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Evolution: "Löchrige" Impfungen könnten Viren gefährlicher machen.

Ein Versuch mit Hühnern deutet an: Bestimmte Impfstoffe könnten Erreger aggressiver machen. Das gefährdet vor allem ungeimpfte Individuen. Schuld ist die Evolution.
Vorbeugender Schutz

Fast 500 Menschen infizierten sich jede Woche mit dem Ebolavirus, als die Epidemie in Westafrika Ende 2014 ihren Höhepunkt erreichte. Auf der verzweifelten Suche nach einem Gegenmittel griffen WHO und Regierungen nach jedem Strohhalm – auch für potenzielle Impfstoffe galt: lieber eine unvollständige Wirkung als gar nichts.

Dass es schwieriger wird, komplett undurchlässige Impfstoffe zu finden, also solche, die jede Ansteckung und Weitergabe unterbinden, zeigten schon die Erfahrungen bei Malaria oder HIV. Auch die ermutigenden Testergebnisse des neuen Ebolaimpfstoffs – die Vakzine scheint mindestens drei Viertel der Population zu schützen – ergaben letztlich: In Zukunft wird es auch für Menschen häufiger unvollständig schützende Impfungen geben. Und das erschwert nicht nur die Seuchenbekämpfung, sondern verändert potenziell auch die Aggressivität der Viren.

Ein Impfstoff, der nur zum Teil vor Infektionen schützt und die Erkrankung abmildert, verändert den Selektionsdruck auf den Erreger ganz erheblich. Vor diesem Effekt warnt seit 15 Jahren der Virologe Andrew Read von der Pennsylvania State University. Er vermutet auf der Basis von mathematischen Modellen, nicht perfekte Impfstoffe begünstigten unter bestimmten Umständen gefährlichere Virenstämme. Seine neue Studie an einem Hühnervirus stützt diese Interpretation – und auch einige bereits verwendete Impfstoffe für Menschen bieten keinen vollständigen Schutz.

Impfen verändert den Kurs der Evolution

Allerdings spricht sich Read keineswegs gegen die Entwicklung solcher Vakzinen aus: Auch nicht perfekte Impfstoffe wären bei vielen Krankheiten ein wichtiger Schritt nach vorn, besonders bei Malaria und HIV, die allein durch die Fallzahlen immensen wirtschaftlichen Schaden anrichten. Würde ein Impfstoff auch nur die Hälfte aller Todesfälle durch Plasmodium verhindern, wären das allein 300 000 Malariatote weniger im Jahr. Gerade bei den so genannten Armutskrankheiten sind Seuchenexperten gerne bereit, sich mit weniger als 100 Prozent Effektivität zufriedenzugeben.

Die Evolution, davon ist Read überzeugt, könnte solchen Plänen allerdings einen folgenschweren Strich durch die Rechnung machen. Die Grundidee des von ihm vorgeschlagenen und bereits im Jahr 2001 mathematisch beschriebenen Mechanismus ist einfach. Unter natürlichen Bedingungen benachteiligt die Selektion zu aggressive Erreger: Wer seinen Wirt schnell tötet, hat weniger Zeit, sich zu verbreiten und stirbt aus, verdrängt von harmloseren Varianten. Deswegen vermuten Fachleute, dass Wirt und Krankheitserreger tendenziell gemeinsam hin zu längeren, milderen Krankheitsverläufen evolvieren.

Dieser Mechanismus kehrt sich mit unvollständig wirkenden Vakzinen in sein Gegenteil. Dann nämlich haben gefährlichere Virenstämme genauso lange die Möglichkeit, sich zu verbreiten – der durch die Impfung geschützte Wirt stirbt ja nicht. Womöglich verbreiten sie sich sogar besser, wenn sie bei Geimpften eine längere Krankheit verursachen. Solange sich das alles in geschützten Patienten abspielt, ist dieser Trend kein Drama. Doch trifft so ein Erreger dann auf eine ungeimpfte Population, schlägt seine höhere Aggressivität voll durch.

Menschen sind besser geschützt als Hühner

Bisher schützen Impfstoffe beim Menschen fast ausschließlich vollständig, unterbinden also auch eine symptomlose Weitergabe. Deswegen versuchte Read, den Effekt in der Tiermedizin nachzuweisen, dort gibt es bereits einige durchlässige Impfstoffe. So zum Beispiel bietet der Impfstoff gegen die Newcastle-Krankheit, die der Vogelgrippe ähnelt, nur bedingt Schutz. An diesem Paramyxovirus konnten Arbeitsgruppen bereits zeigen, dass derartige Vakzinen Auswirkungen darauf haben, wie häufig die einzelnen Virenstämme auftreten.

