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News: Einzelneuronen als Wahrnehmungsspeicher

Wahrnehmen will gelernt sein. Der Mensch erkennt seine Umwelt, macht über seine Wahrnehmung Erfahrungen, und diese Erfahrungen bestimmen wiederum seine Wahrnehmung. Diese Erkenntnisse sind nicht neu. Hirnforscher konnten jetzt jedoch experimentell nachweisen, dass einzelne Nervenzellen im Gehirn für die Steuerung unserer Wahrnehmung durch Vorwissen verantwortlich sind.
Wie wir Objekte wahrnehmen, hängt von den Erfahrungen ab, die wir bereits mit ihnen gemacht haben. Was für den einen nichts anderes als ein Vogel, ist für Ornithologen ganz offensichtlich eine Amsel, eine Drossel, ein Fink oder ein Star. Das Fach- oder Expertenwissen schärft unsere Fähigkeit, auf Details zu achten. Je mehr wir über Objekte gelernt haben, je vertrauter sie uns sind, desto mehr Einzelheiten erkennen wir.

Eine Forschergruppe am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen hat nun untersucht, was im Gehirn vor sich geht, wenn wir uns mit Objekten vertraut machen. Die idealen Kandidaten für solche Studien sind Rhesusaffen, da ihr Gehirn beim Sehen ähnlich funktioniert wie beim Menschen.

Das Trainingsprogramm bestand dabei aus einer Serie von Strichzeichnungen auf einem Computerbildschirm. Sie stellten Gesichter dar, die sich aus dem Umriss des Kopfes und insgesamt vier variablen Merkmalen zusammensetzten: der Höhe der Augen, dem Augenabstand, der Länge der Nase und der Höhe des Mundes. Jedes dieser Merkmale konnte in drei verschiedenen Varianten vorliegen; die Nase konnte also beispielsweise kurz, mittellang oder lang sein. Die Affen wurden nun darauf trainiert, zwei Arten von Gesichtern zu unterscheiden: In der einen Kategorie hatten alle gezeigten Gesichter eine niedrige Augenhöhe und einen großen Augenabstand, in der anderen eine hohe Augenhöhe und einen kleinen Augenabstand. Die beiden Merkmale "Augenabstand" und "Augenhöhe" dienten also der Festlegung der Kategorien. Die anderen beiden Merkmale, Nasenlänge und Mundhöhe, variierten bei allen Gesichtern nach dem Zufallsprinzip, waren also für die Einteilung in die Kategorien irrelevant.

Die Wissenschaftler beobachteten während der Lernphase die Aktivität von Neuronen in einem ganz speziellen Gehirnbereich, dem unteren Bereichs des temporalen Cortex, von dem man heute weiß, dass er für die Objekterkennung zuständig ist. Dabei stellten sie fest, dass tatsächlich einzelne Neuronen im besagten Hirnbereich auf die beiden Merkmale "Augenhöhe" und "Augenabstand" reagierten. Die Aktivität dieser Neurone war deutlich stärker, wenn diese beiden "relevanten" Merkmale den zu der Kategorie passenden Wert hatten. Die spezialisierten Neuronen hatten also "gelernt", die beiden Kategorien zu unterscheiden. Die beiden anderen Merkmale "Nasenlänge" und "Mundhöhe" ließen diese Neuronen kalt.

Darüber hinaus konnten die Wissenschaftler zeigen, dass die Affenhirne diese in dem Versuch gelernten Merkmale auch wirklich zur Objekterkennung verwenden. Nach dem Training waren die Tiere sogar in der Lage, Gesichter mit den gelernten Merkmalen einander zuzuordnen.

Aus ihren Arbeiten folgern die Hirnforscher nun, dass es offensichtlich einzelne Neuronen gibt, welche die Empfindlichkeit der Wahrnehmung schärfen, wenn sie in einem bestimmten Kontext trainiert werden. Dieses erlernte "Schubladendenken", also das Einteilen der Welt nach gelernten Kategorien, ist letztlich dafür verantwortlich, wie wir unsere visuell wahrgenommene Umwelt im Gehirn codieren und diese Wahrnehmung dann interpretieren.

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