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News: Friedliche Invasion

Wer brachte uns unsere Sprache: Krieger aus Zentralasien oder Bauern aus Anatolien? Bisher vertraten etliche Sprachwissenschaftler die militante Variante, doch jetzt mehren sich Hinweise für die friedliche Version.
Sie hatten keine Chance. Die gegnerischen Heere waren zahlenmäßig und technisch weit überlegen. Jeglicher Widerstand der Verteidiger brach schnell in sich zusammen, ihre Kultur wurde fast vollständig vernichtet, die Bevölkerung versklavt, ihre Eliten ausgelöscht. Die Auswirkungen der Invasion waren verheerend; die Eroberer schreckten noch nicht einmal davor zurück, ein wesentliches Kulturgut den Besiegten aufzuzwingen: die Sprache.

So ähnlich stellen sich Linguisten und Historiker die Entstehung einer Sprachfamilie vor, die mit heute über zwei Milliarden Sprechern am weitesten auf der Erde verbreitetet ist. Fast alle Europäer sprechen wie Perser und Inder eine der vielen indoeuropäischen Sprachen – früher auch indogermanisch genannt –, und die Kolonialisierung der Neuzeit sorgte für deren weltweite Ausbreitung. Lediglich die Ungarn, Finnen und Esten sowie die Basken ziehen Idiome vor, die nicht zur indoeuropäischen Familie zählen.

Dabei war das Verbreitungsgebiet des Indoeuropäischen von Irland bis Indien bereits vor etwa 5000 Jahren erreicht. Wo lag sein Ursprung? Archäologische und linguistische Untersuchungen lokalisierten die Urkeimzelle unserer Sprachen in den Steppen Zentralasiens westlich des Urals. Hier lebte am Ende des Neolithikums ein kriegerisches Reitervolk: die Kurganen, die ihren Namen ihren typischen Grabhügeln – auf russisch Kurgan – zu verdanken haben. Und vor vielleicht 6000 Jahren brachen die Kurganen zu einem nie dagewesenen Feldzug auf und überrannten mit ihren Reiterhorden nach und nach weite Teile Europas.

Doch stimmt dieses Szenario? Was soll die Kurganen – zu einer Zeit, als die Bevölkerungsdichte noch minimal war – veranlasst haben, ihre Heimat zu verlassen und fast die gesamte damals bekannte Welt zu unterjochen? Etliche Linguisten bezweifeln daher diesen martialischen Ursprung unserer Sprachen und ziehen eine friedlichere Variante vor. Denn einige Jahrtausende zuvor sickerte vom Osten her eine Errungenschaft nach Europa, die revolutionäre Veränderungen auslösen sollte: die Landwirtschaft. Demnach hätten nicht berittene Reiterhorden aus Zentralasien, sondern friedliche Bauern aus Anatolien ihre Sprache im Reisegepäck gehabt.

Archäologische Spuren dieser Einwanderungswelle, die sich über Generationen sehr langsam mit vielleicht einem Kilometer pro Jahr fortpflanzte, sind zwar spärlich, doch lässt sich vermuten, dass die Landwirtschaft Griechenland irgendwann im siebten vorchristlichen Jahrtausend erreichte und vor 5500 Jahren schließlich bis nach Schottland gelangte.

Auch in unserem Erbgut spiegeln sich die Einwanderer immer noch wider. Und mit den gleichen Methoden, wie Genetiker und Evolutionsbiologen Stammbäume des Lebens aufstellen, versuchen Linguisten Stammbäume der Sprachen zu entwickeln und so Rückschlüsse über Art und Herkunft der Urform zu ziehen.

Die Methode, die als Glottochronologie bezeichnet wird, vergleicht hierzu einzelne Wörter der jeweiligen Sprachen. Genauso wie sich Gene im Laufe der Evolution verändern, entwickeln sich auch Wörter, und je mehr sie sich voneinander unterscheiden, desto länger liegt der "gemeinsame Vorfahre" zurück. Unter der Annahme einer konstanten "Mutationsrate" der Wörter und geeicht über historisch gesicherte Ereignisse, lässt sich der "Stammbaum" sogar einigermaßen gut datieren.

Doch wie Genetiker müssen Glottochronologen mit etlichen Fallstricken rechnen. So gibt es auch in der Sprache das Problem der Konvergenz, wenn eine Ähnlichkeit nicht auf einen gemeinsamen Ursprung, sondern auf parallele Entwicklung zurückzuführen ist. Und das Phänomen des "horizontalen Gentransfers" kennen die Sprachforscher ebenfalls. Schließlich ist unsere Sprache reich an Lehnworten von benachbarten Völkern, welche die Suche nach dem Ahnen erschweren. Deshalb stützen sich die Linguisten bei ihrem Sprachvergleich auf sorgfältig ausgewählte Basiswörter, wie etwa Zahlen und die Bezeichnungen von Körperteilen, von denen angenommen werden kann, dass sie zum ursprünglichen Wortschatz gehören.

Nach dieser Methode versuchten nun Russell Gray und Quentin Atkinson von der University of Auckland im fernen Neuseeland den Stammvater der europäisch-indischen Sprachen zu finden. Gestützt auf neueste statistische Verfahren fütterten sie ihren Computer mit knapp 2500 Basiswörtern aus 87 Sprachen. Der Rechner spuckte daraufhin einen Stammbaum des Indoeuropäischen aus, der Anhänger der Kurgan-Hypothese wenig erfreuen wird.

Demnach liegt der Ursprung der Sprachfamilie 8700 Jahre zurück – also weit länger als die angenommene Kurgan-Invasion. Die älteste indoeuropäische Sprache ist nach Ansicht der beiden Wissenschaftler das längst untergegangene Hethitisch, gesprochen von einem Volk, das damals in Anatolien ansässig war.

Etwa 800 Jahre später spaltete sich Tocharisch ab, eine ausgestorbene Sprache Chinas, und nach noch einmal 600 Jahren, also vor 7300 Jahren, folgte mit Griechisch, neben Armenisch, die erste Sprache des europäischen Kontinents.

Dann war alles nur noch eine Frage der Zeit: Nach Abspaltung von Albanisch sowie der persischen und indischen Sprachen gingen vor 6500 Jahren die Slawen eigene sprachliche Wege, vor 6100 Jahren tauchten keltische Idiome auf, und vor 5500 Jahren trennten sich Germanen und Romanen.

Wenn der Sprachenstammbaum von Gray und Atkinson halbwegs zutrifft, dann hätte das postulierte kriegerische Szenario vermutlich so nicht stattgefunden. Und vielleicht ist die Vorstellung von friedlich einwandernden Bauern aus der heutigen Türkei auch angenehmer, die mit der modernsten Technologie der damaligen Zeit – der Landwirtschaft – und ihrem wichtigsten Kulturgut – der Sprache – Europa entscheidende Entwicklungshilfe geleistet haben.

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