Direkt zum Inhalt

Nobelpreise 2015: Ein Medizinnobelpreis für Medizin

Das Nobelpreiskomitee hat in diesem Jahr etwas Altmodisches getan: Es verleiht den Medizinpreis an drei Forscher für hartnäckige Routinearbeit an Medikamenten. Das ehrt ihren Instinkt, den richtigen Fragen nachgegangen zu sein: Millionen von Menschen verdanken dem ihr Leben und eine Zukunft.
Labor

Den Medizinnobelpreis – offiziell penibel betitelt als die Auszeichnung "für Physiologie oder Medizin" – bekommen in diesem Jahr drei Außenseiter, deren Arbeit Millionen von Menschenleben gerettet haben dürfte. Der US-Amerikaner William C. Campbell und der Japaner Satoshi Ōmura werden dabei für ihre Entdeckung des Antiwurmparasiten-Wirkstoffs Avermectin und die Weiterentwicklung zum deutlich potenteren Ivermectin geehrt. Sie teilen sich den Preis mit der Chinesin Youyou Tu, die nach jahrelangen Bemühungen das pflanzliche Malariamittel Artemisinin isolieren konnte. Ivermectin wirkt heute so erfolgreich gegen die tropischen Filarienerkrankungen Flussblindheit und Elephantiasis, dass diese beiden uralten Plagen der Menschheit womöglich bald ausgerottet sind. Artemisinin ist heute ein unverzichtbarer, hochwirksamer Bestandteil von Medikamentencocktails gegen Malaria, der am häufigsten tödlichen Tropenkrankheit.

Beifuß gegen Blutparasiten

Avermectin und Artemisinin – biochemische Endprodukte des Bemühens der frisch gekürten Laureaten – haben gemeinsam, dass die Natur sie schon weit länger kennt als die Pharmakologie: Avermectin wird von Bodenbakterien, Artemisinin von der Pflanze Artemisia annua, dem Einjährigen Beifuß, produziert.

Die Preisträger des Medizinnobelpreises 2015 | von links nach rechts: William C. Campbell, Satoshi Omura, Youyou Tu.

Gerade der Beifuß war dabei alten chinesischen Gesundheitsexperten schon sehr lange aufgefallen: In der traditionellen chinesischen Medizin setzt man ihn in vielfältigster Form allerlei Arzneien zu, die gegen die verschiedensten Wehwehchen wirken oder wirken sollen. Das war im Westen niemandem aufgefallen – der nun preisgekrönten chinesischen Pharmakologin Youyou Tu aber schon. Bereits in den späten 1960er Jahren machte sie sich mit allem wissenschaftlichen und technischen Knowhow daran, herauszufinden, welche potenziellen Wirkstoffe tatsächlich im Einzelnen in der Pflanze stecken.

Tu – offiziell gehört die 74-Jährige auch im Ruhestand noch der Akademie für traditionelle chinesische Medizin in Peking an, wo sie jahrzehntelang geforscht hat – gelang es schließlich, einzelne biochemisch aktive Komponenten der Pflanze zu isolieren – mit allerdings zunächst wechselnden, kaum reproduzierbaren Ergebnissen. Der Durchbruch, erzählt sie, kam schließlich aus unerwarteter Richtung: Sie fand in alten chinesischen Schriften Hinweise auf die korrekte Aufbereitung der Pflanze und konnte den Wirkstoff so dann in den frühen 1970er Jahren sauberer aufreinigen, isolieren und schließlich testen. So ergab sich am Ende, dass Artemisinin gegen Malariaparasiten im Blut von Versuchstieren und Menschen wirkt.

Seit 2001 empfiehlt auch die WHO den Einsatz von Artemisinin in Kombination mit weiteren Wirkstoffen als Formen der "Artemisinin-basierenden Kombinations-Therapie" (ACT): Sie sind effizienter als ältere Malariabekämpfungsstrategien wie jene mit Chloroquin, Chinin und Co, gegen die mittlerweile viele Malariastämme weltweit resistent sind.

