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News: Frühes soziales Netz

Ausgerüstet mit mächtigen Kieferknochen und breiten Backenzähnen konnten die Vorfahren der Neandertaler harte Nüsse knacken und sogar feste Wurzelknollen zermahlen. Und selbst wenn der Zahn der Zeit oder Krankheiten deutliche Spuren an seinem Kauapparat hinterlassen hatten, bedeutete dies nicht das sichere Todesurteil für den Betroffenen. Denn dank der Hilfe seiner Artgenossen vermochte er noch eine Weile zu überleben. Ein kürzlich entdeckter, zahnloser Kieferknochen zeigt, dass ein solches soziales Verhalten sehr viel älter ist als bisher vermutet.
Auf dem wenig abwechslungsreichen Speiseplan der aufrecht gehenden Hominiden, die vor einigen Millionen Jahren lebten, stand vermutlich größtenteils harte, faserreiche Nahrung. Um Nüsse, Wurzelknollen oder Wildgetreide aufschließen zu können, war ein kräftiges Gebiss mit großen Kauflächen der Backenzähne und eine gut ausgebildete Kaumuskulatur vonnöten. Diese Grundausstattung sicherte unseren Vorfahren das Überleben. Doch was geschah, wenn sich ihre Zähne im Laufe der Zeit abnutzten oder gar ganz ausfielen? Da jene frühen Erdenbewohner noch keine Steinwerkzeuge oder andere ähnliche Hilfsmittel kannten, mit denen sie ihre Nahrung in irgendeiner Weise bearbeiten konnten, waren zahnlose Individuen vermutlich dem Tode geweiht.

Es sei denn, dass sich Familienangehörige oder Freunde den hilfsbedürftigen Personen annahmen und sich um sie kümmerten. In der Tat zeigten bereits die Neandertaler ein derartiges soziales Verhalten, worauf die Skelettfunde von älteren und kranken Steinzeitmenschen hindeuten. Bislang nahmen Wissenschaftler an, dass jene Hilfeleistungen erst zur Zeit der Jäger und Sammler vor etwa 50 000 Jahren aufgekommen sind, doch nun wurden sie eines besseren belehrt.

Denn Serge Lebel von der Université du Quebec in Montreal, Erik Trinkaus von der Washington University in St. Louis sowie ihre Kollegen entdeckten in der französischen Region Vaucluse den etwa 175 000 Jahre alten Kieferknochen eines Vorfahren der Neandertaler, der aufgrund einer schweren Zahnfleischerkrankung alle Zähne verloren hatte. Der durch das Kauen abgenutzte Knochen ist jedoch nachgewachsen und hat die entstandenen Zahnlücken ausgefüllt. Demnach ist der Besitzer jenes Kauapparates trotz des vollständigen Zahnverlustes nicht sofort gestorben, sondern hat selbst ohne Kauwerkzeuge noch mindestens einige Monate überlebt.

Da jener zahnlose frühe Hominide jedoch nicht mehr selber in der Lage war, seine Nahrung aufzuschließen, müssen ihn offenbar andere mit weichem Essbaren versorgt haben. "Das Individuum hat bevorzugt weiche Nahrungshäppchen oder Hilfe bekommen", vermutet Trinkaus. Somit sorgten nicht erst die Neandertaler, sondern bereits deren Vorfahren für ihre kranken und hilfsbedürftigen Zeitgenossen.

Bedeutende Elemente eines sozialen Verhaltens waren demnach bereits über 100 000 Jahre früher ausgeprägt als ursprünglich angenommen. Doch nach wie vor bleibt es ein Rätsel, wann erste Anzeichen einer mitmenschlichen Fürsorge zu verzeichnen sind. Unsere Verwandten bei den Primaten sind zwar als soziale Tiere bekannt, doch sie zeichnen sich nicht durch eine Pflege von schwachen und hilfsbedürftigen Gruppenmitgliedern aus. Laut Trinkaus deuten vielmehr Studien darauf hin, dass der vollständige Zahnverlust für ältere Artgenossen das sichere Todesurteil bedeutet.

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