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Altes Ägypten: Friedhof der Kindersklaven

Ein merkwürdiger Friedhof, tausende Tote: In der Stadt des radikalen Pharaos Echnaton sind Archäologen auf ein Phänomen gestoßen, das in der Ägyptologie seinesgleichen sucht.
Arbeiter beim Zuschlagen der Talatat-Blöcke

Als "Erfinder" des Monotheismus und Ehemann der glamourösen Nofretete hatte Pharao Echnaton bislang ein überwiegend positives Image in der heutigen Bevölkerung. Doch nun fällt ein Schatten auf dieses idealisierte Bild: Wie die Archäologin Mary Shepperson im britischen "Guardian" berichtete, sprechen aktuelle Grabungsbefunde dafür, dass für den Bau der neuen Hauptstadt Amarna in großem Maßstab Kinder als Arbeiter eingesetzt wurden. Dass diese die Strapazen in der Regel nicht lang überlebten, scheint man billigend in Kauf genommen zu haben.

Auf die Spuren dieser Geschehnisse sind die Archäologen jetzt in Echnatons am Reißbrett entstandener Hauptstadt gestoßen, einem gewaltigen Renommierprojekt des Pharaos etwa auf halber Strecke zwischen den beiden traditionellen Hauptstädten Theben und Memphis. Hier hatte der Herrscher Repräsentationsbauten und Tempel in nur rund vier Jahren förmlich aus dem Boden stampfen lassen.

Schon am Beginn seiner Herrschaft stand die radikale Abkehr vom Alten. Nach seiner Thronbesteigung als Amenophis IV. setzte der neue Pharao als Erstes der Macht der Priesterschaft des alten Reichsgottes Amun ein Ende: Er ließ alle Götterkulte verbieten, mit Ausnahme desjenigen der Sonnenscheibe Aton. Aus Amenophis, "Amun ist zufrieden", wurde Echnaton, "dem Aton wohlgefällig".

Nicht nur im Namen des Herrschers, auch im Stadtbild sollte sich die neue Ordnung widerspiegeln. Noch in der ursprünglichen Hauptstadt Theben, kurz zuvor Hauptkultort des Amun, entstanden neue Tempel für Aton in Gestalt großer hintereinander aufgereihter Höfe, die mit Opferaltären vollgestellt waren, so dass nach den Glaubensvorstellungen der alten Ägypter die Sonne selbst mit ihren Strahlen die aufgetürmten Gaben "entgegennehmen" konnte. Diese großflächigen Kultstätten mussten, um den gewaltigen Amun-Tempel nach dessen Schließung auch architektonisch zu übertrumpfen, schnell hochgezogen werden.

Und die Anforderungen wuchsen noch, als Echnaton mit dem Bau seiner neuen Hauptstadt begann. Auch in Achet-Aton ("Horizont des Aton"), dem heutigen Tell el-Amarna, sollten imposante Aton-Tempel den kultischen Mittelpunkt des Machtzentrums bilden. Die Blüte der "Amarnazeit" währte indes nur kurz. 15 Jahre nach Baubeginn kam bereits der Verfall: Echnaton war tot, und Tutanchaton, der Nachwelt besser bekannt als Tutanchamun, kehrte dem Sonnenkult und der Stadt seines Vorgängers den Rücken. Achet-Aton wurde der Wüste überlassen.

Talatat-Blöcke aus den Steinbrüchen für Achet-Aton | Der Reliefblock aus dem Museum in Mallaui zeigt, wie Arbeiter die Steinquader für die Baustellen in Achet-Aton, dem heutigen Tell el-Amarna, zurechthauen. Die Steine waren so bemessen, dass sie von einem Einzelnen auf dem Rücken getragen werden konnten.

