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Sprachforschung: "Die Funktion liegt im Netzwerk"

Wie kommt die Sprache in den Kopf? Noch immer wartet dieses uralte Rätsel auf eine Antwort. Die Leipziger Neurowissenschaftlerin Angela D. Friederici erläutert gegenüber G&G den Stand der Forschung. Ihr Fazit: Unser Talent, in Wörtern und Sätzen zu kommunizieren, ist keine Leistung einzelner Hirnareale – sondern neuronale Teamarbeit.
Im Mock-Up-Raum
Tapfer krabbelt die vierjährige Paula auf die Liege des Hirnscanners. Der Koloss steht in einem hellen Raum mit Teppichboden, Spielsachen und Plüschtieren. Allerdings handelt es sich nicht um einen echten Tomografen: Wir sind im "Mock-up-Raum" am Max-Planck- Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig. Hier steht nur der Plastiknachbau – daher der Name (englisch mock-up = Attrappe) –, in dem die kleinen Probanden auf die spätere Untersuchung vorbereitet werden und sich in Ruhe mit der ungewohnten Umgebung anfreunden können. Angela D. Friederici und ihr Mitarbeiter Michael Skeide setzen Paula die Videobrille auf und geben ihr zwei Plastikschalter in die Hände. Mit ihrer Hilfe wird sie später Fragen beantworten, während die Neurowissenschaftler ihre Hirnaktivität messen. Auch Kopfhörer trägt das Mädchen, als es in den Scanner geschoben wird. Die Forscher simulieren darüber den Lärm in der Röhre; im richtigen Experiment sollen sie deren lautes Geknatter abschirmen.

Frau Professor Friederici, auf welche Untersuchung wird Paula gerade vorbereitet?

Wir studieren ein Phänomen der Sprachentwicklung, das wir bisher nicht ausreichend erklären können: Im Alter von sechs Jahren können sich Kinder sprachlich im Prinzip schon gut ausdrücken und alles verstehen.
Angela D. Friederici | – Geboren 1952 in Köln
- Studierte Germanistik, Romanistik, Sprachwissenschaften und Psychologie in Lausanne und Bonn
- Forschungsstationen unter anderem am MIT in Cambridge (USA) sowie am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen (Niederlande)
- Leitet die Abteilung für Neuropsychologie am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig
Konfrontiert man sie aber mit ganz bestimmten Sätzen, die nicht der normalen Wortfolge entsprechen – zum Beispiel "Den Tiger schubst der Bär" anstatt "Der Bär schubst den Tiger" –, dann interpretieren sie diese meistens nicht richtig.

Wie untersuchen Sie das?

Wir zeigen den Kindern zwei Bilder und fragen, welches Bild zum gerade gehörten Satz passt: Auf einem schubst der Bär den Tiger, auf dem anderen ist es umgekehrt. Wenn sie den Satz in der "falschen" Reihenfolge gehört haben, wählen sie das richtige Bild nur mit Zufallswahrscheinlichkeit aus. Also können sie offenbar einen Satzbau, in dem das Objekt vorne steht, nicht verarbeiten.

Und was ist die Erklärung dafür?

Das versuchen wir mit Hilfe der funktionellen Kernspintomografie herauszufinden. Wir wissen, dass bei der Satzverarbeitung auch in diesem Alter schon dieselben Hirnareale aktiv sind wie bei Erwachsenen: der inferiore frontale Kortex rund um das Broca-Areal und das pSTG – der hintere Teil des superioren temporalen Gyrus. Die Frage ist: Warum klappt das noch nicht so gut? Vor einigen Jahren haben wir festgestellt, dass es bei Erwachsenen bestimmte Faserverbindungen gibt, die einen regen Informationsaustausch zwischen den Sprachzentren ermöglichen. Möglicherweise sind diese Nervenbahnen bei Kindern von sechs bis sieben Jahren noch nicht voll entwickelt. Infolgedessen könnten sie den Informationsfluss von einer Hirnregion zur anderen nicht so gut leisten wie im erwachsenen Gehirn. Wie erste Ergebnisse zeigen, ist dem tatsächlich so.

Dass das Subjekt eines Satzes üblicherweise zuerst genannt wird, ist eine Eigenart des Deutschen oder auch des Englischen. Haben Kinder, die mit einer anderen Muttersprache aufwachsen, ähnliche Probleme in diesem Alter?