Wie und warum Artemisinin überhaupt wirkt, war Wissenschaftlern übrigens lange ein Rätsel: Man nimmt an, es greift die Blutparasiten irgendwie mit seiner chemisch auffälligen Peroxidmolekülgruppe an. Sie sorgt in Gegenwart von Eisenionen aus dem Blut für das Entstehen von hochaktiven freien Radikalen, die eine für den Parasiten tödliche Reaktion in Gang setzen – wahrscheinlich, indem sie bestimmte Pumpsysteme hemmen.

Die chemische Struktur des Naturstoffs Artemisinin ist für Medizin Segen und Fluch zugleich – sie macht die Substanz wirksam, aber auch teuer, weil der Pflanzeninhaltsstoff lange nicht simpel nachgebaut werden konnte, sondern aus echten Pflanzen mühsam isoliert werden musste. Erst in den letzten Jahren gelang es Forschern, Wege für eine großtechnische Produktion zu erfinden und die Substanz billiger zu machen. Geld verdient übrigens dennoch niemand mit dem Wirkstoff, wie das Nobelpreiskomitee anlässlich der aktuellen Bekanntgabe extra betont: Die heute massenhaft in den Fabriken eines Pharmariesen hergestellten halbsynthetischen Artemisinine stehen auf einer WHO-Liste, die den Zugang lebenswichtiger Medizin für die Ärmsten dieser Welt sicherstellen soll. Darauf geführte Wirkstoffe entstehen in einem "nicht gewinnorientierten und verlustfreien" Produktionsmodell.

Avermectine – Wirkstoffe aus dem Boden | Die Nobelpreisgewinner William Campell und Satoshi Ōmura haben erfolgreich daran gearbeitet, aus Kulturen des Bodenbakteriums Streptomyces die Substanzklasse der Avermectine zu isolieren. Eines dieser Antibiotika – das Ivermectin – bewährt sich heute als hochwirksames Medikament gegen Wurmparasiten.

Auch Artemisinin dürfte nicht die ultimative Waffe gegen Malaria sein: Es muss zum Beispiel in recht kurzen Abständen immer wieder eingenommen werden und wird aus gutem Grund nur in Kombinationspräparaten gegeben, um es der wahrscheinlich unausweichlichen Entwicklung von Resistenzen schwer zu machen. Immerhin: Bislang sind Resistenzen zumindest auf Südostasien beschränkt und fehlen in Afrika.

Erfolgreiches Ausrotten einer alten Plage

Mit diesem Problem hat Ivermectin – das Produkt der beiden anderen frischgebackenen Nobelpreisträger 2015 – derzeit noch weniger zu kämpfen: Tatsächlich ist das Wurmmittel so wirksam, dass es seine Hauptangriffsziele fast schon ausgerottet hat, die Nematodenparasiten, welche die tropischen Krankheiten Flussblindheit und Elephantiasis auslösen. Beide Krankheiten werden von Blut saugenden Insekten übertragen: Mit ihrem Stich nehmen sie Infektionsstadien aus dem Blut Erkrankter auf und geben sie beim nächsten Stich weiter. Beide Krankheiten zählt die WHO zu den so genannten vernachlässigten Krankheiten; sie kommen dort vor, wo Ärzte ebenso wie Arzneimittel Mangelware sind, und treffen vor allem arme Menschen – die sich zudem, selbst wenn ihr Immunsystem die Krankheit einmal erfolgreich bekämpft haben sollte, in ihrer Heimat ständig neu anstecken. Und auch wenn sie nicht tödlich enden, erschweren die Wurmkrankheiten das Leben vieler Betroffener, die nicht zur Schule gehen oder einer geregelten Arbeit nachgehen können.

