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Mikrobiom: Eine Welt voller Bakterien

Alle Mikroorganismen der Welt verzeichnet in einem großen Katalog: warum drei Wissenschaftler sich einer schier unlösbaren Aufgabe verschrieben haben.
Bakterienvielfalt

"Angenommen Sie hätten unbegrenzte Mittel – wie würden Sie eine Studie durchführen, um ein bis zwei Billionen Arten zu bestimmen?" Diese Frage stellte Professor Jack Gilbert von der University of Chicago bei einer Konferenz über Mikroorganismen. "Von 30 oder 40 Teilnehmern zeigten zwei massives Interesse", erzählt Gilbert. Das waren Professor Rob Knight von der University of California in San Diego und Janet Jansson vom Pacific Northwest National Laboratory in Richland. Zusammen verfolgen die drei seither das Earth Microbiome Project – und den Anspruch, sämtliche Mikroorganismen des Planeten zu katalogisieren.

Ursprünglich war Gilbert Experte für Schmetterlinge. Zu den Kleinstlebewesen ist er durch Eiscreme gekommen. Im Jahr 2004 beauftragte ihn ein Großunternehmen, in der Antarktis an Antifrost-Proteinen zu forschen, um weicheres Speiseeis herzustellen – und diese Proteine befanden sich in Bakterien. Ab hier nahm Gilberts Lebenslauf eine unvorhergesehene Wendung: "Ich sah die Vielfalt der Bakterien in den Seen, und sie war einfach faszinierend", erinnert sich der Wissenschaftler.

Also wurde er Doktor der Mikrobiologie und widmete sich seitdem den Kleinstlebewesen – ob denen unter der Schuhsohle oder denen im Darm frisch operierter Patienten. An seiner Universität in Chicago wirkt er als Associate Professor in der Abteilung für Ökologie und Evolution und an der Abteilung für Chirurgie. Parallel übt er noch zwei weitere Ämter aus. Doch sein jüngstes Projekt sieht er als bahnbrechend für die Wissenschaft an – ja für die Menschheit. Dabei macht eine weltweit angelegte Studie über Mikroorganismen auf den ersten Blick den Eindruck absoluter Sinnlosigkeit.

Dies ist der erste Teil unserer Serie über "Die letzten weißen Flecken" der Erde.
  1. Der Mikrokosmos als Maximalprojekt
  1. Die Tiefsee
  1. Der Regenwald
Die weiteren Teile folgen in den nächsten Wochen.

Denn die kleinen Lebewesen stecken überall: Sie tummeln sich auf der Tastatur des Rechners, im Darm, in Mund und Nase. Sie leben in der Tiefsee, im Eis der Polarregionen, auf und in Pflanzen, Tieren, Steinen und sogar in der Luft. Noch immer sind nicht einmal alle Organismen bekannt, die den menschlichen Körper besiedeln. Und auf einem Teelöffel Erde können 100 000 Bakterien Platz finden – die restlichen Mikroorganismen nicht mitgerechnet.

Zu den unglaublichsten Dingen fähig

Tatsächlich ist der Ausdruck Mikroorganismen – oder auch Mikroben – ein Sammelbegriff, der sämtliche Lebewesen umfasst, die nicht mit bloßem Auge erkennbar sind. Dazu zählen diverse Pilze, Algen und Protozoen, doch vor allem Bakterien und Archaeen. Letztere sind Einzeller, die sich durch einige Merkmale von den Bakterien unterscheiden und im System der Lebewesen eine eigene Domäne bilden. Wenn Wissenschaftler umgangssprachlich von Bakterien reden, rechnen sie Archaeen oft stillschweigend hinzu, und so hält es auch Gilbert. Nur selten werden auch Viren den Mikroorganismen zugeordnet, denn generell gelten diese als Grenzfall des Lebens: Sie haben keinen Stoffwechsel und können sich nicht eigenständig vermehren. Zusammengefasst könnte man sagen, das Untersuchungsobjekt von Gilbert und seinen Kollegen ist winzig, lebendig, allgegenwärtig und hat meist nicht einmal einen Zellkern.

Agarplatte mit Bewuchs | Bakterien lassen sich rein äußerlich unterscheiden und verschiedenen Familien zuordnen. Genauere Ergebnisse liefern jedoch Genuntersuchungen – insbesondere der ribosomalen RNA. Deren Abschnitt 16S erlaubt es, sämtliche Bakterien einer Probe taxonomisch einzuordnen.

