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Antimaterie-Überschuss: Freispruch für zwei Exoten

Woher stammt all die Antimaterie in der Kosmischen Strahlung? Eine gute Erklärung wäre ohne Dunkle Materie ausgekommen. Bis zu dieser neuen Messung.
Krebsnebel

Seit zehn Jahren zerbrechen sich Astrophysiker den Kopf über ein rätselhaftes Phänomen in der kosmischen Teilchenstrahlung. Dabei ist diese Form der Strahlung im Grunde gut verstanden: Unablässig prasseln Teilchen aus dem Weltall auf die Erde, zumeist sind es Protonen, also Kerne von Wasserstoffatomen. Ab und zu sind auch andere Teilchen darunter, ganz selten ein Positron – das Antiteilchen eines Elektrons. Es entsteht zum Beispiel immer dann, wenn ein Proton mit einem Photon der kosmischen Hintergrundstrahlung zusammenprallt. Nur: Wann immer Forscher das tatsächliche Vorkommen dieser Positronen maßen, fanden sie deutlich mehr davon, als sie erwartet hatten.

Das deutete sich bereits bei Experimenten mit Ballons Mitte der 1990er Jahre an. Wirklich offenkundig wurde die Sache, als Wissenschaftler 2008 die Daten des italienischen Teilchendetektors Pamela auswerteten, der huckepack an einem russischen Satelliten reiste. Und schließlich bestätigte das seit 2011 auf der Internationalen Raumstation installierte »Alpha-Magnet-Spektrometer« (AMS), der größte je im All stationierte Teilchendetektor, das überraschende Resultat endgültig: Das AMS fand sogar mehr Positronen mit hoher Energie als solche mit niedrigerer – völlig unerklärlich, wenn die Antimateriepartikel nur durch Protonkollisionen entstehen würden.

Was steckt dahinter? Rasch drängte sich der Gedanke auf, dass die überschüssigen Positronen gar nicht nur vor Ort entstehen, sondern im Umfeld weit entfernter Himmelskörper, und von dort aus zum Sonnensystem gelangen. Insbesondere haben Astrophysiker dabei bestimmte Neutronensterne im Verdacht: Pulsare, extrem kompakte Sternleichen, die sich mit teils aberwitziger Geschwindigkeit um ihre eigene Achse drehen. Sie könnten die Positronen Richtung Erde schicken.

Eine gute Erklärung weniger

Eine internationale Kollaboration von Physikern unter Beteiligung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik (MPIK) in Heidelberg hat nun jedoch zwei einschlägige Kandidaten vom Verdacht freigesprochen, die Quelle der überzähligen Positronen zu sein: die beiden Pulsare Geminga und PSR B0656+14. Beide sind Überreste einst als Supernova explodierter Riesensterne. Sie liegen in Richtung des Sternbilds Zwillinge und sind etwa 800 Lichtjahre von der Erde entfernt.

Der Pulsar Geminga | Kompositbild des Geminga-Pulsars, erstellt mit Röntgendaten des Chandra-Satelliten und Infrarotdaten des Spitzer-Satelliten. Die komplizierte Struktur erklären sich Astronomen mit zwei gegenläufigen, schmalen Materiestrahlen, die entlang der Rotationspole des Pulsars emittiert werden (siehe Illustration). Geminga dreht sich rund fünfmal pro Sekunde um die eigene Achse. Entlang des Äquators hat sich offenbar eine Art Materietorus ausgebildet. Sowohl Torus als auch Materiestrahlen werden durch die schnelle Bewegung des Pulsars durch das interstellare Medium "verbogen".

Wie die Forscher vorgingen, beschreiben sie im Fachmagazin »Science«. Statt der Positronen selbst maßen sie hochenergetische Gammastrahlung, die dem Umfeld der beiden Objekte entstammt. So konnten sie zwar bestätigen, dass aus der Umgebung der beiden Pulsare energiereiche Positronen entkommen. »Aber unsere Analyse ihrer Ausbreitung zeigt auch klar, dass sie keinen wesentlichen Beitrag zum beobachteten Positronen-Überschuss leisten können«, erklärt Koautor Rubén López-Coto vom Heidelberger MPIK. Die Positronen bewegen sich schlicht zu langsam, um in den 300 000 Jahren, die es die Pulsare und ihre umgebenden Nebel gibt, in ausreichender Zahl zur Erde gelangt zu sein.

Damit geht die Suche nach den rätselhaften Quellen des Positronen-Überschusses weiter. Leider lassen sich die Teilchen nicht einfach zum Ursprungsort ihrer Reise zurückverfolgen. Weil sie elektrisch geladen sind – als Antiteilchen der Elektronen tragen sie positive Ladung –, werden sie durch Magnetfelder in unserer Galaxie auf komplizierte, verworrene Bahnen gezwungen. Ihre jeweilige Herkunftsrichtung an der Erde zeigt darum nicht auf den Ort ihrer Entstehung.

Für López-Coto und Kollegen war darum die Gammastrahlung das Mittel der Wahl. Sie bewegt sich wie Licht geradlinig vom Ursprungsort zum Beobachter, Effekte der allgemeinen Relativitätstheorie einmal außer Acht gelassen. Und glücklicherweise erzeugen die Positronen selbst Gammastrahlung: Nachdem sie im starken Magnetfeld eines Pulsars auf hohe Energien beschleunigt wurden, treffen sie noch in dessen Umgebung auf Lichtquanten der kosmischen Hintergrundstrahlung. Beim Zusammenstoß übertragen sie einen Teil ihrer Energie auf diese Photonen, die daraufhin zu energiereichen Gammaquanten werden.

