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Epigenetik: Mäusekinder erben Erfahrungen der Großeltern

Vererbung über drei Generationen: Opas Furcht vor einem Geruch beeinflusst noch seine Enkel. Grund ist die so genannte epigenetische Vererbung.
Mäusefamilie

"Individuelle Erlebnisse können nicht an den Nachwuchs vererbt werden" – so lautete bis vor Kurzem ein schier unumstößlicher Lehrsatz der Genetik. Nur über den langsamen Mechanismus der Zufallsmutation könnten sich Veränderungen fortpflanzen. Doch seit einigen Jahren ist ein weiterer Mechanismus im Gespräch: Die epigenetische Vererbung ist zwar wenig dauerhaft, dafür aber schneller. Hier ändern sich lediglich chemische Markierungen an den Genen. Erben Kinder die so bestückten Gene, ändert das ihre körperlichen Eigenschaften.

Offen ist bisher, wann und wie sich das Markierungsmuster abwandelt. Zur Debatte stehen beispielsweise Unterernährung, die den Stoffwechsel der Kinder beeinflussen könnte, sowie Stress und Vernachlässigung, die für depressiven Nachwuchs sorgen. Nun hat jedoch ein Forscherduo an Mäusen beobachtet, dass sich sogar konkrete Erlebnisse epigenetisch vererben lassen: Hatten Großeltern gelernt, einen bestimmten Geruch zu fürchten, verhielten sich noch ihre Kinder und Enkel auffällig, wenn sie das Aroma wahrnahmen – selbst beim ersten Mal.

Mäusefamilie | Die neue Erfahrung, dass bestimmte Reize wichtig sind, können Mäuseeltern ihrem Nachwuchs direkt mit auf den Lebensweg geben: mittels epigenetischer Vererbung.

Das Ergebnis von Brian Dias und Kerry Ressler von der Emory University School of Medicine in Atlanta ist insofern überraschend, weil die Information "Dieser Geruch ist gefährlich!" zunächst hauptsächlich im Gehirn der Mäuseeltern repräsentiert ist. Wie sie von dort über die Spermien der Tiere zur nächsten Generation gelangt, ist noch ungeklärt.

Mäuse lernen Abneigung gegen einen Geruch

Konkret brachten die Forscher ihre Mäuse dazu, den fruchtigen Geruch von Acetophenon mit einem leichten elektrischen Schlag an den Pfoten in Verbindung zu bringen; danach führte bereits der Geruch für sich allein genommen zu einem kurzzeitigen ängstlichen Erstarren. Die so konditionierten Mäuse ließen sie anschließend Nachkommen zeugen und untersuchten dann deren Reaktion auf den Geruch.

Sowohl die Nachfolgegeneration als auch deren eigener Nachwuchs reagierte daraufhin überempfindlich auf das Acetophenon: Sie verharrten im Schnitt merklich länger bei einem Schreckgeräusch, wenn die Umgebung nach Acetophenon roch, als wenn die Forscher ein anderes Aroma versprühten.

Dabei waren die Tiere weder allgemein besonders ängstlich noch hatten sie generell Furcht vor Gerüchen – auf andere Düfte reagierten sie in der Testsituation völlig unauffällig. Den Grund für die erhöhte Sensitivität der Tiere fanden die Forscher im Gehirn: Im Riechsystem der Nachfolgegenerationen waren die Rezeptoren, mit denen die Maus den Duft wahrnimmt, stark überrepräsentiert. Gleiches galt für die zugehörigen Sinneszellen.

Beleg für epigenetischen Effekt

Um zu belegen, dass es sich tatsächlich um einen epigenetisch vererbten Effekt handelte, unternahmen Dias und Ressler eine ganze Anzahl von Tests und Sicherheitsvorkehrungen. Zum einen führten sie das Experiment mit einem weiteren Duftstoff (Propanol) erneut durch – mit dem gleichen Ergebnis. Und zum anderen zeugten sie die Mäuse der Enkelgeneration mit Hilfe künstlicher Befruchtung und ließen sie von fremden Müttern austragen und aufziehen. Damit können weder das Verhalten der Eltern noch etwaige Substanzen im Blut der schwangeren Mütter für den Effekt verantwortlich sein – ein Vorwurf, den man zahlreichen früheren Studien zur Epigenetik gemacht hatte.

Den entscheidenden Hinweis entdeckten sie jedoch im Erbgut des Mäusespermas. Dem Gen für den Acetophenon-Rezeptor fehlten dort an einigen Stellen die entsprechenden epigenetischen Marker – so genannte Methylgruppen. Das sorgte wohl dafür, dass das Gen bei der folgenden Embryonalentwicklung häufiger abgelesen und der Rezeptor entsprechend oft eingebaut wurde.

Was vermittelt den Umschaltvorgang?

Unklar ist, wie sich die Ergebnisse verallgemeinern lassen. Mit dem Duftstoff Acetophenon haben sich die beiden Forscher eine Substanz ausgesucht, deren Wahrnehmung eng an einen einzigen Rezeptor gekoppelt ist. Möglicherweise kreisen die Duftmoleküle auch im Blut der Tiere und aktivieren dabei dieselben Geruchsrezeptoren in den Zellen der Keimbahn, spekulieren die Wissenschaftler. Das könnte die epigenetische Umstrukturierung auslösen. Bei komplexeren Gerüchen oder gar ganz anderen Sinneseindrücken und Erlebnissen könnte dies womöglich bedeutend schwieriger, wenn nicht ausgeschlossen sein. Unklar ist auch, ob der Nachwuchs den Acetophenon-Geruch von vornherein mit einer Bedrohung assoziierte oder lediglich eine erhöhte Sensitivität für diesen Duft aufwies.

Insgesamt sind Dias und Ressler davon überzeugt, mit ihrer Studie den Grundstein für eine weiter gehende Untersuchung zu epigenetischer Vererbung von Erfahrungen gelegt zu haben. Einen wichtigen nächsten Schritt sehen sie darin, in den Spermien der Tiere nach einem Mechanismus zu suchen, durch den die Erfahrung in eine entsprechende Genmarkierung übersetzt wird.

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