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Politik: Die Psychologie der Koalitionsverhandlungen

Nach der Ankündigung der SPD, in die Opposition zu gehen, stehen CDU, CSU, FDP und Grüne vor komplizierten Koalitionsgesprächen. Wie soll man verhandeln, wenn es in zentralen Fragen wie der nach der "Obergrenze" schier unüberwindliche Gegensätze zwischen den Parteien gibt? Ein Interview mit dem Psychologen Roman Trötschel von der Leuphana-Universität Lüneburg.
Handschlag vor der Jamaikaflagge

Herr Professor Trötschel – wie können Parteien zu einer Regierung zusammenfinden, wenn in zentralen Fragen wie der Flüchtlingspolitik die CSU etwa sagt "Keine Koalition ohne Obergrenze" und die Grünen umgekehrt für sich reklamieren, niemals einer Regierung anzugehören, die eine solche Obergrenze festlegt?

Verhandlungen gestalten sich immer dann sehr schwer, wenn die Parteien zu Beginn der Verhandlung bereits – scheinbar – unverrückbare Positionen markieren. Diese Strategie, die am Ende häufig zum Scheitern der Verhandlungen führt, bezeichnen Psychologen als positionelles Festlegen. Es schränkt den Verhandlungs- beziehungsweise Handlungsspielraum der Akteure stark ein. Parteien setzen die Strategie des positionellen Festlegens meist in der Hoffnung ein, dass sich die Gegenseite auf die scheinbar unverrückbare Position einlässt, weil ansonsten das Scheitern droht.

 

Funktioniert das?

Problematisch wird es, wenn zwei Parteien bereits zu Beginn der Verhandlung zur Strategie des positionellen Festlegens greifen und ihre artikulierten Positionen unvereinbar sind. Bei der Obergrenze für Flüchtlinge bedeutet dies, dass mindestens eine Partei in der späteren Verhandlung ihr Gesicht verlieren könnte, wenn sie das übergeordnete Ziel einer Regierungsbildung anstrebt und daher von ihrer zuvor festgelegten Position abweicht.

Roman Trötschel ist Professor für Sozial- und Organisationspsychologie an der Leuphana-Universität Lüneburg. | Unter anderem erforscht er kognitive Prozesse und Wertkonflikte bei Verhandlungen.
 

Welche Rolle spielt für Verhandlungsführer der psychologische Effekt des Motivated Reasoning – das Vermeiden unangenehmer Gefühle bei Entscheidungen?

Wie wir alle in vielen Bereichen unseres alltäglichen Lebens sind auch Verhandlungsführer von der Richtigkeit und logischen Begründung der eigenen Positionen überzeugt. Gerade in politischen Verhandlungen, in denen es nicht nur um gegensätzliche Interessen, sondern auch um unvereinbare Werte geht, spielt der Prozess des Motivated Reasoning eine zentrale Rolle. Dieses Phänomen hat häufig zur Folge, dass die Parteien zur Strategie des "überzeugenden Argumentierens" greifen und versuchen, die Gegenpartei mit scheinbar objektiven Daten, Statistiken oder Fakten von der Richtigkeit der eigenen Position zu überzeugen. Das Problem hierbei ist, dass die Gegenpartei häufig als Reaktion zur gleichen Strategie greift und andere Daten, Statistiken oder Fakten präsentiert. Ebenso wie die Strategie des positionellen Festlegens ist die Strategie des überzeugenden Argumentierens somit in vielen Fällen nicht zielführend.

 

Was ist besser?

Besser ist es, zu versuchen, die tatsächlich zu Grunde liegenden Interessen der Gegenpartei zu verstehen und die gegensätzlichen Werte als gegeben zu respektieren. Auf dieser Grundlage lassen sich dann in zentralen Sachfragen oft Lösungen finden, die die Interessen der beteiligten Parteien berücksichtigen, ohne dass die Parteien vollständig ihre zu Grunde liegenden Werte aufgeben müssen.

