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Autismus: Gefahr durch mütterliche Antikörper

Sind fehlgeleitete Antikörper der Mutter eine Hauptursache für Autismus? Das legen Experimente einer Forschergruppe nahe - doch viele Fragen bleiben offen.
Blutproben im Labor

Was hat man nicht schon alles über die Ursachen von Autismus gelesen. Von Quecksilber war die Rede, Übergewicht der Mutter, Zinkmangel, Infektionen während der Schwangerschaft, Stress, Nikotin, niedrigem Geburtsgewicht, Fehlfunktion der Plazenta ... Und nun setzen Wissenschaftler der University of California in Sacramento noch einen weiteren Kandidaten auf die Liste: Mütterliche Antikörper sollen an Moleküle des fötalen Gehirns binden und dadurch die Entwicklung des Kinds stören.

Das zeigen unter anderem ihre Experimente an Rhesusaffen. Das Team von Judy Van de Water entnahm dazu Müttern autistischer Kinder Antikörper und injizierte sie schwangeren Affen, um zu prüfen, ob das die Hirnentwicklung und das Verhalten des Nachwuchses verändert. Das war tatsächlich der Fall – zumindest in gewissen Grenzen [1]. Bis zu 23 Prozent aller Autismusfälle lassen sich über Antikörper erklären, verlautbarten die Forscher in ihrer Pressemitteilung zu einer zeitglich veröffentlichten, zweiten Studie [2]. Fast ein Viertel – eine ganz erhebliche Quote, wenn man bedenkt, wie gering die Einflüsse alternativer Risikofaktoren oft nur sind. Entsprechend groß ist die mediale Aufmerksamkeit.

Gefährliche Abwehrmoleküle im Blut | Antikörper der Mutter schützen das Ungeborene vor Infektionen. Doch einige Mütter tragen offenbar fehlgeleitete Varianten, die das Immunsystem auf das Hirngewebe des Kinds ansetzen – mit Autismus als Folge. Wie groß die Gefahr tatsächlich ist, lässt sich derzeit nicht abschätzen.

Dass mütterliche Antikörper bei der Entstehung von Autismus eine Rolle spielen, ist durchaus denkbar. Hauptakteure sind so genannte IgG-Antikörper: Sie werden ab der 13. Schwangerschaftswoche aktiv über die Plazenta in den kindlichen Kreislauf transportiert und bewahren das Kind noch Monate nach der Geburt vor Infektionen durch Viren oder Bakterien. Auch die Blut-Hirn-Schranke sei in den ersten Entwicklungsphasen noch durchlässiger für die Antikörper der Mutter, schreiben die kalifornischen Forscher in ihrer Arbeit.

Angriff auf das Hirngewebe

Die Idee, dass fehlgeleitete Abwehrmoleküle der Mutter die fötale Hirnentwicklung beeinträchtigen, kam vor etwa zehn Jahren auf. Damals isolierten Paola Dalton und ihre Kollegen von der University of Oxford IgG-Antikörper aus dem Blut einer dreifachen Mutter [3]. Ihre beiden jüngeren Kinder waren Autisten, das Erstgeborene war es nicht. Als sie die entnommenen Antikörper im Labor auf eine Zellkultur aus Mäuse-Neuronen gaben, lagerten sich zu ihrer Überraschung einige davon an die Nervenzellen an. Offenbar waren diese Immunmoleküle nicht darauf spezialisiert, eingedrungene Krankheitserreger zu erkennen, sondern Proteine des körpereigenen Gewebes. Spritzten die Forscher schwangeren Mäusedamen das Blutserum der Mutter – inklusive aller Antikörper – verhielt sich der Mäusenachwuchs später auffällig.

Fünf Jahre später gelang dann Judy Van de Water ein wichtiger Schritt. Bei 7 von 61 Müttern mit autistischen Kindern konnten sie und ihre Kollegen Antikörper nachweisen, die an Proteine im Gehirn menschlicher Föten binden [4]. Im Blut der Mütter, deren Kinder nicht autistisch waren, stießen sie hingegen auf kein einziges der einschlägigen Abwehrmoleküle. Diese Untersuchung haben sie inzwischen mit einem größeren Probandenkreis wiederholt: Unter 246 Müttern autistischer Kinder wurden sie bei 23 Prozent fündig, während in der Kontrollgruppe aus 149 Müttern nur ein Prozent die fraglichen Antikörper in Kombinationen trug, die die Forscher als besonders gefährlich einschätzen [2].

