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Was ist Wissenschaft?: Die Philosophie soll der Physik aus der Patsche helfen

Die Stringtheorie steht im Zentrum eines Disputs um die Integrität der wissenschaftlichen Methode selbst.
Wurf mit zwei Würfeln

Ist die Stringtheorie Wissenschaft? In der letzten Dekade war diese Frage in Kosmologie und Physik Gegenstand heftiger Debatten. Nun sucht die zerstrittene Gemeinschaft die Hilfe der Philosophie: Anfang Dezember 2015 trafen sich einige der streitenden Physiker mit Wissenschaftstheoretikern zu einem ungewöhnlichen Workshop, der sich mit einer schweren Anschuldigung befassen sollte: Einige Zweige der theoretischen Physik hätten sich von den Wirklichkeiten der empirischen Wissenschaften abgesondert. Auf dem Spiel stehe die Integrität der wissenschaftlichen Methode und nicht zuletzt der Ruf der Wissenschaft selbst in der breiten Öffentlichkeit – sagen die Organisatoren des Workshops.

Das Ereignis fand vom 7. bis 9. Dezember an der LMU München statt und war die Spätfolge eines Artikels in "Nature" im Jahr 2014, in dem der Kosmologe George Ellis von der University of Cape Town und der Astronom Joseph Silk von der Johns Hopkins University in Baltimore einen "Besorgnis erregenden Umschwung" in der theoretischen Physik beklagten. "Angesichts der Schwierigkeiten, grundlegende Theorien auf das beobachtbare Universum anzuwenden", so die beiden, seien manche Fachleute der Ansicht, "wenn eine Hypothese hinreichend elegant und erklärungskräftig ist, muss sie nicht experimentell überprüft werden."

Eines der ersten besprochenen Themen war Überprüfbarkeit. Damit man eine wissenschaftliche Hypothese als gültig betrachten kann, verlangen Wissenschaftler oft, dass es ein Experiment gibt, das die Hypothese ausschließen – oder "falsifizieren" könnte, wie der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper es in den 1930er Jahren ausdrückte. In ihrem Artikel von 2014 wiesen Ellis und Silk darauf hin, dass einige theoretische Physiker sich in einigen Bereichen von dieser Leitlinie entfernt hätten – oder sogar forderten, sie aufzuweichen.

Das Duo zitierte die Stringtheorie als das primäre Beispiel. Diese Hypothese ersetzt Elementarteilchen durch unendlich dünne Fäden – die Strings –, um die anscheinend unvereinbaren Theorien zu vereinen, die Gravitation und Quantenwelt beschreiben. Die Strings sind zu klein, um mit heutigen Methoden erfasst zu werden, aber einige Fachleute argumentieren, die Stringtheorie sei dennoch verfolgenswert, egal ob man ihre Effekte jemals messen kann – einfach weil sie die "richtige" Lösung für viele Probleme zu bieten scheint.

Silk und Ellis prangerten eine weitere Idee an, die den "Popperismus" offenbar über Bord geworfen hat: das Konzept des Multiversums, in dem der Urknall unzählige Universen hervorbrachte, viele von ihnen radikal anders als unser eigenes. Doch im Eröffnungsvortrag des Workshops arbeitete der theoretische Physiker David Gross einen Unterschied zwischen beiden Hypothesen heraus. Er klassifizierte die Stringtheorie als prinzipiell überprüfbar und damit absolut wissenschaftlich, denn potenziell kann man die Strings messen.

Konzepte wie das Multiversum seien weit problematischer, sagt er, denn die dort postulierten Universen könnte man wohl von unserem eigenen Universum aus schon prinzipiell nicht beobachten. "Einfach zu behaupten, die Stringtheorie sei keine Wissenschaft, nur weil wir sie im Moment nicht überprüfen können, ist absurd", so Gross, der sich 2004 einen Nobelpreis für die Erforschung der inzwischen experimentell gut belegten starken Kernkraft teilte. Außerdem lieferte er wichtige Beiträge zur Stringtheorie.