Schon in Theben hatte Echnaton oder einer seiner Architekten eine geniale Idee entwickelt, wie das Arbeitstempo auf den Baustellen signifikant erhöht werden konnte: Statt wie bisher für repräsentative Bauten gewaltige Steinquader herbeizuschaffen, wurde offensichtlich überlegt, wie groß und schwer ein Steinblock sein konnte, damit ihn möglichst wenige Personen transportieren und in den Mauerverbund einpassen konnten. Heraus kam dabei ein genormter "Steinziegel" von quadratischem Querschnitt mit einer Seitenlänge von einer halben ägyptischen Elle und einer Höhe von einer Elle. Also ein vergleichsweise handlicher Quader von umgerechnet etwa 27 mal 27 mal 54 Zentimeter Ausmaß. Auf Grund ihrer Länge, die in etwa drei Handspannen beträgt, bekamen die Blöcke von den Archäologen die moderne Bezeichnung "talatat" vom ägyptisch-arabischen Zahlwort "thalatha" für "drei".

Bildliche Darstellungen auf Reliefs der Amarnazeit zeigen, dass ein solcher Block von einer einzelnen Person auf dem Rücken transportiert wurde. Waren die Blöcke aus Sandstein, wogen sie rund 100 Kilogramm. Die aus Kalkstein waren noch einmal zehn Kilogramm schwerer.

Zwei Friedhöfe, die unterschiedlicher nicht sein könnten

Seit beinahe 200 Jahren beschäftigt das weiträumige Ruinengelände von Amarna nun schon die Archäologen. Aktuell finden Ausgrabungen durch ein Team des McDonald Institute for Archaeological Research der Universität von Cambridge statt, das sich in den letzten Jahren vor allem den Nekropolen widmete. Nicht die weithin sichtbaren Felsengräber der hohen Beamten standen im Fokus ihres Interesses, sondern die oberflächlich längst nicht mehr erkennbaren Friedhöfe der einfachen Leute.

Zwischen 2006 und 2013 wurden Grabungen im "South Tombs Cemetery" unternommen, einem Nekropolenareal, das südlich an die Felsgräber anschließt. Die meisten der rund 6000 Gräber dort waren stark geplündert, doch immerhin 400 halbwegs ungestörte Bestattungen konnten die Wissenschaftler ausfindig machen. Die dabei aufgefundenen Beigaben und Skelette deckten sich weitgehend mit den Erwartungen der Archäologen. Es zeigte sich das übliche Bild von Armut, harter Arbeit, dürftiger Ernährung, Erkrankungen, häufigen Verletzungen und relativ frühem Ableben, wie es Mary Shepperson, die seit 2006 selbst an den Grabungen beteiligt war, in ihrem Beitrag im "Guardian" auflistete.

Auch die statistischen Daten passten hier zum bekannten Schema. Der Anteil von Männern und Frauen war beispielsweise annähernd gleich, und selbst die Verteilung des Sterbealters zeigte das übliche Muster bei antiken Populationen: Auf eine hohe Kleinkindersterblichkeit folgt eine geringere Sterbequote bei etwas älteren Kindern bis ins jugendliche Alter; dann lässt sich wieder ein Anstieg bei Erwachsenen auf Grund von Krankheiten, Verletzungen, tödlich verlaufenden Geburten bei Frauen oder durch fortgeschrittenes Alter beobachten.

Als die Forscher im Jahr 2015 die Arbeiten an einem weiteren Friedhof aufnahmen, ergab sich jedoch ein völlig unerwarteter Befund. Hier, in einem breiten Seitental zwischen den Gräbern von Merirê II. und Ahmose (Gräber Nr. 2 und 3), die zur Felsgräbergruppe der hohen Beamten gehören, lagen andere Menschen als im Süden der Stadt. Schon nach den ersten Skelettfunden zeichnete sich ab, dass der nördliche Friedhof noch ärmlicher war. Jetzt gab es nahezu keine Grabbeigaben, und die Leichen waren nur in rohe Matten gewickelt worden. Je weiter die Grabungen voranschritten, desto rätselhafte wurden die Funde. In allen drei Grabungsarealen, die man über das gesamte Gelände des Friedhofs verteilt hatte, tauchten fast nur Skelette von minderjährigen Kindern und Jugendlichen auf. Kleinkinder und Erwachsene fehlten.