Zusätzlich hat das Team herausgefunden, welche Proteine im Einzelnen von den Antikörpern erkannt werden. Es handelt sich um sechs Moleküle, die allesamt wichtig für die Hirnentwicklung sind: Das STIP1 zum Beispiel ist an der Bildung von Neuronen beteiligt, das YBX1 an Wachstum und Differenzierung der Zellen, und das CRMP1 wird gebraucht für die Wanderung von Neuronen im sich entwickelnden, fötalen Gehirn.

Seltsames Affenverhalten

Ob diese Antikörper nun überhaupt einen Effekt auf die Hirnentwicklung haben, sollten die Experimente an den Rhesusaffen zeigen. Dazu wurden die Antikörper von Müttern mit autistischen Kindern und solchen, deren Kinder nicht autistisch sind, je acht schwangeren Affenweibchen mehrmals während der Schwangerschaft in die Blutbahn gespritzt. Nach der Geburt wurde der Affennachwuchs genau beobachtet und dabei besonders auf Unterschiede im Sozialverhalten der Tiere geachtet.

"Die Studie ist ein initialer Funke."Andreas Grabrucker

Der Nachwuchs aus der "Autismus"-Gruppe verhielt sich tatsächlich etwas anders als die Kontrolltiere: Die jungen Affen näherten sich immer wieder an Gleichaltrige in der Gruppe an, ohne dabei allerdings auf "Gegenliebe" zu stoßen, der Kontakt wurde meist nicht erwidert. Und auch in der Hirnstruktur selbst gab es leichte Unterschiede zwischen den Tieren. Wie eine Magnetresonanztomografie-Untersuchung zeigte, waren bei den männlichen Nachkommen der Autismusgruppe einige Bereiche der Hirnrinde leicht vergrößert. Zum Beispiel der Frontallappen, der motorische Aufgaben erfüllt, aber auch an Hirnleistungen wie Aufmerksamkeit und Handlungsplanung beteiligt ist. Bei etwa jedem zehnten männlichen Autisten ist der Frontallappen ebenfalls vergrößert.

"Die Studie ist enorm wichtig, weil sie zum ersten Mal einen ursächlichen Zusammenhang zwischen mütterlichen Antikörpern und Autismus aufzeigen kann", sagt Urs Meyer vom Labor für Physiologie und Verhalten an der ETH Zürich. Er lobt, wie auch sein Kollege Andreas Grabrucker vom Neurozentrum der Universität Ulm, den Mut des kalifornischen Teams, die Fragestellung in das Affenmodell zu übertragen. "Denn das ist nicht nur teuer, sondern auch langwierig. Bis man zu Ergebnissen kommt, ist die Forschung möglicherweise schon viel weiter", ergänzt Grabrucker. Fast alle seiner Kollegen und auch er selbst arbeiten mit Mäusen, um die molekularen Grundlagen autistischer Störungen zu erforschen.

Dass die Ergebnisse die Autismusforschung auf den Kopf stellen werden, glaubt der Ulmer Wissenschaftler jedoch nicht: "Die Arbeit der Kalifornier liefert einen kleinen Mosaikstein für das Gesamtbild 'Autismus', sie zeigt aber auch, dass noch viele Fragen offen sind."

Nur der Anfang ist gemacht

Beispielsweise sei zwar das Verhalten der Affenkinder verändert, deute aber eigentlich nicht auf Autismus hin. Das hätten die Autoren in ihrem Artikel deutlich machen sollen, statt zu sehr in Richtung "Autismus" zu diskutieren. Problematisch sei auch die geringe Anzahl der Tiere, die keine statistisch signifikanten Aussagen zulasse. "Die Studie ist ein Anfang, ein initialer Funke, auf den nun unbedingt andere Experimente folgen müssen", so Grabrucker.

So wäre es dringend erforderlich, bei einer großen Gruppe an Frauen noch während der Schwangerschaft Blut für entsprechende Antikörpertests abzunehmen. Später müssten dann eigentlich die Frauen, die während der Schwangerschaft Antikörper gegen die kindlichen Hirnproteine im Blut hatten, mit einer höheren Wahrscheinlichkeit autistische Kinder bekommen. Nur so könnten sichere Hinweise für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Antikörpern und Autismus zustande kommen. Eine derartige prospektive Studie kündigten die amerikanischen Forscher vor fünf Jahren auch an, bisher ist dazu aber noch nichts publiziert.

Ohne diese Daten bleibt unklar, wann die Antikörper überhaupt gebildet werden. In der Forschungsarbeit von 2008 und in den nachfolgenden wurde stets mit Serum von Müttern gearbeitet, die bereits autistische Kinder haben. Dass sich drei, vier oder fünf Jahre nach der Geburt solche Antikörper im Blut finden, heißt nicht unbedingt, dass diese schon während der Schwangerschaft vorhanden waren.

