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Epidemien: Ebola: Seit Jahrzehnten in Westafrika – und niemand merkt's?

Bereits 1982 weisen deutsche Forscher mögliche Ebolainfektionen in Liberia nach, doch ihr Ergebnis gerät in Vergessenheit. Wie kann das passieren?

"Niemand kann mit gutem Gewissen sagen, es hätte keine Warnung gegeben. Ebola war bereits hier." Ob Liberias oberste Gesundheitsbeamtin, Bernice Dahn, diese Worte für einen Gastkommentar in der "New York Times" wütend oder resigniert niedergeschrieben hat, lässt sich nicht sagen. Ihr Erstaunen klingt zwischen den Zeilen jedenfalls durch.

Im März hatte die Medizinerin mit Kollegen den Ebola-Sanierungsplan für Liberia vorbereitet. Dafür sei sie auch die Fachliteratur zum Thema Ebola in Liberia systematisch durchgegangen – dabei habe sie einen Fachartikel gefunden. Die Blutproben von 433 Liberianern aus dem ganzem Land enthielten Antikörper gegen Erreger von hämorrhagischen Fiebern: bei 17 Prozent gegen das Lassavirus, bei anderthalb Prozent gegen das Marburg-Virus – und bei sechs Prozent gegen das Ebolavirus, das zu jener Zeit angeblich noch gar nicht im Land war.

"Was uns entsetzt hat, waren nicht die Wörter, sondern wann sie geschrieben wurden", so Bernice Dahn mit zwei weiteren Autoren in der "New York Times": "Das Papier wurde 1982 veröffentlicht."

Die Proben stammen sogar bereits aus den Jahren 1978 und 1979. Das heißt, bereits vor dreieinhalb Jahrzehnten gab es in Liberia wohl Menschen, die eine Ebolainfektion überlebt hatten. Währenddessen lassen Medien und Mediziner, Wissenschaftler und die Weltgesundheitsorganisation seit jeher verlauten: Die aktuelle Ebolaepidemie in Westafrika war unvorhergesehen – in diesem Teil Afrikas sei das Ebolafieber noch nie ausgebrochen, ja, es habe auch niemand damit gerechnet.

Dabei warnte der Fachartikel von 1982, die Ergebnisse legten nahe, dass Liberia zu jenen Gebieten gezählt werden sollte, in denen das Ebolavirus ständig vorkommt. Deswegen sollte medizinisches Personal auf Ebolapatienten vorbereitet werden, um Ansteckungen in den Gesundheitszentren und somit Epidemien zu verhindern.

Doch das hat niemand bemerkt – weder die Ausbrüche selbst noch dass es diese Fachpublikation gibt!?

Die Gesundheitsexpertin Bernice Dahn erklärt sich das in der "New York Times" so: An diesem und zwei ähnlichen, später erschienenen Fachartikeln haben keine liberianischen Forscher mitgeschrieben. "Und selbst heute würde es einen Arzt 45 US-Dollar kosten, eine der Publikationen aus einer Datenbank herunterzuladen – etwa ein halbes Wochengehalt." Doch diese Argumentation ist wohl zu kurz gegriffen, die Ursachen sind komplexer. Der Fall zeigt, welche Folgen es hat, wenn alte Forschung und neue Forscher, Publikationspraxis und Rechercheprobleme, Medizingeschichte und Bürgerkriegsgeschichte zusammenkommen.

Auch PubMed listet nicht alles

Wer medizinische Fachliteratur zu einem bestimmten Thema sucht, schaut oft zuerst (oder auch nur) bei "PubMed" nach, einer Suchmaschine für biomedizinische Fachartikel. Mit ihr lässt sich unter anderem die Medizindatenbank "MedLine" der US-amerikanischen Nationalbibliothek für Medizin durchforsten: Hunderte Fachzeitschriften sind dort verzeichnet und damit Millionen von Artikeln, zumindest deren Zusammenfassungen und ein Hinweis darauf, wo der vollständige Artikel erschienen und wo er verfügbar ist.

"Niemand interessiert sich für seltene Fälle im Urwald"

Wer bei "PubMed" etwa speziell nach "Ebola + Liberia" sucht, bekommt aktuell rund 160 Fachpublikationen angezeigt. Fünf davon sind vor dem Ausbruch der aktuellen Ebolaepidemie in Westafrika erschienen. Und in einem dieser fünf Artikel wiederum heißt es: Bei mehr als jedem achten Versuchsteilnehmer aus einem Regenwaldgebiet Liberias wurden Antikörper gegen Ebolaviren gefunden. Dieser Fachartikel ist 1986 in der Zeitschrift "Tropical and Geographical Medicine" erschienen.

