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Garchinger Atom-Ei: Die Geburtsstunde der deutschen Neutronenforschung

Das Garchinger Atom-Ei, der erste deutsche Forschungsreaktor, nahm vor 60 Jahren den Betrieb auf. Er ermöglichte unersetzliche Einblicke in die Materie.
Neues Garchinger Atom-Ei

Zu Beginn lag alles im Nebel. Über Garching hatte sich am 30. Oktober 1957 eine dicke Suppe zusammengebraut, man konnte die Hand kaum vor Augen sehen. Eine Gruppe Wissenschaftler hatte sich dennoch zu der nördlich von München gelegenen Stadt aufgemacht, die damals noch sehr ländlich geprägt war. Auswärtiger Besuch stand an. Zwei Ingenieure der Kraftwerksfirma "American Machine and Foundry" waren gekommen, um die Deutschen in den Betrieb des frisch gebauten Forschungsreaktors einzuweisen. Der wegen seiner formvollendeten Betonhülle auch als Garchinger "Atom-Ei" bekannte Reaktor sprang erwartungsgemäß an.

Blaues Leuchten rund um den Reaktorkern im Wasserbecken kündigte es an: Die erste Kettenreaktion auf deutschem Boden war geglückt. Anschließend gab es Sekt im Wirtshaus. Die deutschen Wissenschaftler waren entzückt – endlich gehörten sie wieder zum Klub der zivilisierten Länder und konnten sich mit den modernsten Aufgaben der Wissenschaft beschäftigen. Und das nur zwölf Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und nur 15 Jahre nach der ersten menschengemachten Kettenreaktion, die Wissenschaftler um den aus Mussolinis Italien geflohenen Kernphysiker Enrico Fermi im Rahmen des Manhattan Project am "Chicago Pile" getauften ersten Kernreaktor bewerkstelligt hatten.

Bereits vorher hatte es Versuche gegeben, die Kraft der Kernspaltung auch in Deutschland nutzbar zu machen: Im Dritten Reich arbeiteten mehrere Arbeitsgruppen vergeblich an einem funktionierenden Reaktor, mit dem sich eventuell Schiffe oder U-Boote mit Energie versorgen ließen. Mit ihren Mitteln und abgeschnitten von der internationalen Forschung und wichtigen Rohstoffen war dies – oder gar der Bau einer Atombombe – kaum möglich. Einige Forscher dürften wohl auch schlicht glücklich gewesen sein, an einem längerfristigen Forschungsprojekt arbeiten zu können, bis der Krieg vorbei war.

In der Nachkriegszeit waren die deutschen Kernphysiker zunächst international isoliert. Die Verheerungen von Hiroshima und Nagasaki und das beginnende Wettrüsten der beiden Supermächte, untermalt von den zahlreichen oberirdischen Atomtests mit immer größerem Zerstörungspotenzial, ließen es den Alliierten wenig angebracht erscheinen, gerade den Deutschen mit ihrer noch frischen Nazi-Vergangenheit Atomtechnologie anzuvertrauen.

Die Welt im Atomfieber

Auf der anderen Seite herrschte in vielen industrialisierten Ländern eine Atomeuphorie, die im Rückblick eigenartig eskapistisch anmutet. Vielleicht gerade auf Grund der nuklearen Schrecken besaßen viele Politiker und Forscher damals die Hoffnung, sich diese unglaublichen Kernkräfte zum Wohl der Menschheit nutzbar zu machen. US-Präsident Dwight D. Eisenhower kündigte in einer überraschenden Ansprache vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 8. Dezember 1953 das "Atoms for Peace"-Programm an. Damit bot er ausländischen Staaten Zugriff auf Atomtechnologie für die zivile Nutzung. Strategisch ein kluger Schachzug: Die Lieferung von angereichtertem Uran ermöglichte politischen Einfluss und ein Stück weit die Kontrolle darüber, dass diese Länder keine militärischen Programme durchführten. Darüber hinaus sicherte es Exporterlöse.

In Deutschland wuchs indes die Hoffnung, die Rolle als Paria der Staatengemeinschaft loszuwerden und mit Hilfe der Atomtechnik in ein neues industrielles Zeitalter vorzustoßen. Wie immens die Erwartungen an die Atomenergie waren, lässt sich etwa an den Aussagen des CSU-Politikers Franz Josef Strauß ablesen, der Minister des Ende 1955 eingerichteten "Bundesministeriums für Atomfragen" wurde. Strauß hielt die Nutzung der Atomenergie für einen vergleichbar wichtigen Einschnitt in die Menschheitsgeschichte wie die "Erfindung des Feuers für den primitiven Menschen". Die SPD wollte nicht hintan anstehen und stellte 1956 einen "Atomplan" vor. Damals rechneten einige Atomexperten damit, in 25 Jahren würde jeder zweite westdeutsche Erwerbstätige in irgendeiner Form mit Atomenergie zu tun haben.