Das ist eine sehr spannende Frage: Inwieweit sind ganz bestimmte Faserverbindungen für bestimmte Funktionen notwendig? Die dorsale Verbindung, über die wir gerade reden, scheint allgemein für die Verarbeitung komplexerer grammatikalischer Strukturen zuständig zu sein. Nehmen Sie die beiden Sätze "Die Frau sieht den Mann" und "Die Frau sieht der Mann". Erst wenn ich am Ende des Satzes "der Mann" höre, weiß ich, dass ich "die Frau" neu interpretieren muss, nämlich als Objekt des Satzes. Und dafür brauche ich eine gut entwickelte Faserverbindung zwischen den beiden großen Sprachzentren im Gehirn. Solche Fallstricke gibt es aber in fast allen Sprachen.

In den letzten Jahren fanden Psychologen vermehrt Belege dafür, dass die Muttersprache auch unser Denken prägt. Wie sehen Sie das als Hirnforscherin?

Aus Gehirn&Geist 7-8/2011
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Ich bin da skeptisch. Wenn eine Sprache feinere begriffliche Differenzierung für ein Konzept hat und beispielsweise mehrere Blautöne unterscheidet, dann hat das sicher einen Einfluss darauf, wie ich meine Gedanken geistig formuliere. Viel wichtiger als die Frage, ob man ein Wort für etwas hat, ist doch: Kann ich das Konzept verstehen, das dahinter steht? Dass Sprachen verschiedene Konzepte in Worte fassen, beeinflusst sicherlich unsere Denkmuster. Das heißt aber nicht, dass man fremde Konzepte nicht verstehen könnte.

Einzelne geistige Konzepte lassen sich ja derzeit nicht im Gehirn sichtbar machen. Könnte das zukünftig einmal möglich sein?

Das wird schwierig. Wir können heute schon feststellen, ob ein Gehirn gerade einen korrekten oder inkorrekten Satz verarbeitet. Aber um ein einzelnes Wort an der neuronalen Aktivität "abzulesen", müsste ich die gesamte Historie der betreffenden Person kennen. Sie haben das Wort "Stift" in einer anderen Situation gelernt als ich – also ist die Repräsentation dieses Wortes in Ihrem Gehirn anders als in meinem. Die mit Wörtern verbundenen Konzepte sind sehr reichhaltig. In Ihr persönliches Stiftkonzept etwa sind alle Schreibutensilien eingegangen, die Sie jemals benutzt haben! Das nennen wir konzeptuelle Semantik. Auch die Assoziationen sind andere, also die verwandten Konzepte, die automatisch mit aktiviert werden, wie zum Beispiel Tinte, Papier, Schreiben.

Könnte das erklären, warum das grammatische Geschlecht beeinflusst, wie wir über Gegenstände denken – weil es Assoziationen von "Weiblichkeit" oder "Männlichkeit" weckt?

Das ist sicher richtig. Ein berühmtes Beispiel ist der Mond – auf Französisch la lune. In französischen Kinderbüchern ist der Mond eher weiblich, bei uns gibt es den Mann im Mond. Und das meinte ich eben: Woher sollte ein Forscher wissen, welche Kinderbücher Sie gelesen haben? Wenn Übersetzungen aus dem Französischen dabei waren, empfinden Sie den Mond vielleicht als weniger männlich.

Unterscheiden sich verschiedene Muttersprachler in ihrer Hirnanatomie?

Studien deuten darauf hin, dass Menschen, die eine piktografische Schrift erlernt haben, andere Faserverbindungen verstärkt nutzen als Europäer oder Amerikaner. Umgekehrt sind etwa bei Kindern mit Legasthenie bestimmte Nervenbahnen unterentwickelt. Doch wir müssen noch viel forschen, um zu verstehen, welche Bedeutung die Verbindungswege im Gehirn für die Sprachverarbeitung haben. Zumindest beginnen wir zu begreifen, dass es nicht einzelne Areale sind, die uns diese Fähigkeit ermöglichen – die Funktion liegt im Netzwerk!

Das heißt, nur im Zusammenspiel verschiedener Hirnbereiche entsteht Sprache?