Der 1982 erschienene Fachartikel, den Liberias oberste Gesundheitsbeamtin Bernice Dahn erwähnt, taucht hingegen bei "PubMed" nicht auf – weil der Artikel in der Fachzeitschrift "Annales de l'Institut Pasteur / Virologie" erschienen ist und dieses Journal bei "PubMed" nicht gelistet ist. Man findet den Artikel zum Beispiel über Googles wissenschaftliche Suchmaschine "Google Scholar". Herunterladen lässt sich die Publikation bei "ScienceDirect", der Onlinedatenbank des Elsevier-Verlags, der die Zeitschrift herausgibt.

Dort muss man für den Artikel bezahlen, und nicht zu knapp – aber diese Hürde könne überwunden oder umgangen werden, sagt Jürgen May vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg, der seit gut zwei Jahrzehnten in Afrika forscht. Fachverlage erließen Bibliotheken und Forschungseinrichtungen in ärmeren Ländern auf Antrag die Gebühren; und es sei auch üblich, von Kollege zu Kollege um ein Exemplar zu bitten und dann kostenlos ein PDF gemailt zu bekommen. Man müsse nur erst mal die Quelle finden – was May zufolge schwierig wird, wenn die Fachliteratur älter als 20 Jahre ist. Die sei nur auf Papier gedruckt sowie längst nicht vollständig digitalisiert und in Datenbanken eingepflegt worden.

"Das Internet ist ursprünglich im Forschungsbereich entstanden: von Wissenschaftlern entwickelt, damit sich Forscher untereinander besser und schneller austauschen können", sagt May. Aber Anfang der 1980er Jahre war das Internet eben noch nicht weit verbreitet.

Seinerzeit recherchierten Forscher im "Index Medicus": Das war der gedruckte Katalog der US-amerikanischen Medizin-Nationalbibliothek mit den neuesten Medizinfachartikeln und der Vorläufer der digitalen "MedLine". May erinnert sich: "Das waren große Bücher, die jeden Monat erschienen sind und die man dann in Staats- und Universitätsbibliotheken bekommen konnte. Aber in afrikanischen Ländern waren die praktisch nicht verfügbar."

Wer früher von Afrika aus Fachliteratur recherchieren wollte, brauchte ein gutes Netzwerk. May hat selbst immer wieder Anrufe bekommen und Listen per Post mit der Bitte, bestimmte Fachpublikationen herauszusuchen. "Die haben wir dann mühsam herausgesucht, kopiert und beim nächsten Forschungsaufenthalt mitgebracht. Wenn man irgendwohin gefahren ist, um Studien durchzuführen, hatte man immer auch einen Stapel Publikationen dabei."

HIV und Bürgerkrieg waren wichtiger

Der Fachartikel von 1982, der nachgewiesen haben soll, dass Ebola bereits seinerzeit in Liberia vorkam, hat drei Autoren – allesamt vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin. Zwei sind mittlerweile verstorben. Der dritte ist längst emeritiert. Und auch wenn er immer noch den einen oder anderen Tag am Institut in Hamburg ist, dauert es eine Weile, bis man ihn erreicht: Herbert Schmitz, 74 Jahre.

Das deutsche Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin hatte in den 1960er Jahren eine Außenstation in Liberia eingerichtet. Von dort aus erforschten Ende der 1970er Jahre Schmitz und seine Kollegen, wie weit verbreitet das Lassafieber in den verschiedenen Regionen Liberias ist. Bei diesem Screening testeten sie auch auf andere hämorrhagische Fieber: Ebola und Marburg.

Der Virologe lacht kurz auf, als er von Bernice Dahns Gründen erfährt, warum man sein Paper erst jetzt entdeckt und ernst genommen habe: "Wir haben doch sogar Sonderdrucke an der Universität in Monrovia hinterlegt. Allerdings dürfte nicht mehr viel Papier übrig geblieben sein." Wegen des Bürgerkriegs und wegen des Immunschwächevirus HIV ging das Wissen um den seltsamen Befund wieder verloren.

Der Bürgerkrieg hatte noch nicht einmal begonnen, da haben sich die Leute gegenseitig die Köpfe abgeschnitten.