   

Müssen sich die Unionsparteien in der Frage der Obergrenze erst einmal untereinander einigen, um danach gemeinsam mit Liberalen und Grünen zu verhandeln? Oder ist es schlauer, sofort mit allen potenziellen Koalitionären an einen Tisch zu gehen, damit nicht hinterher Grüne oder Liberale Keile in heikle Kompromisse zwischen CDU und CSU treiben?

Tritt man in einer Koalitionsverhandlung gemeinsam als eine Partei, also zum Beispiel als Union auf, so ist es äußerst wichtig, dass man sich vor der Verhandlung intern über die in der Koalitionsverhandlung gemeinsam zu vertretenden Positionen einig wird und auch versteht, welche gemeinsamen Interessen man in der Verhandlung verfolgt. Treten in den Koalitionsverhandlungen Differenzen innerhalb von Verhandlungsteams wie etwa dem von CDU/CSU auf, so schwächt dies deren Position in erheblichem Maß. Daher sind die Vorbereitungen auf die Verhandlung beziehungsweise die Phasen zwischen einzelnen Verhandlungsrunden meist zeitintensiver und bedeutsamer als die eigentliche Verhandlungsphase. 

Treten in den Koalitionsverhandlungen Differenzen innerhalb von Verhandlungsteams wie etwa dem von CDU/CSU auf, so schwächt dies deren Position in erheblichem Maß

Welchen Einfluss auf die Verhandlungen haben die Parteibasis und die jeweiligen Wähler, auch wenn sie nicht mit am Tisch sitzen?

Koalitionsverhandlungen sind stets Repräsentantenverhandlungen. Das bedeutet, die Personen am Tisch vertreten nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern auch diejenigen ihrer Wähler und Parteimitglieder. Repräsentantenverhandlungen werden meist härter oder kompromissloser geführt als Verhandlungen, in denen man nur für die eigenen Interessen einstehen muss. Zudem sind Koalitionsverhandlungen auch stets durch psychologische Gruppenprozesse oder -phänomene gekennzeichnet: Man agiert als Verhandlungsführer psychologisch nicht als Einzelperson oder Individuum, sondern sieht sich als Mitglied einer sozialen Gruppe, die für bestimmte Dinge einsteht. Dadurch kommen Identitätsprozesse ins Spiel. Verhandlungen zwischen Gruppen berühren also nicht nur die Interessen der jeweiligen Gruppen, sondern auch die Identität der beteiligten Gruppenmitglieder. Repräsentanten möchten sich als gute Mitglieder ihrer jeweiligen Gruppen darstellen und versuchen daher, ihre Identität als Mitglieder der jeweiligen Partei besonders stark in den Vordergrund zu stellen. Derartige psychologische Prozesse können das Finden von einvernehmlichen Lösungen zusätzlich erschweren.

Ist es schlau, wenn Parteien sagen, dass ein potenzieller Koalitionsvertrag im Nachgang noch durch eine Mitgliederbefragung abgesegnet werden muss?

Dieses Vorgehen kann eine Lösung für die Konfliktposition sein, in der sich Repräsentanten in Verhandlungen befinden. Für Repräsentanten besteht ja nicht nur ein zu lösender Interessens- oder Wertekonflikt mit der Gegenpartei am Verhandlungstisch, sondern möglicherweise auch ein Interessens- und Wertekonflikt zu der sozialen Gruppe, die man in der Verhandlung vertritt – also etwa die Parteibasis. Durch die Mitgliederbefragung wird dieses Spannungsfeld, in dem sich Repräsentanten befinden, teilweise aufgelöst: Die finale Entscheidung über eine Einigung oder Nichteinigung wird an die repräsentierte Gruppe delegiert. Durch diese Rückgabe der Entscheidungsgewalt über Einigung oder Nichteinigung müssen die Parteimitglieder selbst entscheiden, welche Interessen für sie wichtiger sind: Das Interesse an der Regierungsverantwortung und die Chance darauf, regierend gestalten zu können, oder andere Interessen, die in Folge einer Einigung möglicherweise aufgegeben werden müssen.

 

Wie kann die Kanzlerin versuchen, doch auch die SPD noch zu Gesprächen zu bewegen? Wäre es schlau, hier Hinterzimmergespräche zu führen, um im Fall des Scheiterns der Jamaika-Gespräche Neuwahlen zu umgehen durch eine erneute große Koalition?

