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Wissenschaftstheorie: Frontalangriff auf die wissenschaftliche Methode

Spekulative Theorien bedürfen laut einigen Forschern keiner experimentellen Überprüfung, um als wissenschaftlich zu gelten. Dieser Ansatz untergräbt die Wissenschaft, kritisieren George Ellis und Joe Silk.
Drei Gläser: Voll, halb voll und leer

Im vergangenen Jahr nahm eine Debatte in der Physik eine beunruhigende Wende: Nicht alle fundamentalen Theorien lassen sich anhand von Beobachtungen überprüfen und so fordern einige Wissenschaftler, das Vorgehen in der theoretischen Physik anzupassen. Sei eine Theorie nur ausreichend elegant und aussagekräftig, so ihr Appell, müsse diese nicht experimentell überprüft werden – das bricht mit jahrhundertealter philosophischer Tradition, nach der wissenschaftliche Erkenntnis sich erst durch empirische Befunde bewähren muss. Wir kritisieren den neuen Ansatz scharf, denn wie der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper bereits feststellte: Jede wissenschaftliche Theorie muss falsifizierbar sein.

Unter den Befürwortern des "Eleganz-genügt-Prinzips" finden sich vor allem Stringtheoretiker. Denn die Stringtheorie sei angeblich die einzige Möglichkeit, die vier physikalischen Grundkräfte zu vereinigen, und so müsse sie zumindest ein Fünkchen Wahrheit enthalten – auch wenn sie auf zusätzlichen Dimensionen fußt, die wir niemals erfassen können. Auch einige Kosmologen würden gerne auf die experimentelle Überprüfung von ästhetischen Hypothesen verzichten, wenn sich diese in einem nicht erfassbaren Rahmen abspielen, wie beispielsweise das kaleidoskopische Multiversum (bestehend aus unzähligen Universen), die "Viele-Welten-Deutung" der Quantenmechanik (in der Messungen parallele Realitätszweige hervorrufen) und Konzepte von einer Zeit vor dem Urknall.

Diese nicht überprüfbaren Hypothesen unterscheiden sich grundlegend von solchen, die sich unmittelbar auf die reale Welt beziehen und durch Beobachtungen testen lassen – wie das Standardmodell der Teilchenphysik oder die Existenz von Dunkler Materie und Dunkler Energie. Aus unserer Sicht riskiert die theoretische Physik, zu einem Niemandsland zwischen Mathematik, Physik und Philosophie zu verkommen und keiner der jeweiligen Anforderungen wirklich gerecht zu werden.

Die Überprüfbarkeit von Theorien ist bereits seit einem Jahrzehnt ein Thema, wenn auch eher unterschwellig. In Büchern und Artikeln kritisierten Autoren die Stringtheorie sowie die Idee eines Multiversums, darunter auch George Ellis. Im März 2014 schrieb der Theoretiker Paul Steinhardt in der Zeitschrift "Nature", dass sich die kosmologische Theorie eines inflationären Universums nicht länger wissenschaftlich nennen dürfe. Denn sie sei so anpassungsfähig, dass sie sich mit jedem experimentellen Ergebnis vereinbaren ließe. Der Theoretiker und Philosoph Richard Dawid und der Kosmologe Sean Carroll halten dieser Kritik philosophische Argumente entgegen, um die Anforderungen an die Überprüfbarkeit von grundlegender Physik abzuschwächen.

Dawid, Carroll und weitere Physiker haben das Thema in den Fokus gerückt, und das begrüßen wir. Doch der drastische Schritt, für den sie eintreten, bedarf einer gründlichen Debatte. Schließlich wird diese Kontroverse um das Herz und die Seele der Physik zu einer Zeit eröffnet, in der wissenschaftliche Ergebnisse – von der Klimaforschung bis hin zur Evolutionstheorie – von einigen Politikern und religiösen Fundamentalisten in Frage gestellt werden. Es gilt nun, den eventuellen Schaden am öffentlichen Vertrauen in die Wissenschaft sowie am Wesen der Grundlagenphysik durch einen vertieften Dialog zwischen Wissenschaftlern und Philosophen so gering wie möglich zu halten.