Schmitz und seine Kollegen waren selbst überrascht, Antikörper gegen Ebolaviren gefunden zu haben und damit Ebola-Überlebende. Wenn man – wie damals üblich – davon ausgeht, dass etwa 80 Prozent der Infizierten sterben, dann müssten auf jeden Überlebenden vier Tote kommen. Aber bis dahin war nie von einem Ausbruch in Liberia berichtet worden; und die Forscher selbst hatten auch keinen Ebolakranken gesehen in all ihrer Forschungszeit vor Ort. Schmitz erklärt sich das heute so: Damals gab es viel weniger Menschen in dem westafrikanischen Land, sie lebten in kleineren Gemeinschaften, waren abgeschiedener und auch nicht so mobil wie heutzutage, sagt Schmitz: "Da kann ein Ebolaausbruch in einer Familie als Malaria angesehen worden sein und sich selbst begrenzt haben."

Vielleicht aber war es auch einfach nur ein Fehlalarm. Es ist möglich, dass der Proband zuvor mit einem anderen – das heißt strukturell ähnlichen, aber nicht so gefährlichen – Virus infiziert war. Der Test könnte nicht spezifisch genug gewesen sein, um solche Erreger von den wirklich gefährlichen hämorrhagischen Fiebern zu unterscheiden. Schmitz und Kollegen wollten wegen dieser Zweifel weiterforschen an Lassa, aber auch Ebola und Marburg. "Aber dann war plötzlich ein neues Virus in Westafrika aufgetaucht: HIV", erzählt Schmitz.

Die Gesundheitsbehörden in Liberia seien auf einmal "hoch interessiert" gewesen am Immunschwächevirus HIV. Die Lassaforschung sei dadurch in den Hintergrund geraten und damit auch Ebola. Schmitz forschte eine Weile zu HIV in der Region, musste dann aber Mitte der 1980er Jahre "die Zelte abbrechen", erinnert er sich: "Der Bürgerkrieg hatte noch nicht einmal begonnen, da haben sich die Leute gegenseitig die Köpfe abgeschnitten. Das war entsetzlich. Und wir sind natürlich auch so schnell wie möglich weg." Nach dem von 1989 bis 2003 dauernden Bürgerkrieg waren das Krankenhaus und die Forschungsstation, die das Bernhard-Nocht-Institut in Liberia aufgebaut hatte, zerstört. Und die Tropenmediziner forschten nun in anderen Ländern und kaum noch über Ebola.

Dabei enthält der nur vier Seiten lange Fachaufsatz ein brisantes Detail – eine Tabelle, die auflistet, wo die Versuchsteilnehmer in den fünf Jahren vor der Blutentnahme gelebt hatten. Die Gegend mit dem höchsten Anteil an Ebola-Überlebenden ist: Guinea. Das Land grenzt sowohl an Liberia als auch an Sierra Leone. Und im Dreiländereck lebt ein Volksstamm, die Kissi. Und hier, auf der Seite von Guinea, hat sich ein Zweijähriger wohl beim Spielen mit Fledermäusen mit Ebola angesteckt.

Mehr als 26 000 Ebolafälle

Die Mediziner in Liberia hätten somit vorgewarnt sein können, dass Ebola auch über die Grenze kommt. Doch nicht einmal das habe seinerzeit jemand ernst genommen, sagt Schmitz heute rückblickend: "Nach dem Bürgerkrieg haben sich die Ärzte in den Krankenhäusern für Verletzte und Verwundete interessiert, aber nicht mehr für seltene Fälle, die irgendwo im Urwald auftraten."

Mehr als 26 000 Fälle, darunter fast 11 000 Tote, zählt die Statistik bislang für Guinea, Liberia und Sierra Leone. Seit gut einem Jahr interessiert sich nun die ganze Welt für Ebola in Westafrika. Und in all der Zeit haben weder Herbert Schmitz noch sonst jemand vom Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin eingeworfen à la: Da war doch dieses Paper von 1982. So neu ist Ebola gar nicht in Westafrika.

Fragt man Herbert Schmitz warum, dann antwortet er unter anderem: Im Nachbarland Elfenbeinküste sei Ebola aufgetreten, und man wusste, dass das Virus in bestimmten Fledermäusen vorkommt – da hätte man mit einem Ausbruch in Liberia rechnen können. Aber wenigstens einwerfen, dass es wohl falsch ist, den aktuellen Ebolaausbruch in Westafrika als den allerersten zu bezeichnen? "Das hätte für den Verlauf der Epidemie keinen Unterschied gemacht."

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