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Naturschutz im Oderdelta: »Eine europaweit einzigartige Vielfalt«

Ulrich Stöcker von der Deutschen Umwelthilfe ist Projektleiter der Rewilding-Region »Oderdelta« an der Ostseeküste. Das Gebiet zeichnet sich durch einen besonderen Artenreichtum aus. Ein Interview über Naturschutz, Herausforderungen und spektakuläre Safaris.
Koniks im Oderdelta

Die niederländische Stiftung Rewilding Europe wurde im Jahr 2011 mit dem ehrgeizigen Ziel gegründet, innerhalb von zehn Jahren in zehn Modellregionen Europas eine Million Hektar Land wieder naturnaher zu gestalten. Dort, wo es sinnvoll ist, möchten die Verantwortlichen ausgerottete Tierarten wieder ansiedeln oder Wildnisgebiete schaffen.

Eine zentrale Rolle spielt dabei der Naturtourismus. Das Programm unterstützt kleine Pensionen vor Ort oder hilft bei der Entwicklung von Safaritouren und attraktiven Wanderrouten. Die Überlegung dahinter ist einfach: Die Menschen vor Ort lassen sich viel eher für eine naturnahe Entwicklung begeistern, wenn sie sehen, dass dadurch neue Arbeitsplätze entstehen.

Acht Rewilding-Regionen gibt es bereits, darunter so spektakuläre Landschaften wie das Donaudelta oder Lappland. Das Oderdelta an der Ostseeküste zwischen Polen und Deutschland, auch Stettiner Haff genannt, gehört ebenfalls zu diesem illustren Kreis. Es beherbergt eine Lebensraumvielfalt, wie sie derart in Mitteleuropa kaum noch zu finden ist.

Ulrich Stöcker | Ulrich Stöcker hat 18 Jahre lang als Jurist im Brandenburger Umweltministerium gearbeitet. 2009 wechselte er zur Deutschen Umwelthilfe und leitet dort den Bereich Naturschutz. Sein Schwerpunkt ist das Thema Wildnisentwicklung. Seit 2015 ist er Projektleiter im deutschen Teil der Rewilding-Region Oderdelta.

Herr Stöcker, seit wann gibt es die Rewilding-Region »Oderdelta«?

Offiziell seit dem Jahr 2015. Die Planungen laufen bereits etwas länger. Im Jahr 2012 kam die Anfrage von Rewilding Europe, ob ich nicht ein Gebiet wüsste, wo der Rewilding-Ansatz in Deutschland umgesetzt werden könnte. Die hatten zuerst an das Wattenmeer gedacht. Ich habe dort keine Potenziale gesehen und stattdessen die Region um das Stettiner Haff vorgeschlagen.

Was hat die Gegend zu bieten, was dem Weltnaturerbe Wattenmeer fehlt?

Rund ums Haff gibt es noch sehr viel mehr naturnahe Potenziale. Die Wattregion ist auf der Landseite im Wesentlichen eine Kulturlandschaft, mit sehr starker kultureller Prägung auf die Landwirtschaft.

Und was macht die Natur rund um das Haff so besonders?

Gerade bei den Säugetieren gibt es hier eine europaweit einzigartige Vielfalt: Kegelrobben wandern von selbst wieder in das Gebiet ein, es gibt Wölfe, Elche, Biber, Fischotter, Hirsche, und auf polnischer Seite sind Wisente schon bis an die Oder gekommen. Mehrere große frei lebende Herden leben nur 60 Kilometer von Stettin entfernt. Von dort machen sich immer wieder einzelne Jungbullen auf den Weg nach Westen, so dass es nur eine Frage der Zeit ist, wann es einer bis nach Deutschland schafft. Wir haben EU-weit die höchste Seeadlerdichte, und in den Gewässern findet man Störe, Lachse und Meerforellen.

