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Hirnforschung: Gedanken ohne Rhythmus

Rhythmische Hirnaktivität könnte eine Menge nützlicher Aufgaben erfüllen - theoretisch. Tatsächlich scheint das Oszillieren der Zellverbände von ganz profanen Faktoren abzuhängen, wie eine Studie nun nahelegt.
MRT-Hirnscans im Durchlicht
Mit handelsüblichen EEG-Elektroden und ein wenig computergestützter Datenmassage ist das Phänomen vergleichsweise einfach zu beobachten: das rhythmische Schwingen der Hirnaktivität. In all dem Chaos und Rauschen, das bei solchen Hirnstrom-Messungen über den Bildschirm flimmert, liefern die Hirnwellen einen ersten Anhaltspunkt dafür, dass so etwas wie Struktur im Feuern der Neurone verborgen liegt.

Die Frage ist nur: welche? Einteilen lassen sich die Wellen nach der Frequenz der Schwingungen. Beispielsweise in den Bereich der Alphawellen: Bei geschlossenen Augen und entspannter Grundstimmung zeigt sich im Spektrum des EEG ein hoher Anteil von Frequenzen im Bereich von 8 bis 13 Hertz. Ein ruhiges Schwingen des gesamten Gehirns.

Ganz anders dagegen beim scharfen Nachdenken. Hier flattern rasante Gammawellen über den Kortex. Wegen ihrer vergleichsweise hohen Frequenz von 30 bis 80 Hertz hatten sie lange Zeit die Empfindlichkeitsgrenze der Messgeräte unterlaufen – und damit auch die Wahrnehmungsschwelle der Forscher. Da sie vor allem dann feststellbar sind, wenn der Proband mit anspruchsvolleren Aufgaben beschäftigt ist, scheinen sie mit höheren kognitiven Leistungen in Zusammenhang zu stehen. Aber wie genau die Liaison zwischen Denkprozess und Hirnwellen ausfällt, darüber gehen die Vorstellungen auseinander.

Folge oder Voraussetzung neuronaler Verarbeitung?

Völlig offen ist nämlich noch immer die Grundfrage: Sind die Wellen ein reines Epiphänomen, also bloß die Folge einer aus ganz anderen Gründen rhythmischen Hirnaktivität? Oder stellt im Gegenteil das Schwingen die eigentliche Voraussetzung für den geordneten Ablauf der neuronalen Verarbeitung dar?

Insbesondere bei den Gammawellen halten Forscher Letzteres für durchaus plausibel. Die hochfrequenten Schwingungen könnten beispielsweise als Taktgeber fungieren, der es Hirnarealen erlaubt, aus dem Störfeuer eintreffender Signale die relevanten herauszufiltern. Informationen könnten auch im zeitlichen Unterschied zwischen dem "globaleren" Gammaimpuls und dem Feuern einer einzelnen Zelle kodiert sein. Eine der spektakulärsten Hypothesen bringt den Gammarhythmus in Zusammenhang mit dem Bewusstsein: Betrachtet man beispielsweise einen grünen Kreis und ein rotes Dreieck, muss das Gehirn die beiden Farben – die im Hirnbereich X erkannt werden – mit den geometrischen Formen – die in Bereich Y verarbeitet werden – zusammenführen. Und das muss natürlich genau in der richtigen Kombination geschehen. Das Dreieck darf nicht mal mit "rot" und mal mit "grün" assoziiert werden.

Bei diesem im Fachjargon englisch "Binding" genannten Problem könnten die Gammawellen eine Rolle spielen. Denkbar ist es nämlich, dass die jeweils zusammengehörenden Zellverbände ("Dreieck" + "rot") in ein und derselben Frequenz aus dem Gammabereich schwingen. Weit entfernte Regionen im Hirn könnten so ihre Aktivität synchronisieren – theoretisch: Für all diese Ansätze gibt es Hinweise aus Experimenten an Mensch und Tier sowie aus Computermodellen. Wirklich gelöst ist das Problem indessen noch nicht.

Schwankende Gammawellen in der Sehrinde

Supratim Ray und John Maunsell von der Harvard Medical School in Boston beispielsweise lassen sich eher dem Lager der "Epiphänomenalisten" zuschlagen: Sie halten es für wenig wahrscheinlich, dass den Gammawellen eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Warum nicht, demonstrieren sie in einer aktuellen Studie.

