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Ernährung: Wie ungesund sind industrielle Lebensmittel wirklich?

Wer wenig Selbstgekochtes, dafür viel Industrienahrung isst, erhöht sein Risiko, dick und krank zu werden. Dennoch haben hoch verarbeitete Lebensmittel auch Vorteile: Sie schaffen vor allem Frauen Freiheiten.
Industrielle Lebensmittelproduktion

Zwar kursieren derzeit alle möglichen mehr oder weniger gesunden Ernährungsformen. Doch egal ob Low-Carb, Steinzeitkost oder Clean Eating, auf einen Feind haben sich alle eingeschossen: hoch verarbeitete Lebensmittel. Die solle man am besten ganz meiden, oder zumindest nur sehr selten essen. Sogar die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) empfiehlt, dass man seiner Gesundheit wegen möglichst frische Lebensmittel auswählen und Fertigprodukte nur gelegentlich konsumieren sollte. Aber sind die so genannten Convenience-Produkte, die uns den Alltag erleichtern, eigentlich tatsächlich so ungesund? Um sich dem Thema wissenschaftlich zu nähern, hat Carlos Monteiro, Gesundheitswissenschaftler an der Universität von Sao Paulo im Jahr 2010 eine Definition geliefert. Die so genannte »NOVA food classification« teilt Lebensmittel in vier Gruppen ein.

Erst kürzlich hat Monteiro eine nachgebesserte Version vorgelegt : In der ersten Gruppe versammeln sich die unverarbeiteten oder wenig verarbeiteten Produkte wie frisches Obst und Gemüse sowie Fleisch, Fisch, Eier oder Milch. Selbst Trockenobst und gefrorenes Gemüse oder Fisch gelten als wenig verarbeitet. In der Gruppe 2 finden sich dann Öl, Mehl, Salz und Zucker. Gruppe 3 umfasst die verarbeiteten Produkte Käse, Brot, Schinken, Nudeln, aber auch Dosentomaten oder geräucherter Fisch. Diese Produkte sind meist verzehrfertig, enthalten aber nur zwei oder drei Zutaten. In Gruppe 4 finden sich nun die verpönten »ultraverarbeiteten« Lebensmittel. Sie haben mehrere Verarbeitungsschritte durchlaufen, liefern eine ganze Reihe an Zutaten und Zusatzstoffen, die nicht ohne Weiteres als Lebensmittel zu erkennen sind. In diese Kategorie fallen Softdrinks, Süßigkeiten, Fleischprodukte, Backwaren, Eiscreme und Fertiggerichte wie Tiefkühlpizza oder Trockensuppen.

Claudia Niggemeier und Almut Schmid, Ernährungswissenschaftlerinnen der Universität Paderborn, haben die NOVA-Liste an deutsche Gepflogenheiten angepasst und die hier zu Lande verzehrten Lebensmittel in drei Gruppen zusammengefasst: frische, verarbeitete und hoch verarbeitete Lebensmittel. Mit diesem Instrument in der Hand haben die Forscherinnen im Jahr 2015 untersucht, wie sich der Konsum von hoch verarbeiteten Lebensmitteln auf die Gesundheit von Kindern und Erwachsenen auswirkt.

Je mehr Fertigprodukte, desto mehr Übergewicht

Das Ergebnis ist eindeutig: Je mehr Fertigprodukte auf dem Speiseplan stehen, desto übergewichtiger sind die Personen. Das erklären sich die Forscherinnen damit, dass Lebensmittel wie Pommes, Tiefkühlpizza oder Schokolade eine vergleichsweise hohe Energiedichte haben, also viele Kalorien liefern. Und diese Kalorien stammen vor allem aus Zucker, Weißmehl und Fett, überwiegend aus gesättigtem Fett und teilweise aus Trans-Fettsäuren. Dafür liefern diese Produkte weniger Eiweiß oder Ballaststoffe. Beide Lebensmittelinhaltsstoffe sättigen jedoch, was Übergewicht verhindert.

Auch waren Menschen, die viele hoch verarbeitete Produkte essen, schlechter mit Kalzium und Folat, einem wichtigen B-Vitamin, versorgt. Dafür nahmen sie mehr Kochsalz auf. Bei Kindern führte eine derartige Kost zu einer um 17 Prozent höheren Aufnahme an Natrium als bei Frischkost. Salz gilt als Verursacher von Bluthochdruck – und als Appetitanreger. Natürlich kann ein Fertiggericht auch eine gute Qualität haben. Dennoch ist die Gesamtheit dessen, was in der Industrieküche bereitet wird, offenbar als eher ungünstig zu bewerten.