Verschleiß, Abnutzung und Brüche

Die anthropologische Analyse der 115 Individuen aus 85 Grabgruben des Nordfriedhofs untermauerte die Einschätzung der Archäologen mit konkreten Zahlen. Gretchen Dabbs von der Southern Illinois University fand heraus, dass mehr als 90 Prozent der Toten ein geschätztes Alter zwischen 7 und 25 Jahren aufwiesen. Die wenigsten hatten ihr 15 Lebensjahr überlebt. Einen solchen Friedhof für Jugendliche dürfte es der üblichen Statistik zufolge eigentlich nicht geben, denn genau in dieser Alterspanne zwischen 7 und 25 hatte man im Altertum die höchsten Überlebenschancen. Kleinkinder, die sonst umfangreichste Gruppe in Friedhöfen, fehlten hingegen fast völlig, nur drei der 105 Bestatteten waren unter sieben Jahre alt. Und diejenigen, die das höchste Lebensalter erreicht hatten, waren fast alle weiblichen Geschlechts. Kurzum: Der Nordfriedhof zeigt das genaue Gegenteil des zu erwartenden Musters einer antiken Nekropole.

Die plausibelste Erklärung für dieses Phänomen lieferte die Pathologie, denn die Skelette zeigten bei der Mehrzahl der 15- bis 25-Jährigen überdurchschnittlich häufig traumatische Verletzungen und Degenerationserscheinungen auf. Jeder Zehnte hatte fortgeschrittene Arthrose. Selbst bei den unter 15-Jährigen wiesen 16 Prozent der Individuen Abnormitäten und Brüche an der Wirbelsäule auf. Dieser Friedhof beherbergte demnach nahezu ausschließlich Kinder ab sieben Jahren und Jugendliche, die vor ihrem Tod permanent Schwerstarbeit geleistet hatten. Und naheliegend ist, dass sie dies auf der benachbarten Großbaustelle Echnatons taten.

Man muss dabei natürlich berücksichtigen, dass unsere heutige Definition von "Kindheit" nicht auf die Antike übertragbar ist. Kinderehen ab Eintritt der Geschlechtsreife und entsprechend frühe Schwangerschaften waren an der Tagesordnung, in den Haushalten der einfachen Bevölkerung musste jeder ohne Rücksicht auf sein Alter bei der Arbeit mit anpacken, und die Pharaonen nahmen wahrscheinlich in einigen Fällen die Kronprinzen schon im Kindesalter auf ihre Feldzüge mit. Ein Großteil der auf dem nördlichen Friedhof beigesetzten minderjährigen Arbeiter galt für die alten Ägypter demnach als erwachsen.

Das Fehlen älterer Erwachsener im Nordfriedhof könnte zwei Gründe haben. Entweder die Arbeiter wurden entlassen oder versetzt, wenn sie ein gewisses Alter erreicht hatten. Oder, was wahrscheinlicher ist, die Art der Arbeit und die Lebensbedingungen ließen keinen der Beteiligten älter als 25 werden, wobei man den Statistiken zufolge Glück hatte, wenn man unter diesen Umständen überhaupt das 15. Lebensjahr erreichte.

Ein Grab pro Tag?

Hinzu kam, dass fast die Hälfte der Gräber mehr als einen Toten enthielt. Mitunter waren es bis zu fünf oder sechs – deutlich mehr als in den anderen Friedhöfen in Amarna. In den Südgräbern hatten die wenigen Mehrfachbestattungen wohl immer familiäre Gründe, die Toten lagen nebeneinander, und die Gräber waren dann doppelt oder dreimal so breit wie bei Einzelbestattungen. In den Nordgräbern hingegen liegen die Toten übereinander, und alle Gruben sind fast gleich groß. Hatte man sie schon ausgehoben, ohne zu wissen, wie viele Tote hineinkommen würden? Man kann natürlich nur darüber spekulieren, in welcher Regelmäßigkeit die Beisetzungen in dem hochgerechnet über 1000 Gräber zählenden Friedhof stattfanden. Lange wird man die Leichen nicht aufbewahrt haben, so dass selbst ein Grab mit sechs Skeletten die Todesrate eines einzigen Arbeitstages widerspiegeln könnte.