Dazu implantierten sie Makaken eine Vielzahl von Elektroden in das visuelle Areal V1, dem Eingangstor optischer Informationen in den Kortex, und beobachteten anschließend anhand der von den Zellen erzeugten schwachen elektrischen Felder die Aktivität im Gammabereich. Die Ergebnisse, die sie bei ihrer Untersuchung sammelten, "machen den Gammarhythmus zu einem schlechten Kandidaten für Binding und Kommunikation [zwischen Hirnbereichen]", urteilen sie kurz und knapp.

Und so kamen sie zu dieser Schlussfolgerung: Ray und Maunsell zeigten den Affen verschiedene, leicht unterschiedliche Schwarz-Weiß-Muster und erfassten parallel dazu, ob und wie sich die Gammaaktivität änderte. Hätte der Hirnrhythmus tatsächlich die Aufgaben, die manche Forscher ihm unterstellen, wäre zu erwarten, dass die Gammawellen einigermaßen robust und unabhängig von den gezeigten Bildern wären: Bestimmte Hirnregionen würden, vereinfacht gesagt, in der immer gleichen Frequenz an Nachbarregionen funken, was sie verarbeiten.

Das war aber nicht der Fall. Der Rhythmus ließ sich durch geschickte Wahl der Bilder manipulieren: Je höher deren Kontrast war, desto höher stieg auch die Frequenz der Gammawellen. Dieser Zusammenhang offenbarte sich nicht nur bei nacheinander präsentierten Einzelbildern, sondern auch wenn bei ein und demselben Muster der Kontrast zeitlich variierte. In diesem Fall passten sich die Gammawellen mit nur wenig Zeitverzug an.

Ein weiteres Problem trat zu Tage, als die Wissenschaftler den Gammarhythmus von eng beieinander liegenden Neuronenverbänden verglichen. Wurde der Kontrast zum Rand des Testbilds hin schwächer, änderte sich im selben Maß auch die Gammafrequenz der Neuronenverbände, selbst wenn diese nahezu benachbart waren. Daraus aber müsste man schließen, dass die Zelleinheiten, die das angeschaute Bild verarbeiten, mit unterschiedlichen Frequenzen "operieren", obwohl es sich doch um ein und dasselbe Bild handelt – ein Problem insbesondere für die Vertreter der Binding-Hypothese, meinen Ray und Maunsell.

Kein unabhängiges Phänomen

Kurz gesagt deute alles darauf hin, dass der Gammarhythmus kein unabhängiges Phänomen darstellt, sondern schlicht und ergreifend von den wechselnden Reizintensitäten verursacht wird, wie sie bei kontrastreichen Bildern zwangsläufig auftreten. Dazu passt die Beobachtung, dass ein schwacher Kontrast kaum messbare Rhythmik hervorrief, wie die Faust aufs Auge. Ihr eigener Erklärungsvorschlag lautet deshalb: Das rhythmische Oszillieren entsteht, weil immer wieder hemmende Neuronen eingreifen, um die elektrische Erregung in Folge der Stimulation einzudämmen. Dadurch steigt und fällt die messbare Aktivität auf annähernd rhythmische Weise.

Ihre Studie ist allerdings beileibe nicht der erste Ansturm auf die Theorie derer, die dem Gammarhythmus eine besondere Aufgabe zusprechen. Auch das von den beiden Forschern beschriebene Phänomen der Beeinflussbarkeit der Gammawellen durch Wahl des Kontrasts und anderer Bildeigenschaften haben schon frühere Studien aufgezeigt. Weil dabei die fraglichen Eigenschaften aber immer nur von Durchgang zu Durchgang verändert wurden, hatten Kritiker sich unbeeindruckt gezeigt: Solange die Frequenz über den Zeitraum eines Durchgangs hinweg konstant bleibe, könne der Gammarhythmus trotz allem immer noch die ihm zugedachte Kodierungs- oder Bindungsfunktion erfüllen.

Weil Ray und Maunsell aber die Bildeigenschaften sozusagen online und in Echtzeit änderten und trotzdem noch schwankende Frequenzen fanden, könne man zumindest diesen Einwand nicht mehr gelten lassen, glaubt das Forscherduo. Ihr versöhnlicher Schluss zeigt allerdings, wohin die Reise in Zukunft gehen könnte: Im Sehzentrum des Gehirns würden womöglich ganz einzigartige Bedingungen herrschen, die keine Gammawellen nötig machen. Für andere Bereiche müsse das nicht gelten. Ob also anderswo das Hirn tatsächlich nur mit Rhythmus in Fahrt kommt, wird wohl erst die Zukunft zeigen.

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  • Quellen
Ray, S., Maunsell, J.H.R. Differences in Gamma Frequencies across Visual Cortx Restrict Their Possible Use in Computation. In: Neuron 67, S. 885–896, 2010.

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