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Auch der Workshopteilnehmer Carlo Rovelli, ein theoretischer Physiker aus Frankreich, ist der Meinung, die Stringtheorie sei die Aufmerksamkeit der Theoretiker wert, auch wenn man sie derzeit nicht überprüfen kann. Doch das wichtigste Angriffsziel von Ellis und Silk waren Beobachtungen des Philosophen Richard Dawid von der LMU München in seinem Buch "String Theory and the Scientific Method". Dawid schrieb, die Stringtheoretiker hätten begonnen, den Prinzipien bayesscher Statistik zu folgen, in der man die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Vorhersage richtig ist, anhand des bisherigen Wissensstands einschätzt und diese Einschätzung dann anhand neu erworbenen Wissens revidiert. Sie verwendeten aber, bemerkt Dawid, neuerdings rein theoretische Faktoren – zum Beispiel die interne Konsistenz einer Theorie oder dass es einfach keine glaubwürdige Alternative gibt –, um ihre Schätzungen zu verbessern, anstatt solche Revisionen auf Messdaten fußen zu lassen.

Während des Workshops stritt Gross, nach dessen Vorschlag der Mangel an Alternativen zur Stringtheorie ihre Wahrscheinlichkeit erhöht, korrekt zu sein, mit Rovelli, der seit Jahren an eben einer solchen Alternative arbeitet, nämlich der Loop-Quantengravitation. Rovelli lehnt die Annahme, es gebe keine Alternativen, rundheraus ab. Ellis wiederum lehnt die Vorstellung ab, theoretische Überlegungen könnten solche Wahrscheinlichkeiten überhaupt verbessern. "Meine Antwort auf den Bayesianismus ist: Neue Indizien müssen experimentelle Indizien sein", sagt er.

Auch andere Fragen rund um die Nutzung bayesscher Statistik zur Stützung der Stringtheorie kamen auf. Sabine Hossenfelder, Physikerin am Nordischen Institut für Theoretische Physik, Schweden, erklärte, die Beliebtheit der Stringtheorie könnte zu dem Eindruck beigetragen haben, sie sei die einzige Alternative auf dem Gebiet. Vermutlich bewirkten aber eher soziologische Gründe den Aufstieg der Stringtheorie: Der wissenschaftliche Nachwuchs könnte sich zum Beispiel bevorzugt in diese Richtung wenden, weil die Berufsaussichten dort besser seien als auf obskureren Gebieten.

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Der Wissenschaftshistoriker Helge Kragh von der Universität Aarhus in Dänemark zog derweil die historische Perspektive heran. "Vorschläge, dass wir neue wissenschaftliche Methoden brauchen, gab es auch zuvor, doch die Versuche, empirische Überprüfung durch andere Kriterien zu ersetzen, sind immer fehlgeschlagen", sagt er. Zumindest sei das Problem auf nur wenige Bereiche der Physik beschränkt, fügte er hinzu. "Stringtheorie und Multiversumskosmologie sind nur ein kleiner Teil dessen, was man in der Physik macht."

Das tröstet Rovelli wenig, der betonte, man brauche eine klare Unterscheidung zwischen den wissenschaftlichen Theorien, die durch empirische Belege gestützt werden, und den spekulativen. "Es ist keine gute Sache, wenn Leute dich auf der Straße ansprechen und sagen: 'Wusstest du schon, dass die Welt aus Strings besteht und dass es Paralleluniversen gibt?'"

Am Ende des Workshops schienen die streitenden Fachleute einer Einigung nicht wirklich näher zu sein. Dawid – der das Event zusammen mit Silk, Ellis und anderen organisierte – erklärt, er erwarte nicht, dass die Beteiligten ihre Positionen grundlegend änderten. Doch er hoffe, dass der Kontakt mit anderen Denkrichtungen "in einer leichten Annäherung resultieren" könne. Ellis hofft, dass ein konzentrierteres Format wie eine zweiwöchige "summer school" sich beim Herbeischaffen einer Einigung als erfolgreicher erweisen könnte.

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