Verhandlungsparteien stärken ihre Position, indem sie sich Alternativen im Fall einer Nichteinigung suchen. Die Ankündigung von Frau Merkel, die Verhandlungen trotz ablehnender Haltung dennoch mit der SPD zu suchen, ist der Versuch, sich in eine bessere Verhandlungsposition in den Jamaika-Gesprächen zu bringen. Da sich die SPD jedoch sehr klar und schon am Wahlabend in dieser Frage positioniert hat, erscheint dies eher als ein taktisches Manöver.

 

Wie bewerten Sie die Verhandlungsposition der Kanzlerin?

Insgesamt befindet sich die Union trotz des größten Anteils an Wählerstimmen und dem damit verbundenen Machtanspruch in einer schwierigen Verhandlungsposition: Einerseits hat sie durch das Wahlergebnis den Auftrag, eine Regierung zu bilden, gleichzeitig sind ihr jedoch durch die Positionierung der SPD die Alternativen verloren gegangen. Auf Grund der Rolle als stärkste Fraktion im neuen Bundestag wird sich die Union jedoch stärker als die beiden anderen potenziellen Koalitionspartner FDP und Grüne verpflichtet fühlen, eine Regierung zu bilden. 

Die AfD als potenzielle Gewinnerin gescheiterter Koalitionsverhandlungen ist natürlich sehr präsent während des gesamten Verhandlungsprozesses
 

Wer muss die größte Angst vor Neuwahlen haben – und sitzt die AfD virtuell ständig als Schreckgespenst mit am Verhandlungstisch?

In den Augen der Öffentlichkeit hat die CDU die Führungsrolle im Verhandlungsprozess und wird auf Grund des wahrgenommenen Regierungsauftrags wohl auch am stärksten in die Verantwortung genommen, wenn die Verhandlung scheitert. Dennoch spielen auch die Medien eine zentrale Rolle bei der Deutung beziehungsweise der Zuordnung der Ursachen für das etwaige Scheitern der Koalitionsverhandlungen. So kann es sein, dass wegen zuvor festgelegter, unverrückbarer Positionen zum Beispiel zur Flüchtlings- oder Wirtschaftspolitik auch den Grünen oder der FDP die Verantwortung für das Scheitern zugeschrieben wird. Das beharrliche Pochen auf eigene Positionen kann von den eigenen Wählern zwar als Stärke wahrgenommen werden, jedoch auch als mangelnde Bereitschaft, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Letztlich sind alle Parteien, die an den Koalitionsverhandlungen beteiligt sind, von den Konsequenzen des Scheiterns der Verhandlungen bedroht. Die AfD als mögliche Gewinnerin gescheiterter Koalitionsverhandlungen ist somit natürlich sehr präsent während des gesamten Verhandlungsprozesses. 

 

Welche Rolle spielen die sozialen Medien für die Verhandlungsführer? Diese riskieren ja, sofort von ihrer Klientel ausgebuht zu werden, wenn sie eigene Positionen räumen, um notwendige Kompromisse zu ermöglichen.

Die Verhandlungsführer werden die öffentliche Diskussion und die Stimmung in den sozialen Netzwerken sehr aufmerksam verfolgen. Da jedoch die Positionen der Parteien durch das jeweilige Wahlprogramm bereits vor den Wahlen und somit auch von den Koalitionsverhandlungen festgelegt wurden, sollte dieses Wahlprogramm den Verhandlungsführern stärker als Leitlinie dienen denn etwaige Stimmungen und Diskussionen auf Facebook oder Twitter.

 

Welchen Einfluss haben die Medien grundsätzlich auf Koalitionsverhandlungen?