Oderdelta | An der Ostseeküste an der Grenze zu Polen befindet sich das Oderdelta. Es bietet einzigartige Naturlandschaft mit einer spektakulären Artenvielfalt. Deshalb wurde es von der Naturschutzstiftung Rewilding Europe als eine von zehn Modellregionen ausgewählt.

Und wie entwickelt man so ein Gebiet zur Rewilding-Region?

Zunächst einmal sucht Rewilding Europe Gebiete aus, in denen es bereits eine gewisse Naturnähe gibt – und viele engagierte Akteure und Initiativen, die sich dafür einsetzen. Rund ums Haff ist in den letzten Jahrzehnten in dieser Richtung schon sehr viel passiert. Wir haben mehr als 200 000 Hektar nach europäischem Naturschutzrecht Natura 2000 geschützte Gebiete und mehr als 30 000 Hektar an Wildnisflächen allein auf dem Land auf beiden Seiten der Grenze. Die Auswahl eines Gebiets ist also schon eine Art Anerkennung oder Zertifikat für die Bewohner und die Natur. Im zweiten Schritt wird dann geschaut, welche Ideen die Menschen vor Ort für die Entwicklung ihrer Region haben und wie wir diese durch Rewilding Europe unterstützen können. Wir glauben, dass große Chancen für die Region im Naturtourismus liegen – vor allem abseits der Küste. An der Küste gibt es bereits einen ausgeprägten Sommertourismus, aber auf der Landseite liegen die Potenziale noch weitgehend brach. Deshalb versuchen wir unter anderem, neue Angebote im Naturtourismus zu entwickeln oder zu fördern.

Zum Beispiel?

Wir haben gerade ein Projekt abgeschlossen, da geht es um lokale Naturführer, die den Gästen die Region näherbringen sollen. Wir haben ein Handbuch entwickelt, das jedem beim Start in dieses Berufsfeld hilft. Darin geht es nicht nur um naturfachliche, sondern auch um wirtschaftliche Dinge: Wie spreche ich die Leute an? Was muss ich buchungstechnisch machen und wie muss ich mich betriebswirtschaftlich aufstellen, damit ich daraus ein Einkommen generieren kann? Das ganze Projekt sehe ich schon als nachhaltige Regionalentwicklung.

Biber im Oderdelta | Neben vielen anderen Tierarten leben im Oderdelta Biber. Ihre mitunter imposanten Bauten lassen sich etwa während einer Kanutour aufspüren.

Welche Angebote für Touristen gibt es bereits?

Es gibt etwa schon Führungen zu einzelnen Arten, die wir mit unterstützen: Vom Boot aus kann man die Seeadler auf dem Haff oder die Biber auf der Peene beobachten. Auch Touren zu Wisenten, Kranichen, Kegelrobben und Lachsen können schon gebucht werden.

Zurück zum Anliegen des Programms: Haben Sie eine griffige Übersetzung für den Begriff Rewilding?

Eine direkte Übersetzung ist schwierig. Ums Auswildern geht es jedenfalls nicht. Das ist ein gängiges Missverständnis, weil das in anderen Rewilding-Gebieten durchaus gemacht wird. Bei uns sind die Tiere von allein zurückgekommen, das ist schon einmal ein ganz, ganz großer Vorteil. »Zurück zur Natur« trifft es auch nicht, denn wir wollen kein riesiges Wildnisgebiet aus der Region machen.

Was dann?

Am besten, man stellt sich eine Wildnisskala mit ganz vielen Abschnitten vor. Wir wollen insbesondere Flächeneigentümer und Landnutzer davon überzeugen, den Regler in vielen Bereichen ein bisschen weiter in Richtung Wildnis zu verschieben, wo nicht alles vom Menschen beeinflusst wird, sondern an manchen Stellen Natur auch Natur sein kann. Ganz wichtig ist dabei, dass die Menschen in der Region sich mit diesem Ansatz identifizieren können, dass eine Attraktivität von ihm ausgeht, zum Beispiel, weil die Region davon profitiert.