Nachdem Bundeskanzler Adenauer Sondierungen vorgenommen hatte und die deutschen Wissenschaftler sich schrittweise Vertrauen bei ihren amerikanischen Kollegen erworben hatten, stimmten die USA schließlich doch der Lieferung von Forschungsreaktoren zu. Der Hauptstandort eines großen Atomforschungszentrum war zunächst unklar. München und Karlsruhe, zwei Kompetenzzentren der Nuklearforschung, waren beide im Rennen. Strategische Überlegungen von Seiten der NATO gaben schließlich Karlsruhe den Zuschlag für ein großes Atomforschungszentrum: Im Fall einer kriegerischen Auseinandersetzung mit dem Warschauer Pakt wäre das weiter westlich gelegene Karlsruhe sicherer und die Atomtechnologie würde nicht so einfach in die Hände der Sowjets fallen.

Damals | Zwei Männer betrachten bei einem kühlen Bier das Garchinger Atom-Ei. Damals führte nur eine Schotterpiste auf das Gelände.

So blieb Garching zunächst ein kleinerer Reaktor, der allerdings schneller zu bauen war und somit als Erster den Betrieb aufnahm. Nachdem die Inbetriebnahme problemlos geklappt hatte, waren die Deutschen aber auf sich allein gestellt. Die Amerikaner waren schon am nächsten Tag wieder auf der Heimreise und mit anderen Projekten betraut. Im Rahmen von "Atoms for Peace" lieferten die USA Atomreaktoren in über zwei Dutzend Länder.

"Wir müssen alles anders machen als die Amerikaner"

Nicht einmal ein Jahr hatte der Bau des Atom-Eis gedauert, dessen korrekte Bezeichnung Forschungsreaktor München (FRM) ist und der zur Technischen Universität München gehört. Spezialfirmen hatten in kurzer Zeit die schützende Betonkuppel errichtet und hunderte Tonnen Beton und Stahl verbaut. Die Atomtechnologie war für die deutschen Forscher allerdings komplett neu. Theoretiker wie der Nobelpreisträger Werner Heisenberg besaßen einen guten Überblick über die internationale Grundlagenforschung. Die ersten praktischen Kenntnisse mussten jedoch Schritt für Schritt erworben werden. Zum Glück hatten einige der zuständigen Forscher und Techniker bereits in den USA Erfahrungen mit der Reaktortechnik sammeln können – so hatten zwei Mitarbeiter nach mehrmonatigem Aufenthalt dort den "Reaktorführerschein" gemacht.

Die Anfangszeit war dementsprechend von Improvisation geprägt. Als die ersten Brennelemente aus den USA eintrafen, wurden sie zum Schutz vor Diebstahl oder Beschädigung zunächst noch im Tresor der Bayerischen Staatsbank zwischengelagert. Im unverbrauchten Zustand – solange sich in ihnen nur Uran und keine Spaltprodukte befinden – geht von sachgerecht ummantelten Brennelementen keine Gefahr aus. Bei den folgenden Lieferungen gab es am Atom-Ei dann einen eigenen Tresor für die sichere Aufbewahrung.

Den Betrieb und die Experimentiertechnik mussten sich die Deutschen jedoch ertüfteln. Dabei folgte der erste wissenschaftliche Leiter des Atom-Eis, Professor Heinz Maier-Leibnitz von der TU München, dem Motto: "Wir müssen alles anders machen als die Amerikaner." Den wissenschaftlichen und technischen Vorsprung der transatlantischen Kollegen könne man eh nicht aufholen – noch dazu, da man von ihren Uranlieferungen abhängig sei.

