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Naturkatastrophe: Ein Vulkan schreibt Weltgeschichte

Als im April 1815 in Indonesien der Tambora ausbrach, schleuderte er so viel Asche in die Atmosphäre, dass ein Jahr später auf der gesamten Nordhalbkugel der Sommer ausfiel – mit zahlreichen Folgen.
Vulkan Tambora und Sumbawa Küste, Indonesien

Ein sonniger Nachmittag auf Stuttgarts Cannstatter Wasen, dem zweitgrößten Volksfest der Welt. Besuchergruppen flanieren durch die Gassen zwischen den Losbuden und Schießständen, den Autoscootern und grell beleuchteten Hightech-Karussells. Es riecht nach Bratwurst und gebrannten Mandeln. Und nichts lässt vermuten, dass dieses heitere, unterhaltsame Spektakel seinen Anfang in einer der größten Naturkatastrophen der Menschheitsgeschichte hatte. Einer Katastrophe, die vor 200 Jahren nicht nur Indonesien erschütterte.

Es war der 5. April 1815. In einem Hafen der indonesischen Insel Celebes (heute Sulawesi genannt) lag ein schwer bewaffnetes Segelschiff der britischen East India Company. Gegen Abend vernahm die Besatzung ein mächtiges Donnern, das an schweres Artilleriefeuer erinnerte, durchsetzt von Gewehrsalven. Der Kapitän befahl sofort eine Abteilung Marinesoldaten an Bord und segelte gefechtsklar auf die tropische See hinaus, in der Erwartung, dort auf Piraten zu stoßen – ohne Erfolg.

Es muss etwa eine Dreiviertelstunde später gewesen sein, als auch in Batavia, dem heutigen Jakarta und der damals größten Hafenstadt der Insel Java, rund 1500 Kilometer östlich von Celebes, ein dumpfes Grollen zu hören war. Weil es wie Kanonendonner klang, mutmaßte der Vizegouverneur der britischen Kolonie Sir Thomas Stamford Raffles (1781–1826), ein Schiff sei in Seenot geraten. Er schickte ein Suchboot los – doch nirgends fand sich eine Spur von Schiffbrüchigen.

Der nächste Morgen begann in Batavia (heute: Jakarta) mit einem warmen Ascheregen. Ein Vulkan war ausgebrochen – und der Lautstärke seines Donnerns nach musste er in unmittelbarer Nähe liegen. Die Bewohner rechneten mit Erdbeben, wie sie die Vulkanausbrüche der Vergangenheit immer begleitet hatten. Doch fünf bange Tage lang geschah nichts. Bis am Abend des 10. April 1815 und den ganzen darauf folgenden Tag eine Reihe gewaltiger Explosionen das gesamte 4000 Kilometer lange indonesische Archipel erschütterte. In dem Buch "Vulkane" des Time-Life-Verlags ist über die Tage danach zu lesen: "In Gresik, an der Küste von Java, das knapp 500 Kilometer vom Zentrum der Explosionen entfernt lag, erwachte ein Korrespondent von Raffles am Morgen des 12. April aus einem besonders langen Schlaf." Draußen war es noch stockdunkel, doch als er seine Uhr ins Licht einer Lampe hielt, stellte der verdutzte Mann fest, dass es schon halb neun war, zweieinhalb Stunden nach Sonnenaufgang. Um 9 Uhr war es immer noch nicht hell. "Gegen 10 Uhr", so schrieb er später an Raffles, "erblickte man einen schwachen Lichtschimmer am Himmel, und eine Stunde später begannen die Vögel zu zwitschern wie sonst im Morgengrauen." Während das Dröhnen der fernen Explosionen anhielt, setzte sich der Berichterstatter an seinen von Kerzen erhellten Frühstückstisch.

Zeitgleich in Europa

1815: Das Jahr der großen Katastrophe

26. Februar: Napoleon entkommt seiner Verbannung auf Elba.

1. April: Otto von Bismarck, der spätere erste Reichskanzler des Deutschen Reichs, kommt zur Welt († 1898).

9. Juni: Nach fast neunmonatigen Verhandlungen beschließen Vertreter aus rund 200 europäischen Ländern während des Wiener Kongresses die territoriale Neuordnung des Kontinents.

