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Forensische DNA-Phänotypisierung: Die DNA als Augenzeugin

Noch verraten Täter-DNA-Spuren uns nicht alles über ein Verbrechen, aber die Technik macht rasante Fortschritte. Liefern Gene uns bald bessere Phantombilder als jeder Augenzeuge?
DNA-Forensik

Im Jahr 1986 wurde Richard Buckland wegen Mord angeklagt, aber in einem Gerichtsverfahren freigesprochen, weil sein DNA-Profil nicht zu dem des Täters passte. Das war das erste Mal, dass eine DNA-Analyse in einem Kriminalfall genutzt wurde. Hunderte weiterer Fälle folgten in den Jahren seither. Der so genannte genetische Fingerabdruck ist aus der Forensik nicht mehr wegzudenken.

Nun aber geht die Forensik mit einer Technologie namens Forensic DNA Phenotyping noch einen Schritt weiter. Mit ihr ist es möglich, das Aussehen einer Person aus der DNA zu rekonstruieren. Das eröffnet ganz neue Perspektiven in der Kriminalistik. Denn während der genetische Fingerabdruck feststellen kann, ob eine bereits bekannte Person am Tatort war, kann DNA Phenotyping auch einem noch unbekannten Täter ein Gesicht geben und damit Hinweise für die polizeiliche Ermittlungsarbeit liefern. Beim DNA Phenotyping wird die DNA zu einem »biologischen Zeugen«, wie Manfred Kayser, Professor für Forensische Molekularbiologie am Erasmus University Medical Center (Erasmus MC) in Rotterdam, es nennt.

Dass das äußere Erscheinungsbild zu einem großen Teil in den Genen kodiert ist, ist unumstritten; eineiige Zwillinge sehen sich sehr ähnlich. Fest steht demnach, dass die DNA vieles vorschreibt – nur: Wo soll man nachlesen? Welche Buchstabenfolgen regulieren Augenfarbe, Körpergröße, Augenabstand oder Haarausfall? »Die Frage nach den genetischen Grundlagen des Aussehens ist natürlich schon alt«, sagt Kayser, »aber um diese zu erforschen, mangelte es lange an Finanzierungsmöglichkeiten.« Vor mehr als zehn Jahren besann man sich in den Niederlanden darauf, welchen Nutzen diese Erkenntnisse für die Forensik haben könnten. Die Erasmus-Universität Rotterdam, mit finanzieller Unterstützung des Niederländischen Forensischen Instituts, richtete einen Lehrstuhl an der Schnittstelle zwischen molekularbiologischer Grundlagenforschung und forensischer Anwendung ein – der erste seiner Art. Das gab dem noch kleinen Forschungsfeld Auftrieb, und Kayser, damals am Max-Plank-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig, folgte dem Ruf aus Rotterdam im Jahr 2004.

Erbgutanalysen und Äußerlichkeiten

Seitdem hat sich viel getan in der molekularen Forensik. Einige Merkmale, wie zum Beispiel die Augenfarbe, können die Forscher bereits sehr gut aus den individuellen Sequenzunterschieden der 3,2 Milliarden Basenpaare langen DNA herauslesen. Kayser und seine Kollegen analysierten zum Beispiel die Genome von Tausenden von europäischstämmigen Holländern und identifizierten genau sechs Variationen, genannt Einzelnukleotid-Polymorphismen, aus denen sich mit einer Genauigkeit von mehr als 90 Prozent vorhersagen lässt, ob jemand blaue oder braune Augen hat. Auch die Haarfarbe lässt sich bereits einfach aus der DNA ablesen: 22 Einzelnukleotid-Polymorphismen müssen die Forscher analysieren, um zwischen rot, schwarz, braun und blond unterscheiden zu können.

Das zentrale Werkzeug der DNA-Forensiker ist die so genannte genomweite Assoziationsstudie. In großen Populationsstudien wird untersucht, welche Einzelnukleotid-Polymorphismen bei Menschen mit einem bestimmten Körpermerkmal, zum Beispiel blauen oder braunen Augen, häufiger vorkommen. Das klingt einfacher, als es ist. »Viele Aussehensmerkmale sind zwar erblich, aber die hohe Erblichkeit eines Merkmals kann von einem oder von 1000 Genen bestimmt werden«, sagt Kayser. »Wenn es nur wenige Gene sind, wie bei der Augenfarbe, findet man sie relativ leicht. Bei etlichen Körpermerkmalen ist es aber so, dass sehr viele Gene jeweils einen sehr kleinen Einfluss haben, und um diese zu finden, bedarf es Studien mit sehr vielen Probanden, die aufwändig und teuer sind.«