Eine solche Melange aus schlechtem Fett, Zucker und Salz halten mittlerweile viele Wissenschaftler unabhängig vom hohen Energiegehalt der Nahrung für die Ursache der Übergewichtsepidemie. Denn diese Stoffe triggern Belohnungssysteme in unserem Gehirn, während sie Sattmechanismen behindern, das haben unzählige Studien mit Tieren und Menschen gezeigt. David Kessler, Mediziner und ehemals Leiter der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA, schreibt in seinem Buch »Das Ende des großen Fressens«: »Hoch verarbeitete Lebensmittel verändern die Verbindungen zwischen den neuronalen Schaltkreisen im Gehirn und auch deren Reaktionsmuster mit der Folge, dass wir immer mehr davon wollen.« Die leichte Verfügbarkeit solcher Produkte, an jeder Tankstelle, jedem Kiosk oder Bäcker, verschärft das Problem noch.

Zusammenspiel der Inhaltsstoffe macht den Unterschied

Die Industrie wird jedoch nicht müde zu behaupten, dass die von ihnen verwendete Zutaten ebenso in natürlichen Lebensmitteln vorkommen und darum keine Gefahr drohe. »Allerdings wird immer klarer, dass die so genannte Matrix eines Lebensmittels für seine Verdaulichkeit und seine Wirkung im Körper mitverantwortlich ist«, so Monteiro. Unter »Matrix« versteht man das Zusammenspiel verschiedener Inhaltsstoffe, die sich chemisch und physikalisch gegenseitig beeinflussen.

Ein Beispiel: In einem Apfel steckt einiges an Fruchtzucker (Fruktose), der in großen Mengen als leberschädigend in Verruf geraten ist. Ballaststoffe wie Pektine, die in den Zellwänden stecken, verhindern jedoch, dass der Zucker allzu schnell vom Darm ins Blut gelangt. Der Blutzuckerspiegel und die daran beteiligten Hormone werden also weniger strapaziert, als wenn man die gleiche Menge Fruktose in Form von Apfelsaft konsumiert, worin der Zucker bereits gelöst und ohne das Pektin vorkommt. Andererseits gelten gesättigte Fettsäuren als herzschädigend, in Milch könnten sie allerdings sogar gesund sein. Zudem liefern hoch verarbeitete Lebensmittel eben nicht die gleichen Inhaltsstoffe wie frische Lebensmittel. »Ihnen fehlt es ebenfalls an sekundären Pflanzenstoffen, denen zahlreiche positive Gesundheitswirkungen nachgesagt werden«, sagt Monteiro.

Das könnte erklären, warum Industriekost nicht nur dick macht, sondern sogar noch andere gesundheitsschädliche Wirkungen hat. So zeigt eine aktuelle Studie der Universidad Navarra mit fast 15 000 gesunden Teilnehmern: Nach neun Jahren hatten Menschen, die der »Cafeteria-Diät« frönten, ein höheres Risiko, an Bluthochdruck zu erkranken, als Frischkostfans. Zudem gerät der Zuckerstoffwechsel mit viel Industriekost auf Dauer durcheinander, was die Entstehung eines Diabetes begünstigt.

Entfremdung von frischen Lebensmitteln

Letztlich werden auch die vielen Zusatzstoffe kritisch gesehen. Zwar muss ihre Verwendung gesundheitlich unbedenklich sein. Allerdings: Kinder, die große Mengen an Süßigkeiten, aromatisierten Getränken oder Frühstückszerealien konsumieren, überschreiten schon mal die Grenzwerte einiger Farbstoffe . »Darüber hinaus findet insbesondere durch den Einsatz von Konservierungsmitteln, Farbstoffen und Geschmacksverstärkern eine immer stärkere Entfernung vom frischen, unverarbeiteten Produkt statt«, sagt Niggemeier. Wer häufig solche Produkte isst, trimmt seinen Geschmack also auf starke Reize, was dazu führt, dass ihm frische Nahrung auch nicht mehr so gut schmeckt.