18. Juni: Schlacht bei Waterloo: Napoleon unterliegt den britisch-niederländisch-deutschen Truppen unter General Wellington.

15. Oktober: Napoleon landet auf St. Helena, seinem letzten Domizil.

1816: Das Jahr ohne Sommer

20. Februar: In Rom wird Gioachino Rossinis Oper "Der Barbier von Sevilla" uraufgeführt.

9. Mai: Die Erfindung der Fotografie: Der Franzose Joseph Nicéphore Nièpce bannt erstmals Bilder einer Kamera auf Chlorsilberpapier.

13. Dezember: Ernst Werner Siemens, der Begründer der Elektrotechnik, wird geboren.

Glühende Wolken, rasend schnell

Drei Tage lang blieb der Himmel über weiten Teilen Indonesiens dunkel. In der britischen Kolonialverwaltung in Batavia gingen Berichte ein, wonach die Insel Sumbawa, anderthalbtausend Kilometer entfernt, Zentrum der Katastrophe war. Dort hatte sich der Tambora, ein 4000 Meter hoher Vulkan, seit Menschengedenken still über den Regenwald erhoben. Doch drei Jahre zuvor war der Riese erwacht und hatte, von Beben begleitet, begonnen, Dampf- und Aschewolken auszustoßen.

Wenige Tage nach den titanischen Explosionen schickte Vizegouverneur Raffles eine Schiffsladung Reis in das Katastrophengebiet. Als sich die Seeleute Sumbawa näherten, hatten sie Mühe, die Insel wiederzuerkennen. Vom ehemals kegelförmigen Gipfel des Tambora war nur noch ein breites, zerrissenes Hochplateau geblieben. Abertausende entwurzelter Bäume und seltsame Gebilde aus Bimsstein schwammen auf dem Meer und versperrten den Weg zur Küste. Als das Schiff endlich anlegen konnte, bot sich dem Kommandanten des Seglers, Lieutenant Owen Phillips, ein apokalyptisches Bild. In den Straßen der zerstörten Dörfer lagen tausende Tote. Der Großteil der Insel war von einer 60 Zentimeter dicken Schicht aus Schlamm und Asche bedeckt, die Ernte vernichtet. Unter den Überlebenden, von denen viele vom gewaltigen Donner taub geworden waren, grassierte bald die Cholera. Wer noch gehen konnte, war auf der Suche nach den letzten essbaren Pflanzen ins Landesinnere geflüchtet. Ein vom Schrecken gezeichneter Radscha erzählte dem britischen Offizier, was geschehen war, worauf der den folgenden Bericht verfasste: "Am 10. April brachen gegen 7 Uhr abends drei getrennte Flammensäulen nahe dem Tamboragipfel hervor, alle dem Anschein nach innerhalb des Kraterrands; und nachdem jede von ihnen zu einer großen Höhe aufgestiegen war, vereinigten sich ihre oberen Enden in der Luft zu einer wild verschlungenen, unruhigen Spirale. Nach kurzer Zeit glich der ganze Berg einer Masse aus flüssigem Feuer, das sich in alle Richtungen ausbreitete."

Krater des Tambora | Der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora (hier der Blick in den heutigen Krater) war einer der schlimmsten in der Geschichte der Menschheit – und löste 1816 das Jahr ohne Sommer aus.

Geologen sprechen heute von "nuées ardentes" – brennenden Wolken – oder von pyroklastischen Strömen, wie sie auch die Bewohner der antiken Städte Pompeji und Herculaneum im Schlaf überraschten: Gemische aus glühenden Aschen und Gasen, die mehr als 800 Grad Celsius heiß sein können und sich lawinenartig ausbreiten, wie der Geophysiker Jochen Zschau berichtet. Er leitet die Abteilung Desasterforschung am Potsdamer Geoforschungszentrum: "Pyroklastische Ströme sind schneller als Formel-1-Autos. Alles, was ihnen im Weg steht, verbrennt, erstickt oder wird vergiftet. Sie sind die gefährlichsten Boten eines Vulkanausbruchs."