Verantwortliche Pulsare müssten aus der Nachbarschaft stammen

Das bedeutet allerdings auch, dass die Positronen speienden Objekte höchstens wenige tausend Lichtjahre von uns entfernt liegen können. Die Antiteilchen verlieren nämlich auch nach Verlassen des Pulsarnebels durch ähnliche Prozesse weiter Energie. Ihre Reichweite ist daher limitiert. Als Quelle für den Positronen-Überschuss taugen ausschließlich Pulsare, die in einem relativ überschaubaren Bereich der (astronomisch gesehen) näheren Umgebung in unserer Milchstraße liegen.

Gammastrahlen-Detektor HAWC | Im mexikanischen Nationalpark Pico de Orizaba auf 4100 Meter Höhe liegen die Wassertanks des HAWC-Observatoriums, mit dem Forscher nun die beiden Pulsare untersuchten.

Genau deshalb galten Geminga und PSR B0656+14 als geeignete Kandidaten – sowohl ihre Entfernung als auch ihr Alter passten. Die Umgebung der beiden Pulsare leuchtet auch über mehrere Grad am Himmel hell im Gammalicht. Spezielle Gammateleskope wie HESS in Namibia oder MAGIC aus La Palma haben ein zu beschränktes Gesichtsfeld, um derart ausgedehnte Objekte beobachten zu können. Das HAWC-Observatorium in Mexiko ist jedoch auf solche Weitwinkelbeobachtungen spezialisiert. HAWC (High Altitude Water Cherenkov Detector) steht in 4100 Meter Höhe auf einer Flanke des Vulkans Sierra Negra und sieht auf den ersten Blick eher wie ein Treibstofflager aus: Es besteht aus 300 dicht beieinander stehenden Tanks mit je 7,3 Meter Durchmesser und 4,5 Meter Höhe. Gefüllt sind die Tanks mit hochreinem Wasser. Trifft ein Gammaphoton auf die Lufthülle der Erde, zerschlägt es dort Atome, so dass Kaskaden von Elementarteilchen, so genannte Teilchenschauer, entstehen. Einige dieser Teilchen gelangen bis zur Erdoberfläche und erzeugen in den Wassertanks blaue Lichtblitze, die von empfindlichen Lichtsensoren registriert werden. Daraus können die Forscher Energie und Herkunftsrichtung des ursprünglichen Gammaquants ableiten. Trägt man die Herkunft aller beobachteten Gammas in eine Himmelskarte ein, entstehen Bilder ihrer Quellen – so wie in diesem Fall von Geminga und PSR B0656+14.

Dass nun zwei der vielversprechendsten Kandidaten zur Erklärung des Positronen-Überschusses eliminiert seien, heiße nicht, dass damit Pulsare generell als Verursacher ausgeschlossen werden könnten, meint López-Coto. Vielleicht gibt es in der kritischen Distanz von weniger als 1000 Lichtjahren ja noch Pulsare, von deren Existenz wir nichts wissen. »Zudem kann die Ausbreitung der kosmischen Strahlung in anderen Richtungen anders verlaufen als aus Richtung von Geminga«, sagt der Forscher.

Steckt am Ende doch Dunkle Materie hinter den Positronen?

Deshalb werden die Forscher weiter mit HAWC nach Sternleichen im Gammalicht suchen. Werden sie nicht fündig, bleibt vielleicht nur noch eine alternative Erklärung für die Existenz des Positronen-Überschusses übrig: die Dunkle Materie.

Die überwältigende Mehrheit der Wissenschaftler geht davon aus, dass Dunkle Materie mit ihrer Gravitation dafür sorgt, dass sich Galaxien und Sterne so bewegen, wie Astronomen es beobachten. Das ansonsten unsichtbare Material sollte demnach allgegenwärtig sein – doch aus was für Teilchen es besteht, weiß bislang niemand. Viele Forscher sehen in WIMPs genannten Teilchen gute Kandidaten für die Dunkle Materie – und damit auch für die benötigte Positronenquelle im All. Denn gäbe es WIMPs, würden sie bei ihrem Zerfall oder ihrer gegenseitigen Zerstrahlung gewöhnliche Teilchen mit hoher Energie produzieren, darunter auch Positronen.

Leider hat diese elegante Theorie einen gravierenden Schönheitsfehler: Trotz großem Aufwand ist es bislang nicht gelungen, ein Dunkle-Materie-Teilchen im Labor zweifelsfrei nachzuweisen. Auch der Teilchenbeschleuniger LHC des CERN hat bislang keinerlei Hinweise auf WIMPs zu Tage gefördert. Es scheint, als wollten sich die flüchtigen Teilchen mit aller Macht ihrer Entdeckung entziehen. Vielleicht werden es daher gerade die Positronen sein, die den entscheidenden Beitrag zur Entschlüsselung des Dunkle-Materie-Rätsels liefern. Wenn nämlich WIMPs für die Positronen verantwortlich sind, dann können sie nur Positronen bis zu einer Maximalenergie produzieren – und zwar der Energie, die der WIMP-Masse entspricht. Das Positronenspektrum sollte also bei einer bestimmten Energie steil abfallen. Die hochgenauen Messungen des Positronen-Überschusses, die der AMS-Detektor laufend verfeinert, zeigen bei einer Energie von ungefähr 350 Milliarden Elektronenvolt tatsächlich Anzeichen für ein solches Abbrechen des Spektrums.

Doch noch ist die Zahl der registrierten Positronen bei so hohen Energien nicht ausreichend für belastbare Aussagen. Bis auf Weiteres passen die AMS-Daten ebenso zu WIMPs wie zu Pulsaren – oder einer Kombination aus beidem.

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