Obendrein liefern die Fertigprodukte keine Vielfalt, und das ist das oberste Gebot gesunder Ernährung. Zwar wird durch die vielen bunten Verpackungen Variantenreichtum suggeriert, doch im Großteil der Supermarktprodukte stecken billige Rohstoffe wie Weizen, Milch, Zucker oder Palmöl. Laut einem Gutachten des österreichischen Gesundheitsministeriums aus dem Jahr 2015 sind rund 30 Prozent der Supermarktprodukte Weizenfraktionen enthalten. So kommen Teilstoffe wie etwa Gluten in Industriebrot in höheren Mengen vor als im Sauerteigbrot vom Bäcker nebenan – das kann der Verdauungsmaschinerie, die auf Komplexität geeicht ist, Probleme bereiten.

Berufstätige Frauen kochen weniger und leben ungesünder

Klar ist also: Hoch verarbeitete Lebensmittel sollten nicht zu oft verwendet werden. Der tatsächliche Konsum geht jedoch weltweit weg vom frischen, selbst zubereiteten Mahl hin zu Fertigprodukt und Fast Food. Laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft war im Jahr 2016 für 55 Prozent der Deutschen die einfache und schnelle Zubereitung ein wichtiges Kriterium beim Lebensmitteleinkauf, 2015 waren es lediglich 45 Prozent. Damals kochten auch 37 Prozent zwei- bis dreimal pro Woche, während es 2016 nur noch 33 Prozent waren. Rund 11 Prozent der Deutschen greifen nie zum Kochlöffel, und Frauen kochen insgesamt häufiger, mit Berufstätigkeit jedoch seltener.

Selbstverständlich kann auch ein selbst zubereitetes Essen miserable Qualität haben. Dennoch steigt durch die Kochlust die Wahrscheinlichkeit, sich insgesamt gesund zu ernähren. So essen Frauen, die fast täglich kochen, mehr als doppelt so viel Gemüse wie die Kochmuffel. Sie konsumieren dafür zehnmal weniger Snacks und nur knapp 60 Prozent der Menge an gesüßten Getränken im Vergleich zu Frauen, die nie kochen.

»Ein entspannter Umgang mit industriellen Lebensmitteln stellt keineswegs den Untergang der Ernährungskultur in Deutschland dar«Daniel Kofahl

Allerdings warnen Soziologen, man dürfe die Industrieprodukte nicht verteufeln. »Ein entspannter Umgang mit industriellen Lebensmitteln stellt keineswegs den Untergang der Ernährungskultur in Deutschland dar«, meint Daniel Kofahl, Ernährungssoziologe am Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur. »Gerade für Frauen und Mütter bedeutet dies sogar eine ungemeine Entlastung in einer hektischen Zeit, in der sie das kulinarische Anspruchsdenken in Deutschland lange Zeit unnötig unter Druck gesetzt hat.« Mütter, die nicht jeden Tag am Herd stehen, haben mehr Zeit für die Kinder, für Sport oder, um ein gutes Buch zu lesen. »Bei der Nahrungsmittelwahl ist Gesundheit nicht per se und allzeit das höher zu wertende Gut«, meint auch Petra Kolip, Gesundheitswissenschaftlerin an der Universität Bielefeld.

Zudem versuchen einige Unternehmen nun, ihre Rezepte zu verbessern, »Reformulierung« heißt das Zauberwort. Die ist bislang jedoch freiwillig, und die Verbraucher ziehen nicht so recht mit, schließlich gehen reformulierte Produkte oft mit Kosten und einem höheren Preis einher. Unklar ist zudem, ob die neuen Rezepte dann so viel besser sind. Zweifel regen sich derzeit etwa bei Süßstoffen wie Aspartam oder Sucralose, die Lightgetränken zugesetzt werden. Sie konnten in Studien nicht eindeutig beweisen, dass sie das Gewicht senken, dafür verschlechterte sich in einigen Fällen sogar die Herzgesundheit bei hohem Lightgetränkekonsum.

In jedem Fall können sich Kochmuffel mit einigen Tricks behelfen: »Wenn man Fertigprodukte mit Gemüse und Obst kombiniert, dann kann dies auch eine ausgewogene Mahlzeit sein«, meint Helmut Oberritter, Geschäftsführer der DGE. Ebenso muss Kochen nicht aufwändig sein: »Uns stehen eine Vielzahl guter und frischer Lebensmittel sowie einfache Rezepte zur Verfügung, so dass es auch in kurzer Zeit gelingt, eine gesunde Mahlzeit auf den Tisch zu bringen«, so Oberritter.

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