Der indonesische Archipel ist Teil des so genannten Ring of Fire, einer Kette von Vulkanen, die den ganzen Pazifik umschließt, von der Antarktis über die Westküsten Süd- und Nordamerikas nach Alaska und weiter über Ostsibirien, Japan und die Philippinen bis nach Neuseeland. Die Vulkane des Rings zählen zu den gefährlichsten der Welt. Denn wo der Pazifische Ozean an Landmassen stößt, treffen ozeanische Platten der Erdkruste auf kontinentale. Erstere bestehen überwiegend aus basaltischen Gesteinen. Vulkane, die sich über den Ozeanboden erheben, sind in der Regel vergleichsweise gutmütiger Natur, wie zum Beispiel die großen Schichtvulkane Hawaiis. Ihre Lava ist gasarm und dünnflüssig, weshalb im Volcanoes National Park auf Hawaiis Hauptinsel glühende Lavaströme gurgeln und plätschern wie ein Wildbach in den Alpen – ein schaurig-schönes und doch eher harmloses Schauspiel.

Schnee im Juli

Kontinentale Platten dagegen bestehen zumeist aus granitischen Gesteinen, die reich an Quarz beziehungsweise – geochemisch gesprochen – Kieselsäure sind. Entlang dem Ring of Fire schieben sich ozeanische unter kontinentale Platten. An den Reibungsflächen, die bis in eine Tiefe von 700 Kilometern reichen können, entsteht Wärme. "Das wissen wir deshalb", sagt Jochen Zschau, "weil dort nicht nur Vulkane entstehen, sondern auch Erdbeben. Und die tiefsten Erdbeben, die wir kennen, entstehen genau in dieser Tiefe."

An den Reibungsflächen kann sich Magma sammeln und nach oben drängen. Auf dem Weg zur Erdoberfläche vermischt es sich mit verflüssigtem Nachbargestein. "Und wenn dieses Material sehr kieselsäurehaltig ist, was bei der kontinentalen Kruste ja der Fall ist", erzählt Zschau, "dann wird es ein sehr zähflüssiges Magma, das nicht so leicht fließen kann wie etwa auf Hawaii. Es verstopft den Vulkanschlot." Durch den Druck wölbt sich ein so genannter Dom auf, der mehrere Meter pro Monat wachsen kann. Bis der Berg den Kräften nicht mehr standhält und explodiert.

Die Geschichte vom teuren Pferd

Hohe Haferpreise im Jahr ohne Sommer führten zur Erfindung des Fahrrads. Weil die Unterhaltungskosten für Pferde so dramatisch angestiegen waren, suchte der Mannheimer Erfinder Karl Drais nach einem preiswerten Ersatz. Ende Juli 1817 schrieb das "Badwochenblatt": "Die Hauptidee der Erfindung ist von den Schlittschuhfahrern genommen und besteht in dem einfachen Gedanken, einen Sitz auf Rädern mit den Füßen auf dem Boden fortzustoßen." Mit seinem Veloziped (von "vélocipède", französisch: Schnellfuß) hatte Karl Drais das Fahrrad erfunden. Die erste Fahrt mit seiner Laufmaschine führte ihn von Mannheim zum Schwetzinger Relaishaus: "Der Freyherr Karl von Drais, welcher nach glaubwürdigen Zeugnissen, Donnerstag den 12. Juny d. J. mit der neuesten Gattung der von ihm erfundenen Fahrmaschinen ohne Pferd von Mannheim bis an das Schwetzinger Relaishaus und wieder zurück, also 4 Poststunden Wegs in einer Stunde Zeit gefahren ist, hat mit der nemlichen Maschine den steilen, zwey Stunden betragenden Gebirgsweg von Gernsbach hieher in ungefähr einer Stunde zurückgelegt, und auch hier mehrere Kunstliebhaber von der großen Schnelligkeit dieser sehr interessanten Fahrmaschine überzeugt."

Auf Sumbawa und seinen Nachbarinseln kamen in jenem April 1815 etwa 10 000 Menschen ums Leben, erstickten, verbrannten, wurden von Lavabrocken erschlagen, von heißen Aschen verschüttet oder ertranken in mächtigen, von den Beben ausgelösten Tsunamis. Weitere 80 000 bis 100 000 Menschen starben in den Wochen danach, verhungerten, weil ihre Felder unter Aschemassen begraben waren, oder wurden von Seuchen dahingerafft.