Die Stringtheorie

Der Stringtheorie zufolge setzt sich die gesamte Welt aus winzigen, räumlich eindimensionalen Objekten, so genannten Strings, sowie aus höherdimensionalen Objekten namens Branen zusammen, die in höherdimensionalen Räumen existieren. Die zusätzlichen Dimensionen sind dabei eng zusammengerollt und damit zu klein, um sie bei den Kollisionsenergien nachzuweisen, die ein zukünftiger und praktisch umsetzbarer Teilchenbeschleuniger erreichen könnte.

Einige Aspekte der Stringtheorie ließen sich prinzipiell sogar experimentell überprüfen. Laut einer für die Stringtheorie zentralen, aber noch hypothetischen Symmetrie zwischen Fermionen und Bosonen – genannt Supersymmetrie – müsste beispielsweise jedes Teilchen einen bislang noch unbekannten Partner haben. Auch im Large Hadron Collider am Forschungszentrum CERN nahe Genf ließen sich solche Partnerteilchen bis jetzt nicht aufspüren. Der Energiebereich, in dem sich die Supersymmetrie zeigen könnte, wird dadurch immer mehr eingeschränkt. Entziehen sich die supersymmetrischen Teilchen auch weiterhin einem Nachweis, dann werden wir möglicherweise nie erfahren, ob es sie tatsächlich gibt. Denn die Anhänger dieser Idee können immer behaupten, dass die Massen der Teilchen höher sind als die bisher untersuchten Energien.

Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten | Mit Hilfe von Calabi-Yau-Mannigfaltigkeiten kann man angeben, wie die Extradimensionen der Stringtheorie »zusammengeknüllt« werden könnten.

Laut Dawid ließe sich die Richtigkeit der Stringtheorie durch philosophische und wahrscheinlichkeitstheoretische Betrachtungen des Forschungsprozesses feststellen. Er beruft sich dabei auf den bayesschen Ansatz – mit diesem statistischen Verfahren lässt sich die Wahrscheinlichkeit angeben, mit der eine Aussage einen bestimmten Sachverhalt korrekt beschreibt – und setzt eine Bestätigung mit dem Anstieg einer Wahrscheinlichkeit dafür gleich, dass eine Theorie wahr oder plausibel ist. Doch dieser Anstieg der Wahrscheinlichkeit kann rein theoretisch sein. Weil "niemand eine gute Alternative gefunden hat" und "Theorien ohne Alternativen sich in der Vergangenheit oft bewährt haben", argumentiert Dawid, solle man die Stringtheorie als gültig erachten.

Und das legt die Messlatte willkürlich tiefer, finden wir. Während das Vertrauen in eine wissenschaftliche Theorie für gewöhnlich wächst, wenn empirische Belege die Idee untermauern, schlägt Dawid vor, dass allein theoretische Erkenntnisse dieses Vertrauen stützen. Doch nicht alle Schlüsse, die sich aus der Mathematik logisch ziehen lassen, müssen auch auf die reale Welt zutreffen. In Experimenten stellten sich viele schöne und einfache Theorien als falsch heraus – von der Gleichgewichts- oder Steady-State-Theorie der Kosmologie bis zur SU(5)-Theorie der Teilchenphysik, in der sich elektroschwache und starke Kraft vereinigen lassen. Die Vorstellung, dass man grundlegende Wahrheiten über die Welt jenseits überprüfter Tatsachen ableiten könne (Induktivismus), haben Karl Popper und andere Philosophen des 20. Jahrhunderts verworfen.

Wir können nicht sicher wissen, dass keine alternativen Theorien existieren. Vielleicht haben wir diese einfach noch nicht gefunden. Auch die Prämisse könnte falsch sein. Denn möglicherweise bedarf es gar keiner allumfassenden Theorie der vier fundamentalen Kräfte, wenn sich die Gravitation – zurückgeführt auf eine Krümmung der Raumzeit – von der starken, schwachen und elektromagnetischen Kraft zwischen den Elementarteilchen unterscheidet. Hinzu kommt: Die Stringtheorie ist mit ihren vielen Varianten noch nicht einmal klar definiert. Aus unserer Sicht gleicht eine solche vereinheitlichte Theorie einem ungedeckten Scheck.