Ja, aber es geht noch weiter: Die Areale des Sprachnetzwerks sind vermutlich noch nicht einmal spezifisch für Sprache – sie sind auch an anderen kognitiven Tätigkeiten beteiligt, je nachdem, mit welchen weiteren Regionen sie gerade zusammenarbeiten.

Wofür sind die Sprachareale außerdem zuständig?

Darüber wird derzeit viel diskutiert. Das Broca- Areal ist offenbar auch daran beteiligt, Bewegungen zu planen. Mein Eindruck ist, dass diese Region generell etwas mit Sequenzierung zu tun hat – also damit, Abfolgen herzustellen. Das pSTG dagegen ist immer aktiv, wenn es darum geht, Informationen aus verschiedenen Quellen zu integrieren.

Gibt es noch weitere wichtige Bestandteile des Sprachnetzwerks?

Vor Kurzem haben wir herausgefunden, dass auch der Thalamus eine Rolle spielt. Das ist eine Hirnstruktur, die unterhalb der Großhirnrinde liegt – wo man normalerweise keine komplexen geistigen Leistungen vermutet. 2008 hatten wir zusammen mit Fabian Klostermann und Gabriel Curio von der Berliner Charité die Chance, neuronale Aktivität direkt vom Thalamus von Patienten mit Bewegungsstörungen abzuleiten. Die Betroffenen warteten auf eine Operation und hatten dafür bereits Elektroden tief im Gehirn stecken. Uns war wichtig, diese Messung mit den Signalen an der Oberfläche des Gehirns zu vergleichen, die wir per Elektroenzephalografie (EEG) registrierten. Dann haben wir die Probanden mit Syntaxfehlern konfrontiert wie etwa einer Verletzung der Wortkategorie.

Was bedeutet das?

Nehmen Sie den Satz "Die Pizza wurde im gegessen". Wenn ich die Präposition "im" höre, erwarte ich danach ein Substantiv und kein Verb. Schon seit den 1990er Jahren wissen wir, dass das Gehirn auf solche Verletzungen der Wortkategorie sehr zuverlässig und schnell reagiert: Schon nach etwa 150 Millisekunden sieht man im EEG einen charakteristischen Ausschlag, die Early Left Anterior Negativity (etwa "frühe linksanteriore Negativierung"). Nach 600 Millisekunden folgt dann ein positiver Ausschlag. Wir fanden nun heraus, dass auch der Thalamus auf den syntaktischen Fehler mit verstärkter Aktivität reagiert – er meldet gewissermaßen ebenfalls "da stimmt etwas nicht". Spannend war für uns zu sehen, welche Aktivierung zuerst kommt, die subkortikale oder die kortikale. Tatsächlich erkennt man zuerst die frühe Komponente im EEG, dann folgt mit einer Verzögerung von etwa 50 Millisekunden die Aktivität des Thalamus, die kurz vor dem späten positiven EEG-Signal verebbt – ganz so, als würde die Information vom Kortex vorübergehend in den Thalamus wandern, dort verarbeitet und wieder zurückgeschickt.

Was passiert im Thalamus?

Das wissen wir noch nicht. Möglicherweise wertet der Thalamus allgemein eintreffende sensorische Information aus und meldet an den Kortex zurück, wenn etwas nicht stimmt.

Sind noch weitere Strukturen unterhalb der Großhirnrinde an der Sprachverarbeitung beteiligt?

Ja, etwa die Basalganglien. Sie generieren neuronale Rhythmen. Meine Kollegin Sonja Kotz hat bei Studien mit Parkinsonpatienten festgestellt, dass die Betroffenen Sprache besser verstehen, wenn sie in einem eindringlichen Rhythmus vorgetragen wird: da-dam-da-dam-da-dam. Die Parkinsonkrankheit zeichnet sich hauptsächlich durch Schäden an den Basalganglien aus. Wenn diese Strukturen defekt sind, können die Betroffenen den Rhythmus der natürlichen Sprache offenbar nicht mehr richtig erkennen – es sei denn, er wird von außen vorgegeben.

Lässt sich das praktisch einsetzen, um besser mit den Patienten zu kommunizieren?

Im Prinzip schon, aber den monotonen Sprechrhythmus auf Dauer beizubehalten, ist natürlich schwierig. Das fehlende Timing können aber auch Elektroden erzeugen, die Neurochirurgen den Patienten einsetzen. Wir testen gerade, ob Parkinsonpatienten mit einem solchen Schrittmacher besser kommunizieren können. Das scheint der Fall zu sein, solange der Schrittmacher einen Grundrhythmus generiert.

