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Paläoanthropologie: Ermessen menschlich

Im Jahr 2002 stellten französische Anthropologen den mit fast sieben Millionen Jahren ältesten Hominiden vor. Doch etliche Forscherkollegen bezweifelten den menschenähnlichen Status von Sahelanthropus tchadensis. Neue Funde und Computerrekonstruktionen sollen Klarheit schaffen.
Sahelanthropus tchadensis
Wohl so mancher Paläoanthropologe träumt davon, sein wissenschaftliches Werk mit der Artbeschreibung eines neu entdeckten Hominiden zu krönen. Handelt es sich gar um eine neue Gattung, vergrößert das den Ruhm um so mehr. Und so wundert es nicht, das in den letzten Jahren immer neue Arten und Gattungen den Hominidenzoo bereicherten, die dann kritisch von der Anthropologenzunft beäugt werden. Meist dauert es nicht lange, bis die ersten Zweifel auftauchen. Nicht anders erging es den Forschern um Michel Brunet von der Universität Poitiers. Ihr Fund aus dem Tschad, den sie im Juli 2002 der Welt präsentierten, beansprucht für sich jedoch nicht nur eine bisher unbekannte Hominidengattung, sondern will gleichzeitig der älteste Hominide überhaupt sein: Auf knapp sieben Millionen Jahre datierten die Anthropologen den Schädel, dem sie zunächst den Spitznamen "Toumaï" – zu deutsch "Lebenshoffnung" – gaben. Wissenschaftlich heißt der neue Alte "Sahelanthropus tchadensis".

Toumaï als Titelheld | Am 11. Juli 2002 präsentierten die Forscher um Michel Brunet einen neuen Hominiden: Sahelanthropus tchadensis.
Das Alter wäre wirklich bemerkenswert, fiele es doch in eine äußerst spannende Zeit der Menschheitsgeschichte: Irgendwann vor zehn bis fünf Millionen Jahren – so schätzen Evolutionsbiologen – haben sich einige Affen dazu entschlossen, sich zu Menschen weiter zu entwickeln und die Familie der Hominidae zu begründen. Sahelanthropus tchadensis hätte genau in diesem Zeitfenster gelebt und könnte damit zu den ersten Vorfahren der Menschheit gehören. Doch einige Anthropologen zeigten sich über diese Deutung der französischen Kollegen verschnupft. Bereits drei Monate nach der Veröffentlichung von Brunet und Co stellte Milford Wolpoff von der Universität von Michigan Toumaï ein vernichtendes Zeugnis aus: Seine Gesichtszüge wären untypisch für Hominiden, die Schädelbasis deute nicht auf einen aufrechten Gang hin, und die Zähne ähnelten eher denen von Schimpansen oder Gorillas. Kurz: Das Wesen sei nichts anderes als ein fossiler Affe, der den Gattungsnamen "Sahelpithecus" tragen müsste.

Sahelanthropus tchadensis | "Toumaï" – wie die Forscher ihren Fund liebevoll getauft hatten – zeigt sich jetzt am Computer mit neuem Outfit.
Nun ist der Fund eines fossilen Affen ja nichts Unehrenhaftes, doch so leicht wollten Brunet und seine Kollegen den Anspruch auf den ältesten Hominiden nicht aufgeben. Jetzt präsentieren sie neue Funde, die den Hominidenstatus von Toumaï untermauern sollen [1]. Im Wesentlichen handelt es sich um zwei Unterkiefer und einen Zahn – nicht viel, aber damit summiert sich die Anzahl der bekannten S.-tchadensis-Individuen auf sechs bis neun. Und Zähne stellen für Anthropologen eine begehrte Beute dar, weil sich hieran die verschiedenen Spezies unterscheiden lassen. Zu ihrer Genugtuung stellten die Forscher fest, dass die Dicke des fossilen Zahnschmelzes genau zwischen der von heutigen Schimpansen und von Australopithecus liegt. Außerdem begnügte sich Toumaï mit im Vergleich zu Affen verhältnismäßig niedrigen Zahnkronen. Beides deutet auf einen Hominidenstatus des Alten hin. Das reichte Brunet aber als Beweis noch nicht. Weitere Unterstützung suchte und fand er in der Schweiz: Christoph Zollikofer von der Universität Zürich versuchte, den im Laufe der Jahrmillionen in Mitleidenschaft gezogenen und daher stark verformten Schädel am Computer zu rekonstruieren [2].

Schädelansichten von Sahelanthropus | Die Computerrekonstruktionen zeigen den fossilen Schädel von vorne (a), von der rechten Seite (b), von oben (c) und von unten (d).
Auch in der 3-D-Rekonstruktion präsentiert sich Toumaï als primitiver Hominide. Sein Schädelvolumen von 360 bis 370 Kubikzentimeter ähnelt zwar eher dem eines Schimpansen, die Schädelanatomie zeigt jedoch bereits menschliche Züge. So bilden bei ihm – wie beim Menschen – die Ebenen der Augenhöhlen und der Schädelbasis einen rechten Winkel und lassen damit einen aufrechten Gang vermuten. Bei Australopithecus und erst recht beim Schimpansen ist der Winkel dagegen deutlich spitzer. Als die Forscher bei ihren Rekonstruktionsversuchen die Schädelanatomie etwas affiger gestalteten, führte dies zu unweigerlichen Brüchen zwischen Oberkiefer und dem Rest des Schädels.

Demnach bleibt es nach Überzeugung der Wissenschaftler dabei: Toumaï war kein Affe der Gattung "Sahelpithecus". Vielmehr verdient er, im Kreise der Hominidenfamilie aufgenommen zu werden – als ehrenwertes und ältestes Mitglied mit dem Namen Sahelanthropus tchadensis.

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