»Viele Merkmale sind erblich – aber die Erblichkeit kann von einem oder von 1000 Genen bestimmt werden«
Manfred Kayser

»Körpergröße ist zu 80 Prozent erblich, wie wir aus Zwillingsstudien wissen«, sagt Kayser. Aber die genetischen Grundlagen von Körpergröße sind weitaus komplexer als die von Augen- oder Haarfarbe. Bisher sind fast 700 Polymorphismen bekannt, die jeweils einen sehr kleinen Einfluss auf die Größe eines Menschen haben. Jedoch erklären auch diese 700 DNA-Variationen gerade einmal 16 Prozent der Größenunterschiede zwischen Menschen. Es muss also noch sehr viel mehr Gene geben, die die Körpergröße regeln.

Extreme Körpergröße lässt sich nach einer Studie von Kayser etwas besser vorhersagen. »Wir haben gezeigt, dass Gene, die bei normaler Variabilität von Körpergröße ein Rolle spielen, bei extrem großen Menschen auch größere Effekte haben«, erklärt Kayser. »Bei extremer Körpergröße kommen wir bald in einen Genauigkeitsbereich der DNA-basierten Vorhersage, der praktisch anwendbar ist.«

DNA Phenotyping wird schon heute in der forensischen Praxis genutzt. Kayser erstellt Gutachten für Polizeibehörden in verschiedenen Ländern, und die Firma Identitas vermarktet einen Test, der von Kayser mitentwickelt wurde. Dieser Test bestimmt nicht nur Augenfarbe und Haarfarbe, sondern auch Geschlecht, Verwandtschaft und biogeografische Abstammung – das heißt, aus welcher Weltregion die Vorfahren einer Person stammen. Allerdings funktioniert dieser Test nur, wenn die DNA gut erhalten ist, was bei Tatortspuren nicht immer der Fall ist.

Gesetze über Genanalysen

Nicht in allen Ländern ist Forensic DNA Phenotyping erlaubt. Die deutsche Gesetzgebung beispielsweise gestattet nur die Nutzung »nicht kodierender« Bereiche für die forensische Analyse. Das ist sehr technisch ausgedrückt, heißt aber im Prinzip, dass DNA nur genutzt werden darf, um die Identität einer Person zu überprüfen. Aussagen über die Eigenschaften eines Menschen sind tabu, denn dies verletzt die Privatsphäre. Die Niederlande sind das einzige Land der Welt, dessen Gesetzgebung DNA Phenotyping in der Forensik explizit erlaubt. Hier wird nicht wie in Deutschland die Methodik reguliert, sondern die Anwendung: Äußerlich sichtbare Körpermerkmale gelten hier nicht als Privatsache. Andere Eigenschaften, wie zum Beispiel das Risiko für bestimmte Erkrankungen, dürfen jedoch nicht aus der DNA abgelesen werden. In den USA unterscheidet sich das Gesetz von Bundesstaat zu Bundesstaat. Meist ist es aber so mehrdeutig formuliert, dass es DNA Phenotyping nicht ausschließt.

Augenfarbe, Haarfarbe, biogeografische Herkunft – die US-amerikanische Firma Parabon NanoLabs geht noch einen Schritt weiter. Auf seiner Website wirbt das Unternehmen damit, auch die Gesichtsform genau vorhersagen zu können. Parabon erstellt Phantombilder, die rein auf DNA-Spuren beruhen. Im Januar 2015 gab Parabon dem Tatverdächtigen im Mordfall von Candra Alston und ihrer dreijährigen Tochter aus Columbia (South Carolina) ein Gesicht, im Juni und September folgten DNA-basierte Phantombilder von drei weiteren Männern, die des Mordes oder der sexuellen Belästigung beschuldigt werden. Sogar eine chinesische Kampagne gegen Straßenverschmutzung in Hongkong nutzt die Dienste der Firma, um das Gesicht von Umweltsündern aus der DNA auf weggeworfenen Abfällen abzubilden – und dieses dann öffentlich zu machen.