Die Eruption des Tambora gilt als der verheerendste Ausbruch in historischer Zeit. Ein "superkolossales" Ereignis in den Worten der Fachsprache, Stärke sieben auf dem achtstufigen "Vulkanischen Explosivitäts-Index". Die Explosion des nur 1500 Kilometer westlich gelegenen Krakatau von 1883 rangiert eine Stufe darunter – und erlangte nur deshalb ungleich größere Beachtung, weil sie nach der Erfindung des Telegrafen, zu Beginn des Medienzeitalters, geschah. Die vom Tambora freigesetzte Energie entsprach sechseinhalb Millionen Hiroshima-Bomben. Berechnungen zufolge soll der Vulkan 150 Kubikkilometer Gestein in die Atmosphäre geschleudert haben. Zum Vergleich: Der Bodensee hat ein Volumen von knapp 50 Kubikkilometer. Der Ascheregen fiel auf ein Gebiet von zweieinhalb Millionen Quadratkilometer – das entspricht der siebenfachen Fläche Deutschlands. Als genüge das alles nicht, breiteten sich, mit den Winden treibend, Gase und feinste Partikel über die ganze Erde aus.

In weiten Teilen Europas beginnt deshalb der Frühling des Jahres 1816 mit unheilvollen Wetterkapriolen. In Ungarn fällt aus schweren Gewittern rotbrauner Schnee. Aus Süditalien wird von gelben Flocken berichtet. Im südlichen Deutschland überschwemmt sintflutartiger Regen im März die Felder. Ende April können die besorgten Bauern endlich ihr Land bestellen, doch bald darauf folgt ein Wintereinbruch, der so hart ist, dass sogar Brunnen gefrieren. Ende Juni noch stehen die Saaten kaum knöchelhoch. Am 10. Juli verheert schwerer Hagel die spärlich sprießenden Feldfrüchte, und am 31. Juli schneit es auf der Schwäbischen Alb. Ein Gedenktaler erinnert in düsteren Worten an diese Zeit, die als "Jahr ohne Sommer" in die Geschichte einging: "Der kalte Regen erzeugte das Schröcklichste, was die Menschen treffen kann, einen allgemeinen Miswachs, und den von ihm entspringenden Brodmangel. Aller Orten drangen die Menschen ungestüm vor die Wohnungen der Bäcker, und jeder neue Morgen weckte zu jammervollen Klagen."

Die Missernte trifft die Menschen zu einer denkbar ungünstigen Zeit: Viele Regionen Europas sind nach den gerade zu Ende gegangenen Napoleonischen Kriegen verwüstet, die Landwirtschaft liegt danieder, die Vorräte sind verbraucht, Krüppel und Arbeitslose ziehen umher, betteln oder stehlen sich das Nötigste zusammen, die Landbevölkerung wird durch Frondienste und Abgaben zusätzlich gedrückt. Auf dem Land geht der Hunger um, erzählt Hermann Eiselen vom Museum der Brotkultur in Ulm: "bis auch die Städte schlechter versorgt werden konnten".

Schuld war der Blitzableiter

Und das wiederum führte zu einer erheblichen Teuerung aller Nahrungsmittel. Die Statistiken sagen, dass die Preise für Brot, Fleisch, Wein und vieles andere im Jahr 1816/17 innerhalb weniger Monate um das Drei- bis Vierfache stiegen. Viele konnten sich Nahrungsmittel nicht mehr leisten. Von Sizilien bis Schottland zogen Zehntausende hungernder Menschen umher und bettelten um Brot. In ihrer Verzweiflung schlachteten sie Pferde, Hunde und Katzen, brieten Ratten und verschmähten nicht einmal Aas. Hungernde versuchten, sich aus den Wäldern zu ernähren, sammelten Gras, Klee, Moos und Wurzeln, verkochten Brennnesseln und Vogelbeeren zu Gemüse. Aufklärungsschriften wurden verbreitet, die helfen sollten, essbare Wildpflanzen von giftigen zu unterscheiden. Um wenigstens irgendetwas in den Magen zu kriegen, rührten die Menschen in den Brotteig Reste von Mehl, Heublumen, gemahlenes Stroh und gemahlene Rinde. "Im Museum der Brotkultur in Ulm kann man ein kleines Heftchen aus dem Jahr 1834 sehen, von einem Mann namens Authenried", erzählt Hermann Eiselen. Es ist in Tübingen erschienen und hat den Titel "Gründliche Anleitung zur Brotzubereitung aus Holz".

