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Libyen: Freispruch!

Fünf Krankenschwestern und einem Arzt droht in Libyen die Todesstrafe: Sie sollen über 400 Kinder absichtlich mit HIV infiziert haben. Wissenschaftliche Gutachten, die ihre Unschuld belegen, wurden vom Gericht nicht anerkannt. Dienstag ist der letzte Verhandlungstag.
Justitia
Auf der einen Seite: mysteriöse Blutproben mit HIV-Antikörpern, unter Folter erpresste Geständnisse, fragwürdige Aussagen von Zeugen der Anklage. Auf der anderen: umfassende Gutachten von international anerkannten Aids-Experten, welche die Beschuldigten zweifelsfrei entlasten. Der Fall ist klar, sollte man meinen – und täuscht sich. Trotz einer eindeutigen Beweislage müssen der palästinensische Arzt Ashraf Ahmad Jum'a und die bulgarischen Krankenschwestern Nasya Nenova, Kristiana Valceva, Valya Chervenyashka, Valentina Siropulo und Kristiana Valcheva fürchten, dass die Richter sie in den nächsten Wochen erneut zum Tode verurteilen.

Denn am Dienstag, den 31. Oktober endet die Anhörung in einem Verfahren, das weltweit für heftige Proteste von Wissenschaftlern wie Menschenrechtsorganisationen gesorgt hat.
"Wir wollen die Leute wütend machen, damit sie auf ihre Regierungen einwirken"
(Robert Gallo)
Aktuell rufen in einem offenen Brief renommierte Forscher wie HIV-Entdecker Luc Montagnier, Robert Gallo, Vittorio Colizzi und Dutzende mehr ihre Regierungen dazu auf, alles zu tun, um die Freilassung der seit fast acht Jahren Inhaftierten zu erreichen. Geld, medizinische Hilfe, Wissenstransfer – der Westen soll geben, was er zu bieten hat im Kampf gegen HIV. Libyen sollte nicht "noch mehr Opfer der Aids-Epidemie schaffen – in diesem Fall die fünf bulgarischen Krankenschwestern und den palästinensischen Arzt", schreiben die Forscher [1]. "Wir wollen die Leute wütend machen, damit sie auf ihre Regierungen einwirken", so Gallo.

Dünne Indizien vom Ankläger

Das Drama begann 1998, als ein libysches Monatsmagazin berichtete, im Al-Fateh-Krankenhaus von Bengasi seien 426 Kinder mit HIV infiziert worden. Im Anschluss wurden internationale wie einheimische Ärzte und Pfleger unter dem Verdacht verhaftet, das Virus absichtlich verbreitet zu haben. Staatschef Gaddafi ging 2001 sogar so weit zu behaupten, dahinter stecke eine Aktion der Geheimdienste von USA und Israel – Äußerungen, die er später immerhin zurückzog. Da die Ermittler in der Wohnung einer der bulgarischen Krankenschwestern Gefäße mit HIV-Antikörper enthaltendem Blut gefunden hatten, setzte sich letztlich die Vermutung durch, das Ganze sei ein verdeckter Medikamentenversuch.

Während die meisten der zunächst Beschuldigten innerhalb von zwei Jahren wieder auf freien Fuß kamen, begann für die fünf bulgarischen Krankenschwestern und den palästinensischen Art eine Tortur.
"Wir waren bereit alles zu unterschreiben, um die Qualen zu beenden"
(Kristiana Valceva)
Elektroschocks, sexuelle Drohungen und Übergriffe, Schläge wurden eingesetzt, um falsche Geständnisse zu erpressen. Zu den Drohungen gehörte offenbar auch, die Beschuldigten selbst mit HIV zu infizieren. Die vorgefertigten Geständnisse seien arabisch gewesen, so die Krankenschwestern, ohne Übersetzung. Doch "wir waren bereit alles zu unterschreiben, um die Qualen zu beenden", sagte Kristiana Valceva zu einer Vertreterin der Menschenrechtsorganisation Humans Right Watch. Rechtsbeistand durch einen Anwalt erhielten die sechs Angeklagten erst im Gerichtssaal.

Nach internationalen Protesten wurde zehn Schändern der Prozess gemacht. Einer der Beklagten war selbst Arzt. Das Gericht entschied im Juni 2005 auf Freispruch in allen Fällen.

Fundierte Gegenargumente der Verteidigung

Seit acht Jahren unschuldig hinter Gittern | Dem palästinensischen Arzt Ashraf Ahmad Jum'a und den bulgarischen Krankenschwestern Nasya Nenova, Kristiana Valceva, Valya Chervenyashka, Valentina Siropulo und Kristiana Valcheva (von links oben nach rechts unten, im Gefängnis von Tripolis am 9. Mai 2005) droht die Todesstrafe, weil sie im Krankenhaus von Bengasi über 400 Kinder absichtlich mit HIV infiziert haben sollen. Ein erstes Urteil, das im Dezember 2005 aufgehoben wurde, basierte auf höchst fragwürdigen Aussagen, unter Folter erpressten Geständnissen und entgegen fundierter wissenschaftlicher Hinweise, die vom Gericht nicht anerkannt wurden. Am 31. Oktober ist der letzte Anhörungstag des Revisionsprozesses.
Im Jahr 2003 forderte das Gericht ein Gutachten der beiden Aids-Experten Luc Montagnier und Vittorio Colizzi an. Die Forscher untersuchten zahlreiche der betroffenen Kinder und kamen zu dem Schluss, dass die Infektion bereits vor Ankunft der bulgarischen Krankenschwestern erfolgt sein musste. Da viele Kinder zudem mit Hepatitis B und C infiziert waren, schlossen die Forscher, dass mangelhafte Hygienebedingungen und nicht sterilisierte Instrumente für die Ansteckung verantwortlich waren – ausgehend womöglich von einem einzigen Kind, welches das Virus eingeschleppt hatte. Genetische Untersuchungen widerlegten auch die Anschuldigungen Gaddafis, es handle sich um einen gentechnisch veränderten Erreger von Geheimdiensten: Offenbar gehört das Virus zu einem in West- und Zentralafrika verbreiteten Subtyp, der hoch virulent und leicht übertragbar ist, in Libyen allerdings noch selten war.