Trotz aller offenen Fragen passt die Antikörpertheorie in das Gesamtbild. "Sicherlich sind diese Antikörper nicht die einzigen Faktoren, die in einem Zusammenhang mit Autismus stehen", sagt Urs Meyer. Auch die Forscher aus Sacramento behaupten dies keinesfalls. Den gemeinsamen Nenner der vielen diskutierten Autismus-Ursachen sieht der Züricher Neurobiologe in einer Störung immunologischer Prozesse und daraus resultierender Veränderungen im Molekülcocktail direkt an Ort und Stelle, im fötalen Gehirn. "Innerhalb kürzester Zeit entsteht hier aus wenigen Ausgangszellen ein so komplexes Gebilde, das gerade in den ersten vier bis fünf Monaten der Schwangerschaft extrem empfindlich auf minimale Veränderungen reagiert."

Vielfältige Ursachen

Die Ursachen, die zu Autismus führen, seien wahrscheinlich so vielfältig, wie die Erkrankung selbst, sagt Grabrucker. Nicht zuletzt sprechen Forscher inzwischen kaum noch von "dem" Autismus, sondern eher vom "autistischen Spektrum", das eine Vielfalt an Verhaltensausprägungen umfasst. "Letztlich könnten alle Störfaktoren zu einer Fehlausbildung von Synapsen in verschiedenen Hirnarealen führen. Und genau das macht den Autismus im Grunde aus", sagt Grabrucker.

Auch das erstaunliche "Viertel aller Autismusfälle", das Van de Water und Kollegen über mütterliche Antikörper erklären wollen, ergibt sich statistisch nur, wenn bestimmte Kombinationen aus den Immunmolekülen vorliegen. Das bloße Vorhandensein von Antikörpern, die auf Nervenzellgewebe spezialisiert sind, führt, wie ihre eigenen Daten zeigen, keineswegs zwangsläufig zu Autismus.

Judy Van de Water und ihr Team kündigen trotzdem schon eine baldige praktische Anwendung ihrer Studienergebnisse an. Sie und ein weiterer Mitarbeiter sitzen im wissenschaftlichen Beirat der Firma Pediatric Bioscience, die Produkte für Diagnose und Behandlung autistischer Störungen entwickelt. Auf Van de Waters Befunden aufbauend will die Firma einen Autismusfrühtest anbieten und Blutproben der werdenden Mutter auf problematische Antikörper absuchen. Da nur ein Prozent der Mütter nicht autistischer Kinder die kritischen Antikörper aufwiesen, glauben die Forscher die Gefahr eines Fehlalarms extrem gering zu halten: In nur einem Prozent der Fälle sollte demnach das antikörperbedingte Autismusrisiko fälschlicherweise zu hoch eingeschätzt werden.

Wie der Hirnforscher Jon Brock von der Macquarie University in Sydney in einem Onlinekommentar vorrechnet, bedeutet das jedoch in konkrete Zahlen übersetzt nur wenig Sicherheit für die werdenden Eltern. Da Autismusfälle insgesamt vergleichsweise selten sind, wächst sich der einprozentige Fehlalarm zu einer erheblichen Menge an falschpositiven Resultaten aus, die gegenüber den tatsächlichen Treffern schnell die Oberhand gewinnen: In knapp über 80 Prozent der Fälle, in denen der Test anschlägt, müsste das Autismusrisiko trotzdem gering sein.

Und selbst dann bleibt noch die Frage: "Was soll eine Frau machen, wenn so ein Test vor oder während der Schwangerschaft ein positives Resultat bringt?", wie die Wissenschaftsjournalistin Emily Willingham, Mutter eines autistischen Jungen, in einem Blogbeitrag schreibt. Mittel und Wege die gefährlichen Antikörper im Fall der Fälle abzufangen oder zu neutralisieren, sind jedenfalls längst nicht in Sicht.

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  • Quellen
[1] Bauman, M.D. et al.: Maternal antibodies from mothers of children with autism alter brain growth and social behavior development in the rhesus monkey. In: Translational Psychiatry 3, e278, 2013
[2] Braunschweig, D. et al.: Autism-specific maternal autoantibodies recognize critical proteins in developing brain. In: Translational Psychiatry 3, e277, 2013
[3] Dalton, P. et al.: Maternal neuronal antibodies associated with autism and a language disorder. In: Annals of Neurology 53, S. 533–537, 2003
[4] Braunschweig, D. et al.: Autism: Maternally derived antibodies specific for fetal brain proteins. In: Neurotoxicology 29, S. 226–231, 2008

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