Nach Schätzungen eines Ernährungswissenschaftlers der Tufts University im US-Bundesstaat Massachusetts starben allein in Europa Hunderttausende von Menschen. Die genaue Zahl wird man wohl nie kennen: "Unterernährung wird in historischen Quellen selten als Todesursache angegeben", erzählt Hermann Eiselen. "Hungernde Menschen sind so geschwächt, dass sie schließlich an Infektionen sterben." Die Statistiken des Königreichs Württemberg vermeldeten, dass die Sterblichkeit steil anstieg und die Zahl der Geburten deutlich zurückging. "Zwischen 1815 und 1820 haben wir in der Bevölkerungsentwicklung einen deutlichen Einbruch", so Eiselen, "wie nach einem Krieg." Ähnlich wie in den armen Ländern unserer Zeit waren es damals Durchfall, Auszehrung, Typhus, Skorbut und Dutzende andere Krankheiten, denen die hungernden und ausgemergelten Menschen zum Opfer fielen. Viele starben noch Jahre später an Tuberkulose, die sich in ihren geschwächten Körpern eingenistet hatte.

Als die Not im Winter 1816/17 am ärgsten war, wurden an vielen Orten täglich die Glocken geläutet und Bittgottesdienste abgehalten: "Vater unser, der Du bist im Himmel, unser täglich Brot gib uns heute..." In pietistischer Weise vermuteten manche ein göttliches Strafgericht. Offenbar hatten zu viele Menschen kein gottgefälliges Leben geführt. Den wahren Grund, den Vulkanausbruch auf der anderen Seite der Erdkugel, kannte niemand.

Nicht einmal die Naturforscher jener Zeit begriffen die Ursache. Einige führten den kalten, nassen Sommer auf Sonnenflecken zurück oder auf das Vordringen arktischen Eises im Nordatlantik, von dem Seeleute berichteten. Andere meinten, Benjamin Franklin, der vielseitig begabte Mitverfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, sei an allem schuld. Durch seine Erfindung des Blitzableiters habe sich die Erde in ihrem Inneren elektrisch aufgeheizt, wodurch ihr natürlicher Wärmefluss gestört worden sei. Dabei war der gescholtene Franklin schon Jahrzehnte früher auf der richtigen Spur. Er hatte den ebenfalls ungewöhnlich harten Winter 1784 auf einen "trockenen Nebel" zurückgeführt, ausgelöst von Ausbrüchen eines japanischen und eines isländischen Vulkans.

Die Cholera erobert die Welt

Obwohl die Zusammenhänge auch 200 Jahre später noch nicht vollständig verstanden sind, wissen wir, dass Vulkanausbrüche das Wetter beeinflussen. Durch die titanische Explosion des Tambora wurden riesige Mengen schwefliger Gase bis in eine Höhe von rund 70 Kilometern geschleudert. Dort bildeten sie zusammen mit dem Wasserdampf Schleier winziger Schwefelsäuretröpfchen. Diese so genannten Aerosole verteilten sich mit den Winden in nur wenigen Wochen um die ganze Erde. "Sie streuten die Sonnenstrahlung und ließen sie nicht mehr durchdringen. Die Folge: An der Erdoberfläche wurde es kälter", erklärt Jochen Zschau.

Die Aerosolschleier des Tambora, so errechneten Geowissenschaftler, haben die Durchschnittstemperaturen weltweit um ein bis zwei Grad Celsius absinken lassen – in einigen Regionen sogar um bis zu fünf Grad. Einige Forscher spekulieren, dass Vulkanausbrüche dieser Größenordnung auch El Niños auslösen können – Unregelmäßigkeiten in der Verteilung warmer und kalter Strömungen im Pazifik. Sie stellen das Wetter in vielen Weltregionen auf den Kopf, können zum Beispiel Dürren in Australien und Indonesien auslösen, Taifune auf Tahiti oder Wolkenbrüche in den Wüsten Chiles und Perus.

