diese Verteilungskoeffizienten zwischen Ethanol und Wasser gemessen und daraus dann schließen wollen, ob eine Substanz durch die Wasser abweisende Membran hindurch aufgenommen wird oder nicht. Chemisch haben wir in der Membran eine apolare Region mit sehr niedriger Dielektrizitätskonstante, so dass man hoffte, mit höherer Löslichkeit in einem organischen Lösungsmittel könnten Medikamente Membranen leichter durchdringen. Aber es ist im Gegenteil so, dass Sie praktisch keinen Transfer normaler, meist geladener Pharmaka direkt durch die Membran haben – außer Sie haben ein Transfersystem. Wir haben allein von den sekundär aktiven Transportern mehrere hundert in der Zellmembran drin und zusätzlich noch die ADP-getriebenen und die ATP-getriebenen Transporter.

Hartmut Michel auf der Lindauer Nobelpreisträgertagung 2014

Man konzentriert sich für die Medikamentenentwicklung also auf diese Transporter?

Ja, allerdings spielen noch andere Einflüsse mit rein. Wenn man ein bestimmtes, an einer Krankheit beteiligtes Transportprotein inhibieren will, muss man natürlich nachsehen, ob nicht ein anderes Protein die gleiche Funktion hat. Wenn Sie drei oder vier Transporter mit derselben Funktion haben, müssen Sie alle blockieren, und das ist um einiges schwieriger. Andersherum müssen Sie meist Pharmaka, die in die Zelle hineinsollen, so optimieren, dass sie von den zuständigen Transportern besser aufgenommen werden. Dann wiederum gibt es zum Beispiel Antibiotika, die von menschlichen Zellen überhaupt nicht aufgenommen werden. Die sind besonders geeignet für den Einsatz gegen Magen-Darm-Infektionen, weil sie nicht durch die Darmwand in den Körper eindringen und so am gewünschten Wirkort konzentriert bleiben.

Was müssen wir tun, um im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen noch die Kurve zu kriegen?

Neue Antibiotika herzustellen, besonders spezifische Antibiotika, ist von der Theorie her nicht allzu schwierig. Sie müssen natürlich zuerst einmal ihr Bakterium kennen und prüfen, welche Proteine für Ihr Ziel essenziell sind. Das Problem liegt eher darin, dass die Antibiotikaentwicklung für die Industrie nicht profitabel ist. Das Antibiotikum nimmt der Patient eine Woche lang – und dann ist das Bakterium tot und der Patient geheilt. Das lohnt sich für die Industrie nicht.

"Im Prinzip bin ich bei der Antibiotikaforschung sehr optimistisch. Man muss es nur machen"

Von etwa 26 Kandidatenverbindungen in der Entwicklung wird letztendlich eine einzige als Medikament zugelassen. Die Kosten sind enorm. Es gibt Firmen, die haben ein Budget von zehn Milliarden Dollar für die Arzneistoffentwicklung und kriegen mit Glück ein Medikament pro Jahr heraus. Ich denke, dass bei den Antibiotika öffentliche Forschung und die Regierungen gefordert sind, in neue Substanzen zu investieren. Oder sie müssen der Pharmaindustrie Anreize geben wie verlängerte Patentfristen und derlei Geschichten. Aber im Prinzip bin ich bei der Antibiotikaforschung sehr optimistisch – man muss es nur machen.

Wie sind Sie dazu gekommen, Membranproteine zu erforschen?