"Natürlich ist es unmöglich, aber das sollte uns nicht abschrecken", erklärt Gilbert. Er beschreibt Bakterien als essenziell wichtig für sämtliches Leben auf der Erde: "Es sind fantastische Organismen, die zu den unglaublichsten Dingen fähig sind. Sie sind die kleinsten Lebewesen und haben doch den größten Einfluss auf unserem Planeten." Bakterien formen unser Immunsystem. Sie recyceln Nährstoffe und machen sie verfügbar für Pflanzen. Sie sind verantwortlich für den Stoffwechsel aller Lebewesen mit Zellkern und sogar für die Fotosynthese – denn Mitochondrien und Chloroplasten stammen wahrscheinlich von Bakterien ab. "Ohne Bakterien", fasst Gilbert zusammen, "hätten wir einen toten Planeten."

Das vorläufige Ziel des Projekts ist die Untersuchung von 200 000 Proben, die aus möglichst vielen unterschiedlichen Winkeln der Erde stammen sollen. Das funktioniert trotz Fördergeldern nur durch die Unterstützung zahlreicher Freiwilliger. "Wir bitten Forscher aller Disziplinen: Wenn ihr irgendwo eine Probe nehmt, zwackt ein bisschen ab und schickt es uns." Neben Mikrobiologen sind Tierphysiologen, Chemiker, Ingenieure, Architekten oder Chirurgen dem Ruf bereits nachgekommen und senden Abstriche, Schläuche mit Erde, Luft- oder Wasserfilter. Und zahlreiche Universitäten und sogar Privatleute stellen für die immensen Rechenleistungen des Projekts ihre Server zur Verfügung.

Die aus aller Welt eingesandten Proben werden bestimmten Biomen zugeordnet – das sind Lebensgemeinschaften von Pflanzen und Tieren wie beispielsweise der tropische Regenwald. So soll herausgefunden werden, wo auf der Welt bestimmte Mikroorganismen und auch Mikrobiome gefunden werden können. Ein Mikrobiom ist eine Gesellschaft von Mikroorganismen auf einer viel kleineren Fläche, etwa dem menschlichen Körper. Wie Pflanzen und Tiere können auch Mikroorganismen miteinander in Wechselwirkung treten. Beispielsweise ernährt sich die eine Art von der anderen, oder beide leben in Symbiose. Doch mehr noch, ihr Zusammenspiel ermöglicht bestimmte Prozesse – wie das Verdauungssystem der Kuh nur durch die Mikroben in ihren vier Mägen funktioniert.

50 000 Proben

Mit der immensen Menge an Verbreitungsdaten lässt sich zum Beispiel erkennen, unter welchen Umweltbedingungen eine mikrobielle Gesellschaft von der nächsten abgelöst wird. Gilbert und seine Kollegen wollen also einen globalen Genatlas der Mikroben erstellen: "So werden wir besser verstehen, wie der Planet funktioniert, können ihn besser nutzen und auch schützen – so dass wir ihn und uns am Leben erhalten. Derzeit machen wir in dieser Hinsicht keinen guten Job."

"Wenn ihr irgendwo eine Probe nehmt, zwackt ein bisschen ab und sendet es an uns"Jack Gilbert

Einige Ansprüche mussten die Forscher zurückschrauben: "Pilze, Algen und Protozoen erfassen wir nicht im Detail. Und bei der Einordnung der Bakterien und Archaeen konzentrieren wir uns auf die Familien." Denn die Familien bleiben relativ konstant bestehen – im Gegensatz zu den Arten: Wer heute eine Bakterienart untersucht, weiß nicht, ob sie demnächst schon mutiert ist. Zur Bestimmung analysieren die Forscher vorwiegend einen bestimmten Abschnitt des Erbguts – die 16 S-ribosomale RNA, die in allen Bakterien vorkommt, sich aber von Art zu Art leicht unterscheidet. Das gesamte Genom oder die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Organismen entschlüsseln sie aber nur selten: Der wichtigste Part bleibt die Taxonomie.