Die verheerendsten Vulkanausbrüche

1783, Laki (Island): Weil die an sich harmlose Eruption das Ackerland zerstört, sterben über 9000 Menschen den Hungertod.

1792, Unzen (Japan): Rund 15 000 Menschen sterben in der Glutwolke oder kommen in den Fluten des durch Erdbeben ausgelösten Tsunamis ums Leben.

1815, Tambora (Indonesien): Etwa 10 000 Bewohner ersticken, verbrennen oder werden erschlagen. Die folgende Hungersnot fordert in Indonesien mehr als 80 000 Menschenleben. Über die weltweite Zahl der Opfer gibt es keine Angaben.

1883, Krakatau (Indonesien): Bei dem Ausbruch wird beinahe der ganze Vulkan in die Luft gesprengt. Mehr als 36 000 Menschen ertrinken in einem über 30 Meter hohen Tsunami.

1902, Mont Pelée (Martinique): Eine Glutwolke tötet fast alle der rund 30 000 Bewohner von Saint-Pierre. Nur drei Menschen überleben: ein kleines Mädchen, ein Schuster und ein Gefängnisinsasse.

1985, Nevada del Ruiz (Kolumbien): Weil Schnee und Eis am Gipfel des Vulkans schmelzen, wälzt sich ein mächtiger Schlammstrom ins Tal – und begräbt 25 000 Menschen unter sich.

Rund 350 aktive Vulkane zählen Geowissenschaftler derzeit auf der Erde. Jedes Jahr brechen etwa 50 von ihnen aus. Mindestens eine halbe Milliarde Menschen, so schätzen Forscher, sind heute direkt oder indirekt durch Vulkaneruptionen bedroht, was vor allem an der rasch zunehmenden Weltbevölkerung liegt und an den immer weiter wachsenden Megastädten, etwa entlang dem zirkumpazifischen Ring of Fire. Dort sind am Übergang von ozeanischen zu kontinentalen Platten der Erdkruste viele Hochrisiko-Vulkane zu finden. Die klimatischen Folgen vulkanischer Explosionen kommen übrigens dem Szenario vom nuklearen Winter nahe. In den 1980er Jahren, auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs, sagten Klimatologen für die Zeit nach einem Atomkrieg ähnliche Staub- und Gasmengen in der Atmosphäre voraus – mit verheerenden Folgen für das Wetter.

Auch 1816 war die ganze Welt betroffen: An der Ostküste Kanadas und der noch jungen USA gab es praktisch keinen Frühling. Mitten im Hochsommer vernichteten Kaltlufteinbrüche, die Frost und Schnee brachten, die Ernten. Frisch geschorene Schafe erfroren selbst im Schutz der Ställe, und Tausende von Vögeln fielen tot von den Bäumen. So groß waren Hunger und Not bald unter den Farmern, Handwerkern und Tagelöhnern Nordamerikas, dass einige Historiker davon ausgehen, das Hungerjahr 1816/17 sei einer der Auslöser des ersten großen Siedlertrecks der Vereinigten Staaten gewesen: über die Gebirge der Appalachen in den Mittleren Westen.

Damit nicht genug: Nach dem Tambora-Ausbruch wurde China von verheerenden Hochwassern heimgesucht. Tausende Menschen starben. In Indien stockte der Regen bringende Monsun, in weiten Regionen verdorrten die Felder, zahllose Menschen verließen ihre Heimat. Manche Forscher vermuten, dass durch die Wanderströme vor allem im Norden Indiens eine weltweite Choleraepidemie ausgelöst wurde. Vor dieser Zeit war die Seuche im Wesentlichen auf die Pilgerstraßen hinduistischer Mönche im Gangestal beschränkt gewesen. Jetzt trugen vom Hunger Vertriebene den Erreger bis ins regenreichere Bengalen. Von dort gelangte das Bakterium Vibrio cholera mit britischen Truppen nach Nepal und Afghanistan. Nachdem die meist tödlich verlaufende Infektionskrankheit auch am Kaspischen Meer auftrat, breitete sie sich die Wolga hinauf bis ins Baltikum aus – und über die muslimischen Pilgerwege Richtung Mekka bis in den Mittleren Osten. Als die erste Cholerawelle im Sommer 1832 schließlich New York erreichte und die Bewohner der Metropole in Panik aufs Land flohen, ahnte niemand, dass auch diese Epidemie eine mittelbare Folge des Vulkanausbruchs im fernen Indonesien war.