Auch die Blutproben könnten keinesfalls als Schuldbeweis dienen, erläuterten die beiden Wissenschaftler: Die Ergebnisse einer Proteinanalyse seien "zu unbestimmt", sagt Montagnier – "sie sagen gar nichts", so Colizzi. Um nachzuweisen, dass in den Gefäßen tatsächlich HI-Viren enthalten waren, hätte ein Test auf die virale RNA gemacht werden müssen. Das jedoch wurde versäumt.

Doch: Das Gutachten wurde vom Gericht nicht zugelassen – es sei zu "hypothetisch" und "nicht genau genug". Stattdessen stützten sich die Richter bei der Urteilsfindung auf Aussagen fünf libyscher Ärzte, dass es keine schriftlichen Hinweise auf wiederverwendete Einmalspritzen gebe und schlechte Hygienezustände in Libyen kein Problem darstellten.
"Es gibt einen schockierenden Mangel an Beweisen"
(Janine Jagger)
Das Krankenhaus in Bengasi gelte sogar als besonders vorbildlich. Der Ausbruch hingegen sei so umfangreich, dass eine willentliche, bösartige Infektion nicht ausgeschlossen werden könne. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, drehte der Bericht offenbar die Argumentation um: "Er machte aus fehlenden Belegen fälschlicherweise einen Beleg für das Fehlen", erklärt Robin Weiss, Virologe am University College London. "Es gibt einen schockierenden Mangel an Beweisen", kommentiert auch Janine Jagger, Epidemiologin von der Universität von Virginia in Charlottesville [2].

Ein unbegreifliches Urteil

Obwohl ein weiteres Gutachten des Schweizer Virologen Luc Perrin, der viele der Kinder behandelte, die Schlussfolgerungen von Montagnier und Colizzi bestätigte, sprach das Gericht in Bengasi am 5. Mai 2004 das Todesurteil.

Ein internationaler Sturm des Protests brachte jedoch den Obersten Gerichtshof in Tripolis dazu, am 25. Dezember 2005 das Urteil aufzuheben und ein Berufungsverfahren anzuordnen. Wieder allerdings wurden Stellungnahmen internationaler Experten nicht zugelassen. Stattdessen begannen nun auch Verhandlungen zu Schadensersatzzahlungen an die Eltern – angelehnt an die Zahlungen, die Libyen selbst nach dem Flugzeugabsturz in Lockerbie geleistet hatte, fordern die Anwälte der Eltern offenbar bis zu 11 Millionen Dollar pro infiziertem Kind. Die bulgarische Regierung weigert sich, regelrechte "Lösegelder" für die Freilassung der Krankenschwestern zu zahlen, zeigte sich aber bereit, mit Hilfe der Europäischen Union und der USA einen Fonds für die infizierten Kinder einzurichten und die medizinische Ausbildung von Libyern zu unterstützen. Vielleicht, so hoffen viele, könnte so ein Weg gefunden werden, die aufgewühlten Gemüter der Eltern zu beruhigen und den sechs Beschuldigten die Freiheit zu ermöglichen.

Ausweg durch die diplomatische Hintertür?

Inzwischen ist bekannt, dass der erste Aids-Fall bei den Kindern schon im Juni 1997 diagnostiziert wurde – ein Jahr, bevor die Krankenschwestern und der Arzt ihren Dienst in Bengasi angetreten hatten. Ein zweiter folgte wenige Monate später, erzählte Achris Ahmed, Leiter des im letzten Jahr zur Untersuchung des Falles eingerichteten HIV-Komitees in Bengasi. Aber man habe wenig über das Virus gewusst, denn es gebe kein Aids in Libyen, sagte Ahmed, ganz der offiziellen Linie folgend.

Die Lage, so scheint es, ist klarer denn je.
"Die Entscheidung wird höchstwahrscheinlich eine sehr schlimme sein."
(Emmanuel Altit)
Und doch forderte der libysche Staatsanwalt am 29. August erneut das Todesurteil. Und Emmanuel Altit, einer der Verteidiger, zeigt sich pessimistisch: "Die Entscheidung wird höchstwahrscheinlich eine sehr schlimme sein." Internationale Beobachter vermuten, dass die Beschuldigten als Sündenböcke herhalten sollen für Versäumnisse der zuständigen Gesundheitsbehörden.

"Vergesst uns nicht!"

Bleibt nur zu hoffen, dass internationaler offener Druck oder vielleicht eher sogar diplomatische Verhandlungen hinter verschlossenen Türen eine Lösung bringen werden. Libyen jedenfalls wird nicht müde zu betonen, dass seine Gerichte unabhängig arbeiten und sich davon nicht beeinflussen lassen. "Wir wissen, dass wir die Opfer einer politischen Hexenjagd sind. Wir sind ausgebrannt, psychisch ausgebrannt", sagte Kristiana Vulcheva [3]. "Bitte vergesst uns nicht."

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