Viele Multiversen

Die Idee eines Multiversums gründet auf einem Mysterium: Warum liegen die Werte von Naturkonstanten wie etwa der Feinstrukturkonstante, welche die Stärke der elektromagnetischen Wechselwirkung beschreibt, oder der kosmologischen Konstante, die mit der beschleunigten Expansion des Universums zusammenhängt, gerade innerhalb jenes sehr engen Bereichs, in dem sich Leben entwickeln kann? Der Multiversumtheorie zufolge gibt es Milliarden von unbeobachtbaren Paralleluniversen, in denen alle möglichen Werte dieser Konstanten auftreten. Irgendwo muss also ein lebensfreundliches Universum wie das unsere existieren, so unwahrscheinlich das auch sein mag.

Das Multiversum sei unschlagbar darin, so meinen etliche Physiker, auch viele weitere wundersame Zufälle zu erklären. So lässt sich beispielsweise der niedrige Wert der kosmologischen Konstante – die immerhin um 120 Größenordnungen kleiner ausfällt als der von der Quantenfeldtheorie vorhergesagte Wert – nur schwer verstehen.

Im vergangenen Jahr tat Carroll als Vertreter der Multiversum- und Viele-Welten-Hypothese das Kriterium der Falsifizierbarkeit nach Popper als "plumpes Instrument" ab. Er nennt stattdessen zwei andere Bedingungen: Eine wissenschaftliche Theorie solle "klar" und "empirisch" sein. Unter "klar" versteht Carroll, dass die Theorie "präzise und eindeutige Aussagen über das Wesen der Realität macht". Bei der zweiten Voraussetzung – empirisch – schließt er sich der gängigen Definition an, dass Erfolg oder Misserfolg einer Theorie sich danach beurteilen lassen, ob diese mit den bisherigen Daten übereinstimmt.

Unzugängliche Bereiche können einen "drastischen Effekt" auf unseren kosmischen Hinterhof haben, so Carroll, und das würde erklären, warum die kosmologische Konstante in den von uns beobachtbaren Raumregionen so klein ausfällt. Im Rahmen der Multiversumtheorie ließe sich diese Erklärung jedoch immer anführen, egal was Astronomen messen. Denn es dürften nicht nur alle denkbaren Kombinationen von kosmologischen Parametern irgendwo vorkommen, die Theorie enthält auch viele Variablen, die justiert werden können. Andere Theorien, wie die unimodulare Gravitation – eine modifizierte Form der allgemeinen Relativitätstheorie – , können ebenfalls erklären, warum die kosmologische Konstante klein ist.

Physiker entwickelten aber auch überprüfbare Varianten der Multiversumtheorie: Die Version von Leonard Susskind ließe sich beispielsweise falsifizieren, wenn man eine negative Raumkrümmung des Universums nachweisen könnte. Allerdings würde dieser Befund nichts über die vielen anderen Varianten aussagen. Letztlich beruht die Idee eines Multiversums auf der Stringtheorie, die bislang noch nicht bestätigt wurde, und auf spekulativen Mechanismen, die unterschiedliche Physik in unterschiedlichen Paralleluniversen ermöglichen. Daher ist diese Hypothese unserer Meinung nach nicht belastbar, geschweige denn überprüfbar.

Bei der Viele-Welten-Interpretation der Quantenmechanik, vorgeschlagen von dem Physiker Hugh Everett, wirken sich quantenmechanische Wahrscheinlichkeiten auch auf die makroskopische Welt aus. Laut Everett wäre jede von Schrödingers berühmten Katzen in einem eigenen Universum realisiert: die toten und die lebendigen, die also in ihrer verschlossenen Kiste vergiftet wurden oder eben nicht – je nachdem, ob ein radioaktiver Zerfall stattfand oder eben nicht. Auch wenn wir eine Entscheidung treffen – und sei es nur, dass wir jetzt nach links und nicht nach rechts gehen – ploppt jedes Mal ein alternatives Universum aus dem Quantenvakuum auf, in dem wir die jeweils andere Option wählen, also etwa nach rechts gehen.