Wenn die Leute sehen, dass mehr Touristen in die Region kommen, wenn die Natur attraktiver ist, dann hilft das bestimmt bei der Identifikation.

Seeadler | Seeadler auf Beutefang im Oderdelta.

Genau. Ein schönes Beispiel dazu ist der Anklamer Stadtbruch. Der hat sich in den 1990er Jahren nach einem Deichbruch zu einem Feuchtgebiet mit großartigem Vogelreichtum entwickelt. Im Februar 2017 haben wir dort drei verschiedene Schwanenarten, sieben Gänsearten, acht Entenarten, dazu viele Wattvögel und Seeadler gezählt. Es gibt viele Menschen, die weit reisen, um sich so etwas anzugucken. Auch die Untere Peene entwickelt sich sehr gut. In den vergangenen Jahren sind eine ganze Reihe von Pensionen und Ferienwohnungen mit unterschiedlichem Standard entstanden – mit einer guten Auslastung über das ganze Jahr. Dort ist es also gelungen, in einer sehr landwirtschaftlich geprägten Gegend mit dem Naturtourismus die ersten Pflöcke einzuschlagen.

Wie wird die Rewilding-Region finanziert?

Besonders viel Geld fließt nicht. Rewilding Europe zahlt derzeit 24 000 Euro pro Jahr für alle Beteiligten. Am Stettiner Haff ist das eine Art Koalition, unter anderem von der Deutschen Umwelthilfe, der NABU-Stiftung »Nationales Naturerbe«, dem Unternehmer-Netzwerk Haff, Oder, Peene (HOP) und unseren polnischen Partnern wie der Stepnica-Tourismusorganisation. Das Geld hilft dabei, die verschiedenen Akteure im Gebiet noch besser zu koordinieren und zu vernetzen. Momentan arbeiten acht Personen in Deutschland und Polen an dem Projekt, alle in Teilzeit. Rechnet man die offiziellen Arbeitsstunden zusammen, kommt man in etwa auf zwei volle Stellen. Die tatsächliche Arbeitszeit ist aber deutlich höher.

Bekommen Sie von Rewilding Europe zusätzliche Geldmittel zum Ankauf von Flächen?

Nein. Der Ankauf von Flächen etwa für die Entwicklung zusätzlicher Wildnisgebiete ist nicht geplant. Da gibt es ja auch schon viele. Unser Ansatz ist ein anderer. Wir suchen das Gespräch mit Flächeneigentümern und schauen dann, ob eine Kooperation möglich ist. Zum Beispiel, ob auf den Flächen Fotozelte aufgestellt werden können, um Kraniche oder die Hirschbrunft zu beobachten. Oder ob ein Naturführer eine Besuchergruppe über die Flächen führen darf. Geld fließt zurzeit noch nicht, aber der Landwirt hat trotzdem etwas davon, weil er vielleicht in seinem Hofladen Produkte an die Touristen verkauft oder ein paar Pensionszimmer anbietet.

Es lässt sich also auch ohne viel Geld etwas für die Region erreichen?

Ich denke schon! Wir versuchen einen Bewusstseinswandel herbeizuführen, ein besseres Verständnis für den Wert der eigenen Natur. Was meinen Sie, wie uns die Leute angesehen haben, als wir denen erzählt haben, dass Leute aus den Niederlanden oder Großbritannien extra anreisen, um die Vögel hier vor der Haustür zu beobachten. Das haben die nicht für möglich gehalten, bis diese Leute dann da waren. Wir wollen erreichen, dass noch mehr Besucher wegen der Natur in die Region kommen. Und dass sie dann nicht nur die Straßen für ein, zwei Stunden zuparken und wieder fahren, sondern dass sie sich in den Dorfkrug setzen, für ein paar Tage eine Ferienwohnung mieten. Und einen Führer buchen, der ihnen die Natur wirklich nahebringen kann. Dafür muss man die Natur in ihrer Schönheit bewahren. Konkret ist es in der Region zum Beispiel gelungen, umweltschädliche Großinvestitionen zu verhindern, etwa großflächige Entwässerungen und große Windparks in ökologisch sensiblen Gebieten oder eine Autobahn, die auf polnischer Seite mitten durch das Areal führen sollte.