Die Membranen waren schon immer mein Forschungsgebiet. Ich habe ursprünglich viel Energetik gemacht und bin zur Fotosynthese übergegangen, weil die beteiligten Proteine in großen Mengen verfügbar sind und recht stabil, denn man transportiert nur Elektronen und Protonen. Das sind Proteine, die ihre Form für diese Funktion nicht ändern müssen. Ein normaler Transporter muss sich ja bewegen, um einen Zucker oder sonst etwas zu transportieren – bei Elektronen und Protonen passiert das nicht, deswegen sind diese Proteine relativ starr, und man kann sie gut isolieren und kristallisieren. Und wenn man das Protein beschädigt, zeigt es praktischerweise eine Farbänderung, man sieht mit bloßem Auge, ob das Protein noch intakt ist. Danach bin ich zur Atmungskette gewechselt, eines der beiden Gebiete, die wir intensiv bearbeiten. Das andere sind die G-Protein-gekoppelten Rezeptoren, bei denen wir sehr viel entwickelt haben, was von anderen Arbeitsgruppen dann übernommen wurde. Zum Beispiel die Kokristallisation der Membranproteine mit Antikörperfragmenten und wie man diese Fragmente gentechnisch herstellt.

Wie kristallisiert man die notorisch schwer zu isolierenden Membranproteine?

Man löst das Protein mit einem Mittel, das das Eiweiß auch außerhalb der Membran in Lösung hält. Dazu muss man milde Substanzen nehmen – das ist der Trick. Es gibt Detergenzien, die denaturieren, wie zum Beispiel das gängige Tensid Natriumlaurylsulfat. Es ist geladen, und solche Substanzen reißen die Proteinstruktur meistens auseinander. Als milde Detergenzien nehmen wir meist solche, die als polaren Kopf einen ungeladenen Zucker besitzen. Der Standard für schwierigere Membranproteine ist Dodecylmaltosid, also ein Maltosemolekül, an das eine Alkylkette mit zwölf Kohlenstoffen gekoppelt ist.

Für die Medikamentenentwicklung hätte man dann doch gern die menschlichen Proteine"

Und dann müssen Sie das Protein langsam konzentrieren, Sie bringen es in Übersättigung. Das funktioniert normalerweise über Dampfdiffusion: Auf der einen Seite haben Sie einen Proteintropfen, auf der anderen Seite ist ein Reservoirtropfen, in dem die Salzkonzentration höher ist. Dadurch diffundiert Wasser über die Dampfphase aus dem Proteintropfen in den Salztropfen hinüber. Damit konzentrieren Sie die Proteinlösung. Und gleichzeitig haben Sie auch ein Fällungsmittel dabei, zum Beispiel Ammoniumsulfat oder das Polymer Polyethylenglycol. Sie brauchen die richtigen Bedingungen, um das Protein zu stabilisieren, oder sie modifizieren das Protein, dass es stabiler ist, und dann klappt das – manchmal.

Das heißt, wir haben heute die Methoden, Membranproteine zu isolieren und zu analysieren. Was können wir von der Forschung an diesen Molekülen in Zukunft erwarten?

Das Problem ist, dass die menschlichen Membranproteine häufig ziemlich instabil sind. Und was die meisten Grundlagenforscher dann machen ist, sich aus derselben Proteinfamilie verwandte Proteine aus Mikroorganismen zu suchen. Meistens gucken sie dann bei den Archaeen, die oft bei Temperaturen bis 110 Grad Celsius wachsen können. Diese Proteine sind entsprechend stabil, und man kann sie dann entweder direkt isolieren oder durch das Bakterium Escherichia coli herstellen lassen. Man kann natürlich für die Grundlagenforschung gut Katalysemechanismen erforschen, aber der Einsatz im Drug Design, der Medikamentenentwicklung, ist natürlich stark limitiert. Dafür hätte man dann doch gern die menschlichen Proteine.

Die Methode limitiert momentan die Anwendungen?

Ja, es wäre gut, wenn man Alternativen zur Kristallografie hätte. Manche Leute träumen davon, zum Beispiel mit Freie-Elektronen-Lasern die Beugungsmuster von Einzelmolekülen aufzunehmen und daraus die Struktur zu bestimmen. Auch die Elektronenmikroskopie macht Fortschritte, vor allem deswegen, weil die Detektoren viel besser geworden sind. Man kann damit inzwischen Bilder von großen Proteinkomplexen machen. Die haben zwar immer noch nicht die Auflösung wie kristallografische Abbildungen, aber das ist schon ein großer Fortschritt. Und ich muss nicht kristallisieren, ich kann Einzelmoleküle nehmen, die müssen im Moment nur recht groß sein und möglichst regulär geformt. Die Methoden haben sich gewaltig gewandelt in den letzten 25 Jahren.