Auf diese Weise häufen sich Milliarden von Universen – und von Galaxien und Kopien von jedem von uns – an, ohne dass zwischen ihnen eine Kommunikation möglich wäre oder sich ihre Existenz überprüfen ließe. Doch sollte tatsächlich in jeder Welt dieses Multiversums eine Kopie von uns leben und gäbe es unendlich viele davon – welches "Ich" nehmen wir dann in diesem Moment wahr? Ist jeder Abklatsch von sich selbst jedem anderen gegenüber bevorzugt? Und wie kann "Ich" jemals wissen, was das "wahre" Wesen der Realität ist, wenn sich das eine Selbst für ein Multiversum ausspricht und das andere nicht?

Unserer Ansicht nach sollten Kosmologen die mahnenden Worte des Mathematikers David Hilbert beherzigen: Obwohl man die Unendlichkeit braucht, um die Mathematik zu vervollständigen, findet sich diese nirgendwo im materiellen Universum.

Den Test bestehen

Wir können uns nur der theoretischen Physikerin Sabine Hossenfelder anschließen: Postempirische Wissenschaft ist ein Oxymoron (siehe zum Beispiel hier und hier). Theorien wie die Quantenmechanik und Relativitätstheorie haben sich bewährt, weil ihre Vorhersagen viele Tests erfolgreich bestanden haben. Dennoch zeigen zahlreiche historische Beispiele, wie Forscher durch elegante und überzeugende Ideen in die falsche Richtung gelenkt wurden, weil adäquate Daten fehlten – vom geozentrischen Weltbild des Ptolemäus über Lord Kelvins Vortex-Atommodell bis hin zu Fred Hoyles immerwährendem Steady-State-Universum.

Die Bedeutung bestimmter Theorien zu überschätzen, kann schwerwiegende Folgen haben – die wissenschaftliche Methode steht auf dem Spiel. Zu behaupten, eine Theorie sei so gut, dass ihre bloße Existenz alles Datenmaterial und eine Überprüfung ersetzen kann, birgt unserer Meinung nach ein großes Risiko: Es vermittelt Studenten und der Öffentlichkeit einen falschen Eindruck davon, wie Wissenschaft betrieben werden sollte. Darüber hinaus könnte es Tür und Tor für Pseudowissenschaftler öffnen, indem diese vorgeben, ihre Ideen würden ähnlichen Anforderungen genügen.

Was ist zu tun? Physiker, Philosophen und andere Wissenschaftler sollten die wissenschaftliche Methode so umgestalten, dass diese auch mit moderner Physik umgehen kann. Aus unserer Sicht lässt sich das Problem auf die Klärung einer Frage reduzieren: Welche möglichen Indizien ließen sich anhand von Beobachtungen oder Experimenten auffinden und würden einen davon überzeugen, dass eine Theorie falsch ist und man sie aufgeben muss? Wenn es keine gibt, handelt es sich um keine wissenschaftliche Theorie.

Diese Debatte muss in einem formalen philosophischen Rahmen geführt werden. Um die ersten Schritte zu unternehmen, sollte noch in diesem Jahr eine Tagung veranstaltet werden. Unter den Gästen würden Anhänger aus beiden Lagern der Überprüfbarkeitsdebatte sein.

Bis dahin könnten die Herausgeber und Verleger von Zeitschriften spekulative Forschungsarbeiten unter anderen Kategorien einsortieren – etwa unter mathematischer anstatt physikalischer Kosmologie, abhängig von der möglichen Überprüfbarkeit. Auch die Vorherrschaft solcher Aktivitäten an manchen physikalischen Fakultäten und Instituten könnte überdacht werden. Mit dem Titel "wissenschaftlich" darf sich eine Theorie nur dann schmücken, wenn sie überprüfbar ist. Nur so können wir die Wissenschaft vor Angriffen schützen.

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