Apropos Rhythmus: Sie interessieren sich auch für den Zusammenhang von Sprache und Musik. Wie eng sind sie miteinander verwandt?

Die Netzwerke, die bei sprachlichen Reizen und bei Musik aktiv werden, überlappen sich stark. Auch in der Musik gibt es so etwas wie Syntax – nämlich die Harmonien. Und diese werden auch im Broca-Areal verarbeitet. Ansonsten dominiert bei der neuronalen Verarbeitung von Sprache die linke Hirnhälfte; bei Musik und Prosodie, also der Sprachmelodie, die rechte.

Wie wichtig ist Prosodie für die Sprache?

Dazu haben wir zusammen mit Daniela Perani aus Mailand ein Experiment gemacht, bei dem wir Neugeborene im Alter von gerade einmal zwei Tagen im Scanner untersucht haben. Die Gehirne der Kleinen hatten noch keinen großen sprachlichen Input bekommen, außer den stark gefilterten Geräuschen im Mutterleib. Als wir den Kindern Sätze vorspielten, die mit monotoner Computerstimme vorgetragen wurden, sahen wir überhaupt keine Aktivierung. Gesummte Sätze aber, bei denen die Sprachmelodie erhalten blieb, aber keine erkennbaren Wörter, aktivierten die Sprachareale fast genauso stark wie natürliche Sprache! Laute ohne Prosodie scheinen für die Kinder irrelevant zu sein.

Kann man daraus auch auf die stammesgeschichtliche Entwicklung schließen? Dann wäre Musik wohl zuerst dagewesen.

Tatsächlich gibt es Studien, in denen die Faserverbindungen zwischen den Sprachzentren bei Makaken über Schimpansen bis hin zum erwachsenen Menschen verglichen wurden. Da sieht man, vereinfacht gesagt, dass vor allem die dorsale Verbindung bei nichtmenschlichen Primaten unterentwickelt ist – genau wie bei Kindern. Das spricht dafür, dass die Entwicklung im Kindesalter die stammesgeschichtlichen Veränderungen nachvollzieht. Doch letztlich müssen solche Überlegungen Spekulation bleiben. Wir wissen einfach nicht, was vor der Sprache war.

Woran arbeiten Sie derzeit?

Die Nervenverbindungen im Gehirn sind enorm wichtig für Sprache. Doch wie sieht es auf der Ebene der Neurotransmitter aus? Um das zu erfahren, muss man sich ansehen, wie die Rezeptoren an den Neuronen jeweils verteilt sind. Ähneln sich Hirnareale, die eng zusammenarbeiten, rezeptorarchitektonisch mehr als andere? Das untersuche ich derzeit gemeinsam mit Karl Zilles und Katrin Amunts vom Forschungszentrum Jülich. Unser Fernziel ist, die Verteilung der Neurotransmitter im lebenden Gehirn nachzuvollziehen. Dazu braucht man Liganden, die an die Botenstoffe binden und mit bildgebenden Verfahren sichtbar gemacht werden können. Für Dopamin und Serotonin funktioniert das bereits – ich kann mir bei einer ganz bestimmten kognitiven Leistung anschauen, wie aktiv die dopaminergen oder serotonergen Neurone sind.

Basieren verschiedene sprachliche Prozesse auf verschiedenen Neurotransmittern?

Das vermuten wir. Die zu Grunde liegenden molekularen Prozesse sind aber wahrscheinlich nicht spezifisch für Sprache – sondern zum Beispiel charakteristisch für jene Hirnareale, die unter anderem auch Sprache verarbeiten.

Die Sprachverarbeitung ist also eine Art Blaupause für die Funktionsweise des Gehirns?

Ja. Sprache ist ein hervorragendes Feld, um das zu untersuchen, weil Linguisten sehr ausgereifte Theorien über ihren Gegenstand entwickelt haben. Darauf können Forscher bei ihren Experimenten zurückgreifen – anders als etwa beim Thema Entscheidungsfindung. Linguisten haben vor allem den Bereich der Grammatik theoretisch gut durchdrungen. Das können sich Hirnforscher zu Nutze machen, um die Arbeit des Gehirns generell zu verstehen.

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