Wie die Firma Parabon bei der Rekonstruktion von Gesichtern genau vorgeht, ist nicht klar. »Die veröffentlichen bisher nicht, was sie machen«, sagt Kayser. Zu einem Teil basiert Parabons Technologie auf einer Arbeit aus dem Labor von Mark Shriver an der Pennsylvania State University. Die dort publizierte Methode, meint Kayser, habe aber einen entscheidenden Haken: »Die Vorhersage beruht bisher fast ausschließlich auf DNA-Informationen zu geografischer Abstammung und Geschlecht.«

Jedenfalls habe »die genetische Information, die hier benutzt wird, um das Gesicht vorherzusagen, fast nichts spezifisch mit dem Gesicht zu tun«, so der DNA-Experte weiter. Verschiedene Menschen beispielsweise europäischer Herkunft zu unterscheiden, erlaubt die Methode nicht: »Bestenfalls bekomme ich das durchschnittliche Gesicht eines weiblichen oder männlichen Europäers oder Afrikaners«, meint Kayser. Für Behörden präziser als das mit Shrivers Methode erstellte Gesicht wäre schon die Information, »es handelt sich um einen europäisch-stämmigen Mann, und zwar auf Grund der Ergebnisse von DNA-Tests für Geschlecht und geografische Abstammung«.

Auch Kayser arbeitet mit Kollegen des von ihm geleiteten International Visible Trait Genetics Consortiums an den genetischen Grundlagen von Gesichtsmerkmalen. Ihre Ergebnisse zeigen bisher aber vor allem eines: Es ist außerordentlich kompliziert. »Wir sind gerade erst dabei, die ersten Gene zu finden«, sagt er. Der bisher beste Kandidat, TP63, ging aus einer Studie mit mehr als 9000 Probanden hervor und reguliert den Augenabstand. Allerdings ist sein Beitrag nur minimal: Personen, die eine bestimmte TP63-Variante von beiden Elternteilen geerbt haben, zeigen einen um 1,8 Millimeter reduzierten Augenabstand. Das ist nicht sehr viel, angesichts der Tatsache, dass die normale Variabilität von Augenabständen etwa 2 Zentimeter beträgt. Man muss also weitersuchen und noch größere Studien durchführen – denn je kleiner die Effekte einzelner Gene, desto mehr Menschen muss man untersuchen, um sie mit ausreichender statistischer Sicherheit zu detektieren.

Kayser und seine Kollegen untersuchen eine Reihe weiterer Körpermerkmale, die man sicher schneller verstehen wird als die Gesichtsform – zum Beispiel Haarausfall beim Mann oder die Haarstruktur: »Je mehr solcher Aussehensmerkmale ich zusammennehme, desto besser kann ich eine unbekannte Person beschreiben.« Auch die Altersabschätzung gehört dazu. Seine Arbeitsgruppe hat einen DNA-basierten Alterstest entwickelt, der auf den T-Zellen des Blutes beruht. Nun arbeiten die Forscher daran, die Altersbestimmung durch Analyse bestimmter chemischer DNA-Veränderungen, der Methylierung, zu präzisieren. »Mittels DNA-Methylierungstests kann das Alter mittlerweile auf drei bis fünf Jahre genau eingrenzt werden. Allerdings ist die Genauigkeit dieser Tests bei alten Menschen weniger gut als bei jungen und mittelalten«, sagt Kayser.

Zeugen können sich irren. Menschen sind in ihrer Wahrnehmung sehr selektiv, sie vergessen und, schlimmer noch, sie erinnern sich falsch. In etwa drei von vier Fällen, in denen jemand zu Unrecht verurteilt wurde, haben falsche Zeugenaussagen die Spur auf den vermeintlichen Täter gelenkt. DNA als biologische Augenzeugin hingegen irrt nicht – und darin liegt die Stärke des Forensic DNA Phenotyping. »Wir sind dann unabhängig von der Anwesenheit von menschlichen Augenzeugen, deren Erinnerungsvermögen und Vorurteilen, und können ganz objektiv auf Grund der DNA-Information urteilen: Hat der Mensch, welcher die DNA-Spur hinterlassen hat, blaue Augen, braune Haare, wie sah er aus?«, erklärt Kayser. »Und wir können die Sicherheit in Zahlen ausdrücken. Wir können sagen: Er hat mit einer Wahrscheinlichkeit von 90 Prozent blaue Augen.« Was aber aus der DNA nicht abzulesen ist, ist die Gesichtsform. In der Hinsicht werden menschliche Zeugen der Tatort-DNA noch lange überlegen sein.

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