Wird der Fortschritt bei den Methoden so weitergehen?

Na ja, ich hoffe doch. Vorhersagen sind bekanntlich schwierig, wenn sie die Zukunft betreffen. Ich habe im Rückblick die Geschwindigkeit des Fortschritts doch leicht unterschätzt. Ich hätte nicht gedacht, dass man heute von allen Komponenten der Fotosynthese genaue Strukturen hat, einschließlich dem Mangancluster für die Wasserspaltung. Ich habe gedacht, das könnte ich nach meiner Emeritierung vielleicht noch so nebenher aufgreifen.

"Ich habe die Geschwindigkeit des Fortschritts doch leicht unterschätzt"

Beobachten Sie dann auch die Forschung an einer künstlichen Fotosynthese?

Die künstliche Fotosynthese ist von rein akademischem Interesse. Ich sehe keine Chance, dass man mit den vorhandenen fotovoltaischen Zellen und solarthermischen Wandlern konkurrieren kann: Effizienz und Stabilität sind zu gering.

Wie sehen Sie die Perspektiven für Nachwuchswissenschaftler in der deutschen Forschungslandschaft?

Wir haben zur Zeit das Problem, dass die Leute nach der Postdoczeit keine adäquaten Positionen finden. Wir haben in Deutschland das Problem, dass wir zu wenig Dauerstellen in der Forschung haben. Pharmaforschung und Biotechforschung sind in Deutschland stark reduziert, und Firmen wie Sanofi-Aventis bauen Stellen ab, Biotech hat sich in Deutschland sowieso nicht so substanziell entwickelt wie in den USA. Wir haben aber viele Studenten, da ist die Frage: Was machen die dann, wenn sie ausgebildete Wissenschaftler sind? Als Nachwuchswissenschaftler eine Professur zu bekommen, ist einfach extrem schwierig, in den USA ist das einfacher. Dass es keine Stellen gibt, liegt an der Struktur der deutschen Hochschulen. Dann finden Sie die Wissenschaftler Mitte 40 in Singapur oder den Arabischen Emiraten wieder, hier ist schon eine Auswanderung zu beobachten.

"Man müsste eigentlich Frankreich favorisieren"

Die Leute müssen leichter an eine Dauerstelle kommen, wie müssen unser System eher an das amerikanische angleichen, wo die Zahl der Professoren viel höher ist. Deswegen halte ich auch nichts von unserem Tenure-Track-System hier in Deutschland, weil wir einfach zu wenig Stellen haben, um es umzusetzen.

Verfolgen Sie die Fußballweltmeisterschaft?

Ja, natürlich. Ich habe selten die Zeit, mich für ein ganzes Spiel vor den Fernseher zu setzen, aber so nebenher läuft das bei mir mit. Und es ist auch taktisch ganz interessant, die Strategie mit den vier Innenverteidigern und den Innenverteidigern auf der Außenbahn ist ja nicht ganz unumstritten. Mit einem gelernten Außenverteidiger würde wohl mehr im Sturm ankommen.

Können Sie einen Tipp für das Spiel Deutschland gegen Frankreich abgeben? Wer gewinnt?

Das ist völlig offen. Nach den Ergebnissen der letzten Woche müsste man eigentlich Frankreich favorisieren.

Dann sagen Sie doch bitte noch etwas zur aktuellen Debatte: Wo soll Lahm spielen – im Mittelfeld oder hinten?

Hinten! Und auf der anderen Seite würde ich den Durm reinstellen.

Herr Michel, herzlichen Dank für das Gespräch.

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