Wahrscheinlich ist auch die Lage des Friedhofes am Nordrand von Amarna kein Zufall, denn in dieser Himmelsrichtung außerhalb der Stadt liegen die weitläufigen Kalksteinbrüche, in denen die Talatat-Blöcke gewonnen wurden und in denen man erst vor wenigen Jahren eine Inschrift entdeckte, der zufolge Nofretete noch im 16. und damit vorletzten Regierungsjahr ihres Mannes Echnaton am Leben war und ihn deswegen möglicherweise sogar überlebt hat.

Doch woher stammten die Kinder und Jugendlichen, die wahrscheinlich in den Steinbrüchen als Arbeitskräfte zum Einsatz kamen. Es könnten ägyptische Kinder gewesen sein, die von ihren Familien für das Bauprojekt abgestellt werden mussten, denn ein erzwungener und unentgeltlicher Arbeitseinsatz der Untertanen ist auch bei anderen pharaonischen Großprojekten belegt. Gegen diese Annahme spricht allerdings die Art der Bestattungen. Aus Sicht der Ägypter hätte es in der Verantwortung der Angehörigen gelegen, den Verstorbenen durch Rituale und Beigaben ein Leben nach dem Tod zu ermöglichen. Dass dies im Nordfriedhof unterblieb, deutet darauf hin, dass die Kinder entweder keine Verwandten mehr hatten oder zu weit entfernt von ihnen lebten.

Vielleicht rekrutierte Echnaton auch die Kinder von Sklaven, über die ohnehin frei verfügt werden konnte. Oder es handelte sich um gefangen genommene oder deportierte ausländische Minderjährige. Dies würde zwar deren Elternlosigkeit erklären, aber man fragt sich, warum die Ägypter nicht ältere und damit kräftigere Zwangsarbeiter erbeutet haben. Als beispielsweise Jahrzehnte später Ramses II. (1279-1213 v. Chr.) im unternubischen Wadi es-Sebua einen Felsentempel aus dem Berg meißeln ließ, unternahm der zuständige Bauleiter, ein Vizekönig von Nubien namens Setau, vorab einen Feldzug mit dem Ziel, möglichst viele arbeitsfähige Kriegsgefangene zu machen.

Noch mehr Spuren von Kinderarbeit?

Wer die Toten des Nordfriedhofs waren und woher sie stammten, darauf werden noch am ehesten die für die Zukunft geplanten Genanalysen eine Antwort geben können. Allerdings sind Untersuchungen alter DNA in heißen Klimazonen notorisch schwierig und die Ergebnisse mit Vorsicht zu genießen.

Über alldem schwebt noch eine weitere Frage. Amarna, die Stadt und die nach ihr benannte Epoche, stellt in vielen Punkten einen Sonderfall in der pharaonenzeitlichen Geschichte dar. War auch der massenhafte Einsatz minderjähriger Zwangsarbeiter ein Unikum? Eine zweieinhalb mal acht Meter große Mörtelgrube aus Piramesse, der ehemaligen Reichshauptstadt von Ramses II. lässt anderes vermuten.

Im Februar 2017 gab die ägyptische Altertümerverwaltung bekannt, dass sich im Material der Grube die Abdrücke von Kinderfüßen erhalten haben. Kaum 17 Zentimeter groß waren die Fußstapfen, was nach heutigem Maßstab einem Alter von drei bis fünf Jahren entspricht. Die Mörtelgrube gehörte zur Baustelle eines monumentalen Gebäudekomplexes. Auch hier spekulieren einige, dass man Kleinkinder zum Stampfen von Lehm eingesetzt hätte.

Dieser Deutung widersprach seinerzeit der Grabungsleiter Henning Franzmeier vom Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim. Kinder unter fünf seien einfach zu jung, um sinnvoll auf Baustellen eingesetzt zu werden, was nun nicht zuletzt die Funde vom Nordfriedhof von Amarna bestätigen. Laut Franzmeier ist momentan nicht einmal zu ermitteln, ob die Abdrücke zu mehreren oder nur zu einem Kind gehören. Forensiker sollen nun nachweisen, ob hier nicht am Ende vielleicht ein einzelnes Kleinkind vergnügt im Matsch herumsprang. Spielende Kinder auf der Großbaustelle – einen größeren Kontrast zu den Verhältnissen in Amarna könnte es dann kaum geben.

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