Rewilding Europe plant zehn Modellregionen auf dem ganzen Kontinent, darunter so eindrucksvolle Landschaften wie das Donaudelta oder Lappland. Kann das Oderdelta in dieser Liga überhaupt mithalten?

Das Donaudelta oder auch die Camargue sind zum Teil Vorbild für uns, gerade in Sachen Naturnähe und Beliebtheit bei Bewohnern und Touristen. Umgekehrt merken wir aber auch, wie groß die Wertschätzung der Partner für unsere Region ist, zum Beispiel im Donaudelta. Wir haben bei den Säugetieren den besten Bestand an natürlicher heimischer Fauna. Elche, Wölfe, Biber, Fischotter, Rehe, Wildschweine, Kegelrobben, alles da, und sogar Wisentherden in unmittelbarer Nähe. Im Donaudelta wird der Biber wieder angesiedelt, bei uns ist er fast überall vertreten. Im Herbst kann man hier spektakulär die Hirschbrunft beobachten. Das alles ist europaweit schon etwas ganz Besonderes.

Wisent | Der Wisent ist eine Rinderart. Im Oderdelta ziehen mehrere Herden dieser europäischen Art des amerikanischen Bisons vollkommen frei durch die Wälder und Ebenen Westpommerns.

Was wollen Sie in den kommenden Jahren erreichen?

Die gemeinsame Arbeitsplanung mit unseren polnischen Partnern geht zunächst bis Ende 2020. Wir wollen uns aber deutlich länger in der Region engagieren. Konkret geht es darum, noch mehr buchbare Angebote im Bereich Naturtourismus zu entwickeln und daran zu arbeiten, dass noch mehr Natur- und Landschaftsführer an den Start gehen. Die polnische Seite hat großes Interesse an dem Projekt und will es uns nachmachen. Im polnischen Ort Kopice ist bereits ein kleines Besucherzentrum entstanden.

In anderen Rewilding-Regionen werden große, attraktive Tiere wie Koniks oder Taurusrinder, eine Nachzüchtung des Auerochsen, ausgesetzt. Ist das am Stettiner Haff auch geplant?

Koniks im Oderdelta | Das Konik ist eine robuste Ponyrasse. In der so genannten Rewilding-Region Oderdelta leben zahlreiche Exemplare davon.

Auf der polnischen Haffseite gibt es eine größere Konik-Herde, die mehrere hundert Hektar beweidet, allerdings halbwild und eingezäunt. Dort wurden von den Landwirten auch schottische Hochlandrinder eingesetzt, und es gibt Überlegungen, diese durch Taurusrinder zu ersetzen. Auch hier gilt das Prinzip der Freiwilligkeit. Wenn sich auf deutscher Seite ein Landwirt findet, der seine Wiesen von Taurusrindern beweiden lassen will, dann werden wir das natürlich unterstützen. Das Ganze wäre einfacher, wenn die Subventionen für Landwirte anders gestrickt wären. Diese bekommen Subventionen für das Abmähen großer Flächen. Warum nicht stattdessen für die Beweidung mit Koniks oder Taurusrindern? Das versuchen wir auch zu beeinflussen.

Was würden Sie machen, wenn Sie plötzlich ganz viel Geld für das Projekt zur Verfügung hätten?

Ich würde in noch mehr Gespräche vor Ort vor allem mit den Landnutzern investieren. Wir können das Projekt nur umsetzen, wenn wir die Bevölkerung davon überzeugen. Das geht nur mit Gesprächen. Deshalb wäre es auch wünschenswert, stärker vor Ort präsent zu sein. Außer einem kleinen Büro in Wolgast wird immer noch ein Großteil der Rewilding-Arbeit auf deutscher Seite von Berlin aus organisiert.

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