Der Staat erkennt seine Pflicht

Von vielen europäischen Landesherren wurde die Not – in der Arroganz absolutistischer Macht – hingenommen. Der schweizerisch-französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) hatte sogar argumentiert, es sei im Interesse der Bevölkerungskontrolle eine gute Sache, wenn immer wieder mal eine größere Anzahl Menschen sterbe. Auch König Friedrich I. von Württemberg spielte Hunger und Elend in seinem Königreich monatelang herunter und frönte stattdessen seiner Jagdleidenschaft. Zum Glück für die Untertanen starb der Monarch Ende Oktober 1816. Sein Sohn und Thronfolger Wilhelm I. reagierte, zusammen mit seiner Frau, der russischen Großfürstin Katharina, schon wenige Tage nach seiner Thronbesteigung: "Sie sorgten erstens dafür, dass kein Getreide ausgeführt wurde, und zweitens, dass Korn aus Russland ins Land kam", erläutert Hermann Eiselen. "Außerdem ließen sie die Vorräte aus den obrigkeitlichen Lagerhäusern an die Bevölkerung verteilen." Und das war nur das Allernötigste. Im Jahr 1818 ließ Wilhelm I. in Schloss Hohenheim eine landwirtschaftliche Akademie einrichten, "um die Bauern zu unterrichten, wie sie wirtschaften sollen, um nach Möglichkeit zu vermeiden, dass sich eine so verheerende Hungersnot wiederholt".

Die Geschichte vom verregneten Urlaub

Im Jahr ohne Sommer, 1816, war das Wetter in England noch schlimmer als sonst, so dass die 18-jährige Mary Shelley und ihr Gatte Percy Erholung am Genfer See suchten. Doch fielen sie vom Regen in die Traufe und konnten das Haus ihres Freundes Lord Byron kaum verlassen. Um seine Gäste bei Laune zu halten, schlug der Lord vor, jeder solle eine Geistergeschichte schreiben. "Ich gab mir viel Mühe", notierte Percy Shelley, "mir eine Geschichte auszudenken, die die widrigen Umstände widerspiegelte. Eine, die die geheimen Ängste in unserem Innern ansprechen und wirklichen Horror in uns wachrufen würde." In jenem verregneten Urlaub 1816 begann Percy Shelley sein Drama "Prometheus Unbound" – und seine Ehefrau ihren Roman, der sie unsterblich machen sollte: "Frankenstein or The Modern Prometheus".

Nach der bereits erwähnten Studie der Tufts University wurden in den Hungerjahren 1816/17 tatsächlich die Fundamente moderner Katastrophenhilfe geschaffen. Die Einsichten, dass der gemeine Mann in Notzeiten Hilfe verdient, dass auch Regierungen Naturkatastrophen mit staatlichen Programmen begegnen können, dass das Recht auf Nahrung ein Grundrecht ist, begannen sich durchzusetzen. Allerdings durchaus nicht nur aus Mitgefühl: Die Mächtigen sorgte auch, ihre hungrigen und verzweifelten Untertanen könnten sich zusammenrotten und Aufstände planen. Die Französische Revolution von 1789 war noch in allzu guter Erinnerung.

Ein sonniger Nachmittag auf Stuttgarts Cannstatter Wasen, dem zweitgrößten Volksfest der Welt: Nichts lässt heute vermuten, dass dieses heitere Spektakel seinen Ursprung im verheerendsten Vulkanausbruch der Geschichte im fernen Indonesien hat. Und doch wurde auch der Wasen 1818 als direkte Reaktion auf die Hungersnot ins Leben gerufen. Im Sommer zuvor erst waren, nach langem Darben, die ersten, wieder schwer beladenen Erntewagen in die Stadt gerollt, von weinenden, jubelnden Menschen begrüßt. Das "Landwirthschaftliche Fest zu Kannstadt", wie es damals hieß, eine frühe Leistungsschau und Agrarmesse, sollte die Bauern des Königreichs von nun an zu modernen Methoden in Ackerbau und Viehzucht anspornen. Es sollte dazu beitragen, zukünftige Heimsuchungen zu vermeiden.

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