Heinz Maier-Leibnitz war nicht nur für sein Organisationstalent bekannt, sondern auch für sein Verhandlungsgeschick. Beim Aushandeln der Verträge mit dem amerikanischen Reaktorbauer American Machine and Foundry gelang es dem sparsamen Schwaben, den Preis so weit nach unten zu drücken, dass das Unternehmen ihm später die Europa-Vertretung für seine Reaktoren antrug. Maier-Leibnitz regte auch die Gründung des großen europäischen Neutronenforschungszentrums Institut Laue-Langevin in Grenoble an und wurde später Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Pioniergeist und Improvisation

Der Reaktor in Garching war ein "Schwimmbad-Reaktor", ein gängiger Typ für Forschungsreaktoren mit mäßiger Leistung, bei dem sich die Brennelemente aus mittel- bis hochangereichertem Uran ohne Druckbehälter in einem großen Wasserbecken befinden. Das Wasser dient sowohl als Kühlmittel wie als Moderator – es bremst also die bei der Kernspaltung entstehenden Neutronen so weit ab, dass sie weitere Urankerne spalten können.

Kurz nach dem FRM in Garching nahmen auch weitere Forschungsreaktoren in Deutschland den Betrieb auf. . Damit war der Wettlauf um den ersten Reaktor auf deutschem Boden entschieden. Der Forschungsreaktor Rossendorf in der Nähe von Dresden – damals wurde die DDR im Westen noch SBZ (Sowjetisch Besetzte Zone) genannt – erreichte am 16. Dezember die erste Kritikalität. Im Januar 1958 begann dann in Frankfurt am Main der Betrieb des FRF-1 (Forschungsreaktors Frankfurt). Im Juli 1958 folgte der BER (Berliner Experimentier-Reaktor) am Hahn-Meitner-Insitut für Kernforschung in Berlin.

Bei Kernkraftwerken geht es darum, durch die Kernspaltung möglichst viel Wärme zu erzeugen und diese in elektrischen Strom zu verwandeln. Forschungsreaktoren hingegen laufen mit sehr viel weniger Leistung – und erzeugen auch dementsprechend weniger radioaktiven Abfall. Hier geht es darum, sich die besonderen Eigenschaften der bei der Kernspaltung freigesetzten Neutronen nutzbar zu machen, die Materie durchleuchten können. Dies ermöglicht Einblicke, die andere Strahlungsarten wie Röntgenstrahlung nicht liefern können. Dazu leitet man etwa die Neutronen vom Ort ihrer Entstehung im Reaktorkern mit Hilfe von speziellen Strahlrohren zu den Experimenten.

Sowohl bei der Experimentiertechnik als auch bei der Neutronenoptik galt es damals, neue Verfahren zu erproben. Mit der "Rohrpost" etwa konnte man die Probenbehälter mit Hilfe von Stickstoff bis kurz vor den Reaktorkern fahren. Norbert Waasmaier, ab 1961 am Atom-Ei tätig und langjähriger Leiter des Technischen Dienstes, erinnert sich auch an besondere Tricks der Experimentierkunst: "Wir haben diverse Methoden erprobt, neben den Strahlrohren auch einige Alternativen wie das Klappzellen-Verfahren, das Drehteller-Verfahren oder das Angelschnur-Verfahren."

Alter und neuer Forschungsreaktor

Beim ersten Verfahren brachte man während der Ruhephasen des Reaktors aus der Entfernung zu öffnende und schließende Zellen in der Nähe des Reaktorkerns unter, in denen die Proben angeordnet waren. Ähnlich verhielt es sich bei den Drehtellern, auf denen sich 25 Proben anbringen ließen. Das Angelschnur-Verfahren ist weitgehend wörtlich zu nehmen. "Dieses lieferte mit die besten Ergebnisse", sagt Waasmaier. Man konnte bei laufendem Betrieb arbeiten und musste nach der Bestrahlung nur rund eine Stunde warten, bis die Radioaktivität weit genug abgeklungen war, um die Proben im Labor vermessen zu können.

Unersetzliche Einblicke in die Materie

Mit Hilfe der Neutronenstrahlung lassen sich eine Vielzahl von Experimenten durchführen, die sich auf andere Weise gar nicht oder nur sehr schlecht machen lassen. Die Anwendungsbreite ist in den letzten Jahrzehnten immer weiter gewachsen. Fundamentale kernphysikalische Prozesse gehören ebenso dazu wie die Analyse von Materialien. Neutronen liefern etwa Einblicke in Hochtemperaturlegierungen für Turbinenschaufeln. Ob neue Turbinen den enormen Belastungen im Betrieb widerstehen, ob Zahnräder und Kurbelwellen mikroskopische Risse aufweisen, wie sich neuartige Batterietypen optimieren lassen – für all diese Probleme gibt es kein besseres Werkzeug als Neutronenstrahlung. Die Industrie ist an vielen dieser Experimente beteiligt oder gibt sie in Auftrag.