Trotzdem gelang in den letzten Jahren ein Befreiungsschlag – möglich machte ihn das ungemein wirksame Ivermectin, für dessen Entdeckung nun William C. Campbell und der Japaner Satoshi Ōmura geehrt wurden. Der Erfolg des Medikaments beruht darauf, dass es schon bei einmaliger Einnahme gesund macht. So kann dann vor allem die sonst oft notwendige nachhaltige Betreuung unterbleiben, für die in den vernachlässigten Regionen der Erde sonst meist der lange Atem fehlt.

Malariawirkstoff aus der traditionellen Kräutermedizin | In der traditionellen chinesischen Medizin wird Beifuß gegen allerlei Gebrechen benutzt. Tatsächlich enthält die Pflanze ein wirksames Mittel, Malariaparasiten im Blut von Infizierten abzutöten, wie die Nobelpreisträgerin Youyou Tu herausfand.

Das potente Medikament Ivermectin ist eine chemische Variante des Avermectins, welches zuerst der 1935 in Japan geborene Chemiker Ōmura an der Kitasato-Universität isoliert hat, an der er bis zu seiner Emeritierung 2007 tätig war. Er hatte in den 1970er Jahren begonnen, die natürlichen biochemischen Produkte von Bodenbakterien systematisch zu untersuchen, und ein besonderes Augenmerk auf die Antibiotika produzierende Bakteriengattung Streptomyces gelegt. In langwierigen und sorgfältigen Isolationsreihen gelang es ihm schließlich, bislang unbekannte Stämme mit einem in vielerlei Hinsicht interessanten biochemischen Produktportefeuille zu trennen. Aus rund 1000 solcher Stämme wählte er dann 50 zur noch genaueren Begutachtung der Wirksamkeit ihrer Produkte gegen verschiedene schädliche Mikroorganismen aus. Einer entpuppte sich als Volltreffer: In Versuchstieren tötete das mit dem Futter gegebene Substanzgemisch des Bakteriums andere Keime.

Auf diesen Versuchen baute der 1930 geborene Campell auf, der von 1957 bis 1990 für die Pharmafirma Merck am Institute for Therapeutic Research arbeitete und dort ständig nach neuen Antibiotika suchte. Dem Parasitologen gelang es, die bioaktive Substanz des Bodenbakteriums zu isolieren: Avermectin, biochemisch ein makrozyklisches Lacton, das als neuartiges Neurotoxin Milben und Parasiten tötet. Mit chemischen Modifikationen gelang es in den folgenden Jahren nach der Entdeckung, noch wirksamere Varianten der Substanz zu produzieren – wie etwa Ivermectin, welches sich schließlich als besonders effektive Waffe entpuppte. Nur eine geschluckte Dosis reicht aus, um bestimmte nur bei Wirbellosen vorkommende Ionenkanäle zu manipulieren und die Parasiten zu töten.

Ein besseres Leben für Millionen von Armen

Die Forschungsarbeit von Tu, Campell und Ōmura und ihre Früchte – Avermectin, Ivermectin und Artemisinin – haben vielen Menschen das Leben gerettet, fasst das Nobelpreiskomitee zusammen: Mit den neuen Möglichkeiten haben sich Behandlung und Erfolgsaussichten in der Tropenmedizin drastisch verbessert. So sind etwa die Malariatodesfälle in Afrika mit Hilfe von Artemisinin um 20 Prozent zurückgegangen; bei Kindern sogar um 30 Prozent; jedes Jahr sterben etwa 100 000 Menschen weniger. Nicht zu unterschätzen ist aber auch, wie sehr das Zurückdrängen der Krankheit der gesamten Gesellschaft zugutekommt. Auch wer von Flussblindheit oder Elephantiasis geheilt ist, deshalb die Kraft findet, seinem Leben Richtung zu geben und nicht die Krankheit lange Jahre bis zu seinem Tod erleiden muss, wird an der Entscheidung des Nobelkomitees nichts auszusetzen haben.

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.