Die Medien und die Öffentlichkeit sind in derartigen Verhandlungen ein zweischneidiges Schwert für die Parteien: Einerseits werden die Medien dazu genutzt, Druck auf die Gegenpartei aufzubauen, andererseits können die Medien auch von den anderen Parteien dazu genutzt werden, den Druck von der eigenen Basis zu erhöhen. Die Medien können also je nach Berichterstattung den Einigungswillen der Verhandlungsführer erhöhen ebenso aber auch die Einigungsbereitschaft reduzieren – wenn die Basis den Eindruck gewinnt, dass die eigenen Interessen und Werte verkauft werden. Daher sollten Verhandlungen, in denen Gruppeninteressen berührt werden, so weit wie möglich unter Ausschluss der Öffentlichkeit und der Medien geführt werden, damit die Parteien in Ruhe den gemeinsamen Einigungsspielraum abstecken können.

 

Das erscheint bei Koalitionsverhandlungen im Bund, zumal im 21. Jahrhundert, unmöglich.

Ja. In der Realität gestaltet sich dies häufig anders, da die Verhandlungsführer oft versuchen, die Medien und auch die sozialen Netzwerke strategisch für die eigenen Belange einzusetzen. Die Medien umgekehrt haben natürlich das Bestreben, jede Wasserstandsänderung unmittelbar zu berichten. 

 

Kann man aus Koalitionsverhandlungen durch geschickte Gesprächsführung Randbedingungen heraushalten wie die kommende Landtagswahl in Bayern, welche besonders der CSU im Nacken sitzt, oder die Forderungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron nach einem eigenen Haushalt für die Eurozone, welche die FDP strikt ablehnt?

Insgesamt ist es in komplexen Verhandlungen, wie sie die anstehenden Koalitionsverhandlungen darstellen, sehr schwierig, von außen gesetzte Themen herauszuhalten. Diese Themen werden ja bewusst und gezielt von bestimmten Akteuren mit eigenen Interessen eingebracht. Macrons Rede zu Europa ist eben so ein Beispiel, um die Verhandlung von außen zu beeinflussen. Auch wird die Zeit nach den Wahlen häufig von anderen politischen Akteuren dazu genutzt, die eigene Machtposition innerhalb ihrer Gruppe zu stärken, sogar wenn diese Akteure selbst gar nicht am Verhandlungstisch sitzen. Somit werden von außen gezielt gesetzte Themen, wie etwa die Frage nach dem Führungsanspruch in der CSU oder die Frage nach der Ausrichtung Europas, in die Koalitionsgespräche hineinwirken und die Verhandlungen zusätzlich belasten.

 

Politiker betonen gern, dass in Koalitionsverhandlungen erst einmal die Sachfragen geklärt werden, um anschließend die Personalfragen anzugehen. Geht das überhaupt, wenn potenzielle Ministerinnen und Minister bereits mit am Verhandlungstisch sitzen?

In Koalitionsverhandlungen werden auch immer Fragen der Identität der jeweiligen Partei berührt. Da Ministerien stets auch identitätsbestätigende Symbole sind, wird die Frage nach ihrer Besetzung das Verhandlungsgeschehen indirekt bestimmen. So wird sich die FDP in Sachfragen zur Wirtschaftspolitik stark engagieren, während sich die Grünen für die Umweltpolitik einbringen werden. Damit einher geht natürlich die Frage nach dem Personal, ohne dass dieses zu diesem Zeitpunkt direkt verhandelt wird. Außerdem geht es dabei häufig um individuelle Interessen der beteiligten Akteure, die ebenfalls das Verhandlungsgeschehen systematisch beeinflussen. 

 

Welche Prognose geben Sie ab: Wird bis Weihnachten eine Jamaika-Koalition für den Bund stehen?

Da das Scheitern der Koalitionsverhandlungen auch den beteiligten Parteien als Schwäche ausgelegt werden kann, gehe ich davon aus, dass Union, FDP und Grüne eine Einigung bis Weihnachten erzielen werden. Ob diese Einigung langfristig tragfähig ist, muss sich jedoch erst zeigen. Sicherlich werden sich jedoch die Verhandlungen über einen längeren Zeitraum erstrecken, da die Dauer der Verhandlung für sich genommen auch eine symbolische Signalwirkung für die eigenen Wähler beziehungsweise an die Parteibasis darstellt: Man hat intensiv um die Durchsetzung der eigenen Positionen gerungen, jedoch war eine bessere Einigung als die am Ende erzielte angesichts der schwierigen und ermüdenden Verhandlungen nicht möglich.

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