Mit Neutronen lassen sich aber auch historische Kunstwerke oder paläontologische Objekte zerstörungsfrei untersuchen. Neutronen geben Aufschluss über magnetische Materialien für neue Datenspeicher, über Supraleiter oder über die Struktur von Proteinen. An Forschungsreaktoren lassen sich zudem spezielle Radionuklide für die Nuklearmedizin gewinnen, mit denen sich Tumore im Körper identifizieren lassen.

Interessanterweise hat die heutige Neutronenforschung nur noch sehr wenig mit der Kernenergie zu tun. Stattdessen liefert sie wichtige Erkenntnisse über Materialien für regenerative Energien, etwa für Batterien oder Solarzellen. In Anbetracht dieser Bedeutung für die moderne Forschung hat das im Jahr 2000 stillgelegte Atom-Ei einen Nachfolger gefunden: die Forschungs-Neutronenquelle Heinz Maier-Leibnitz, auch FRM II (Forschungsreaktor München II) genannt.

Dieser hat eine deutlich höhere Leistung als sein Vorgänger. Das Atom-Ei war mit einem Megawatt thermischer Leistung gestartet und hatte nach diversen Verbesserungen schließlich vier Megawatt erreicht. Der seit 2005 im Nutzerbetrieb befindliche FRM II ist auf 20 Megawatt ausgelegt. Er gehört zu den effektivsten und modernsten Neutronenquellen der Welt.

Das verdankt er nicht zuletzt den Vorarbeiten am Atom-Ei. Denn die Kunst bei Neutronenquellen besteht nicht zuletzt darin, möglichst viele der Neutronen vom Reaktorkern zum Experiment zu bringen. Denn die widerspenstigen Neutronen lassen sich nicht besonders leicht lenken. Dank sukzessiver Verbesserungen ist es aber gelungen, bei gleicher Reaktorleistung immer mehr Neutronen an ihr Ziel zu bringen. "Seit den 1960er Jahren haben wir bei gleicher Primärintensität alle zehn Jahre eine Größenordnung mehr Neutronen am Detektor", sagt Winfried Petry, seit 2001 wissenschaftlicher Direktor am FRM II.

Um eine möglichst einheitliche Neutronenstrahlung zu erhalten, sollte die Quelle – also der Reaktorkern – möglichst klein sein. Der FRM II arbeitet deshalb mit hochangereichertem Uran. Dieses Material ist im Prinzip waffentauglich. Zwar ist der Bau einer Atombombe eine diffizile Angelegenheit. Doch um Proliferationsrisiken auszuschließen, soll die Anlage auf deutlich niedriger angereichtertes Uran umgestellt werden. "Wir arbeiten an Konzepten, um den Reaktorkern noch dichter packen zu können, damit wir auch mit niedriger angereichertem Uran dieselbe hervorragende Neutronenstrahlqualität erhalten", erklärt Petry. Damit wollen die Garchinger Wissenschaftler auch in Zukunft ihre Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Forschungsanlagen weltweit erhalten.

Das Atom-Ei befindet sich derzeit in der Vorbereitung zum Rückbau. Genau genommen werden nur die Innereien entsorgt, die Hülle bleibt als Industriedenkmal erhalten. Selbst wenn Forschungsreaktoren wegen ihrer weit geringeren Leistung sehr viel weniger stark radioaktiv strahlen als Kernkraftwerke, müssen sie dennoch einige Jahre abklingen, bevor sie zurückgebaut werden können. Da von den jüngeren Mitarbeitern niemand weiß, wie einige der Installationen vorgenommen wurden, sind sie immer noch dankbar für die Erfahrungen der mittlerweile pensionierten älteren Kollegen. Norbert Waasmaier schaut noch regelmäßig am Reaktor vorbei. Die Faszination an der Atomtechnik und der Stolz auf die wissenschaftlichen Leistungen, die Garching auf die Landkarte der internationalen Forschung gebracht haben, sind geblieben.

Die Sache hat aber auch eine Kehrseite: Viele große Kernkraftwerksbetreiber wissen heute nicht, wie sie das implizite Wissen der Techniker und die praktischen Erfahrungen, die nicht unbedingt in der Betriebsanleitung stehen, für die Zukunft konservieren können. Der Rückbau großer Kernkraftwerke findet Jahrzehnte nach ihrem Betrieb statt und ist um ein Vielfaches aufwändiger als der von Forschungsreaktoren.

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