Knapp sechs Jahre soll das Projekt insgesamt laufen. Inzwischen haben die Forscher um die 50 000 Proben aus den unterschiedlichsten Regionen erhalten. Darunter ist Material aus Tiefseevulkanen, Salzseen, Schneefeldern des Himalaja, aus tiefen Bodenschichten unter der Antarktis und sogar aus der Internationalen Raumstation. Der Bezug zur Erde scheint hier etwas weit hergeholt. Doch Gilbert sieht das pragmatisch: "So können wir den Einfluss der Schwerkraft auf die Bakterien untersuchen. Außerdem ist die Station voller Leute." Denn auch stark durch den Menschen genutzte Gebiete und sogar Häuser sind für die Forscher interessant. Schließlich sind auch sie Puzzleteile des großen Ganzen: "Ob Tier oder Mensch, Magen, Haut oder Nase – wir sind offen für alles und untersuchen es", erklärt der Mikrobiologe.

Verborgene Vielfalt | Bäche und kleine Flüsse beherbergen offenbar die größte Artenvielfalt, was Bakterien und Archaeen angeht. Vermutlich finden die Mikroorganismen dort viele Nischen.

Extrem spezialisiert – und extrem verbreitet

Bislang konnten Gilbert und seine Kollegen 20 Millionen Spezies identifizieren und in Familien einordnen. Dabei zeigt sich ihnen beispielsweise, welche Milieus besonders vielfältig sind: "Bisher sind Bäche und kleine Flüsse am extremsten. Wahrscheinlich ist hier das ganze System in stetiger Veränderung, und es gibt viele Nischen für Bakterien." Auch die Verbreitung der Organismen sorgt für Überraschungen. Manchmal sind ganz unterschiedliche Gebiete von ähnlicher mikrobieller Zusammensetzung: "Und eine zuvor unbekannte Art ist sehr weit verbreitet und dominant vertreten – sie fehlt nur an wirklich extremen Standorten." Vielleicht, so der Forscher, spielt sie eine wichtige Rolle, die noch erkannt werden muss. Und wahrscheinlich hat sie an jedem Ort ein anderes Potenzial an Leistung und Lebensdauer: "Viele Bakterien haben sich an verschiedene Orte in unterschiedlicher Form angepasst und können sich so weiterverbreiten – aber dieses hier ist außergewöhnlich." Doch zugegebenermaßen sind die Resultate nicht so öffentlichkeitswirksam wie die Entdeckung eines Riesenkraken: "Es ist schwer, so etwas zu verkaufen, wenn das Bakterium nur eine Nummer trägt."

Alle Ergebnisse stehen öffentlich einsehbar auf der Website: Laut Gilbert sind die Daten so fundamental wichtig, dass jeder sofort Zugriff darauf haben sollte. Er sieht die Forschung an Mikroorganismen als wesentlich für die Medizin und ebenso, um Umweltprobleme in den Griff zu bekommen. Schon jetzt werden Ölteppiche auf hoher See mittels Kleinstlebewesen bekämpft. Und auch den Klimawandel hofft Gilbert besser zu verstehen: "Durch die globale Erwärmung werden viele Archaeen mehr Methan produzieren und die Prozesse wiederum verstärken. Wir müssen diese Systeme einschätzen lernen, so dass wir eventuell Einfluss darauf nehmen können." Dass die Erkenntnisse missbraucht werden könnten – beispielsweise, um neue Biowaffen zu konstruieren –, glaubt Gilbert nicht: "Wir kennen bereits die meisten Organismen, die sich tödlich auf den Menschen auswirken."

Doch der Berg an Arbeit wird nicht kleiner. Noch immer ist das Team dabei, die vorhandenen Proben zu analysieren – ganz zu schweigen von jenen, die täglich eintreffen. Oft vergleichen Wissenschaftler den Forschungsbedarf im Bereich der Kleinstlebewesen mit der Dunklen Materie des Alls: "Wir wissen eine Menge", so Gilbert, "und gleichzeitig überhaupt nichts." Dennoch ist er optimistisch: "Unsere Unwissenheit ist gigantisch, aber unsere Fähigkeit zu forschen ist es auch."

Die Fördergelder für sechs Jahre sind fast aufgebraucht – Gilbert, Jansson und Knight müssen neue Unterstützung beantragen. Aber Gilbert würde auch ohne Subventionen weitermachen: "Solange ich forsche, werde ich mit jeder Probe den Standard unseres Projekts weiter ausbauen." Würde Charles Darwin in der heutigen Zeit leben, wäre er Mikrobiologe, meint Gilbert. Die Erfassung der Mikroorganismen sieht er als ähnlich bedeutsamen Meilenstein wie Darwins umfangreiche Klassifizierungen von Tieren und Pflanzen: "Und dort kam etwas ziemlich Wichtiges heraus – die Theorie der natürlichen Auslese."

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