Bei einer anderen Geflügelseuche, der Marek-Krankheit, beobachtete man tatsächlich seit Jahrzehnten, dass die Infektionen bei ungeimpften Tieren immer schlimmere Auswirkungen hatten. Der herpesähnliche Erreger verursacht bei den Tieren Lähmungen und Krebs und war ein erhebliches Problem in der Geflügelzucht, bis neue Impfstoffe ihn in den 1970er Jahren unter Kontrolle brachten. Doch der Erreger verschwand nicht, denn der Impfstoff schützt nicht vollständig. Vielmehr setzte seitdem ein Trend hin zu gefährlicheren Marek-Viren ein, der bisher nicht vollständig erklärt ist.

Polioimpfung | Obwohl die Impfung nicht vollständig schützt, wurde die Krankheit mit ihrer Hilfe beinahe ausgerottet.

Zwei grundlegende Prämissen stehen hinter der Hypothese, die Andrew Read und sein Team mit den Versuchen überprüfen wollten: erstens, dass sehr aggressive Virenvarianten in geimpften Hühnern besser dastehen als in ungeimpfen, und zweitens, dass sie von dort aus mit verheerenden Folgen ungeimpfte Tiere befallen.

Read publizierte seine Ergebnisse in "PLoS Biology", die grundlegende Aspekte seiner Überlegungen zu bestätigen scheinen. In ungeimpften Tieren führen die aggressivsten Stämme binnen Kurzem zum Tod, so dass die Tiere bis dahin nur sehr wenig Erreger ausschütten – ganz im Gegensatz zu milden Marek-Varianten. Bei geimpften Tieren dreht sich das Verhältnis um, und die milden Viren sind unterdrückt, während die Wirte aggressive Stämme über lange Zeiträume in großer Menge in der Umgebung verteilen.

Ungeimpfte im Fadenkreuz

Konkret greifbar wird das potenzielle Problem anhand von Reads Übertragungsversuchen: ungeimpfte Tiere in der Nähe der mit den aggressivsten Marek-Stämmen infizierten Hühner waren vor diesen Killerviren sicher: Die Krankheit verläuft zu schnell tödlich, als dass sie sich anstecken könnten. Zumindest jedenfalls, wenn die infizierten Tiere nicht geimpft waren. Geimpfte und nachträglich infizierte Hühner dagegen überlebten selbst die aggressiveren Marek-Viren und gaben sie weiter. Ihre ungeimpften Stallnachbarn waren innerhalb von zehn Tagen allesamt mausetot.

Doch Fragen bleiben offen. Zum Beispiel, woher die zusätzlichen virulenten Stämme kommen: Dass die Vakzine selbst aggressivere Marek-Viren hervorbringt, kann man aus den Daten nicht schließen. Umgekehrt gibt es Indizien dafür, dass die steigende Virulenz Teil eines längeren, von Impfungen unabhängigen Trends ist. In den ersten Beschreibungen der Krankheit taucht sie in Form von Lähmungen bei älteren Hühnern auf, Mitte des 20. Jahrhunderts tötete der Erreger bereits Hühner – vor Ankunft des Impfstoffs. Umfassender gefragt: Ist Marek möglicherweise ein Sonderfall?

Denn obwohl ein Computermodell den Effekt unabhängig von Virus und Wirt bei allen nicht perfekten Impfstoffen vorhersagt, gibt es keineswegs bei allen potenziellen Kandidaten deutliche Hinweise auf seine Existenz. Diverse andere "durchlässige" Impfstoffe aus der Tiermedizin scheinen keine virulenteren Erreger hervorzubringen. Ein ähnliches Bild zeigt sich auch bei menschlichen Impfstoffen wie den Impfungen gegen Grippe und Polio, die Infektionen nicht vollständig verhindern. Auch dort findet sich kein Anzeichen, dass die Impfungen die Erreger anstacheln.

Es gibt immerhin eine mögliche Ausnahme: Tuberkulose. Die Effektivität der BCG-Vakzine, seit Jahrzehnten im Einsatz, schwankt sehr stark – laut Studien liegt sie je nach Umständen zwischen 0 und 70 Prozent. Und: Nachdem die TB-Fälle seit Jahrzehnten zurückgegangen sind, steigen sie seit 30 Jahren wieder an. Das hat eine Reihe von Gründen, die mit dem Impfstoff nichts zu tun haben, darunter HIV und Antibiotikaresistenzen.

Einige der aggressivsten Tuberkulosefamilien allerdings, unter dem Namen Beijing-Gruppe bekannt, begannen ihren Aufstieg erst in moderner Zeit. Die Ursache ist nicht vollständig geklärt, doch nach Ansicht von Fachleuten ist möglich, dass der 90 Jahre alte Impfstoff dazu beiträgt.

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