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Amyotrophe Lateralsklerose: Wie kommt es zur gefürchteten ALS?

Einer der berühmtesten Patienten war Stephen Hawking: Bei der bislang unheilbaren amyotrophen Lateralsklerose sterben motorische Nervenzellen unwiderruflich ab. Neue Techniken enthüllen nun die genetischen Ursachen der neurodegenerativen Erkrankung – und liefern viel versprechende Therapieansätze.
Stephen Hawking

Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) lässt Nervenzellen verkümmern, die für Muskelbewegungen verantwortlich sind, und führt meist binnen weniger Jahre zum Tod. Anfangs verläuft die Krankheit schmerzfrei, mit zunächst subtilen Symptomen wie Stolpern, zunehmender Ungeschicklichkeit und undeutlicher Aussprache. Oft messen die Betroffenen dem keine große Bedeutung bei. Doch unaufhaltsam schreitet der Muskelabbau fort, und hinzu kommen Spastik, Krämpfe und Lähmungen.

Lange Zeit war die Krankheit in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Erst Schicksale wie das von Lou Gehrig lenkten den Blick darauf. Der Baseballspieler, einer der erfolgreichsten der Geschichte, begann eines Tages, Bälle zu verlieren und aus unerfindlichen Gründen auf dem Spielfeld zusammenzubrechen. Der als »Stahlross« bezeichnete Sportler, der in 14 Jahren nicht weniger als 2130 Spiele bewältigt hatte, erhielt im Juni 1939 die Diagnose ALS. Nur einen Monat später bereitete ihm die Sportwelt einen tränenreichen Abschied im New Yorker Yankee Stadium. Seine motorischen Fähigkeiten verfielen dermaßen schnell, dass er bereits im Dezember zu schwach war, um seiner Aufnahme in die Ruhmeshalle der größten US-Baseballspieler (Baseball Hall of Fame) beizuwohnen. Die Krankheit, die nach ihm »Lou-Gehrig-Syndrom« benannt wurde, machte ihn bettlägerig und im Juni 1941 starb er im Alter von 37 Jahren.

Heute entwickeln 3 bis 8 von 100 000 Einwohnern eine ALS; jährlich erkranken etwa 2 von 100 000 neu daran. Diese Häufigkeit gilt weltweit vergleichbar und bedeutet in den USA bis zu 25 000, in Deutschland bis zu 6500 Betroffene. Das Leiden tritt meist zwischen dem 50. und 70. Lebensjahr auf, kann sich aber auch schon zwischen 20 und 30 manifestieren. Es macht sich bemerkbar, wenn bestimmte Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark, so genannte Motoneuronen, abzusterben beginnen. Weil sie dafür verantwortlich sind, Nervensignale zu den Muskeln weiterzuleiten, führt ihr Verlust zu einer verminderten Beweglichkeit und Geschicklichkeit ebenso wie zu einem eingeschränkten Sprechvermögen und Schluckstörungen. Die höheren Hirnfunktionen bleiben dagegen meist unangetastet – ALS-Patienten bleiben also in der Regel uneingeschränkt denkfähig während ihr Körper langsam verfällt. Sie sind schon bald auf den Rollstuhl angewiesen und später bettlägerig. Am Ende können sie nicht einmal mehr eigenständig atmen, geschweige denn kommunizieren oder essen. Die meisten sterben binnen 3 bis 5 Jahren an Lungenversagen. Der einzige Arzneistoff, den die US-Arzneimittelbehörde FDA zur Behandlung von ALS zugelassen hat, ist der Natriumkanal-Blocker Riluzol. Er verlängert die Überlebenszeit der Patienten im Mittel um drei Monate. Eine Heilung gibt es nicht.

Rätselhaftes Krankheitsbild trotz klar beschreibender Bezeichnung

Der französische Neurologe Jean-Martin Charcot, der die Krankheit 1869 erstmals beschrieb, ließ die beobachtbaren Symptome in ihre Bezeichnung eingehen. »Amyotroph« bedeutet mangelnde Nährstoffversorgung der Muskeln; »lateral« (seitlich) bezieht sich auf den Bereich des Rückenmarks, in dem große Teile der sterbenden Motoneuronen zu finden sind; und unter »Sklerose« versteht man die Verhärtung oder Vernarbung des Gewebes, die mit dem Verkümmern der Motoneuronen einhergeht. Trotz Charcots klarer Beschreibung ist ALS ein dermaßen komplexes Krankheitsbild, dass es heute, fast anderthalb Jahrhunderte später, den Forschern immer noch Rätsel aufgibt. Obwohl das Leiden ausnahmslos tödlich verläuft, überleben aus unbekannten Gründen etwa 10 Prozent der Patienten mehr als 10 Jahre – und einige sogar noch deutlich länger. Zu dieser Minderheit gehörte der berühmte Physiker Stephen Hawking, der über fünf Jahrzehnte mit ALS lebte.

Soweit wir wissen, haben Umweltfaktoren kaum einen Anteil daran, ob die Krankheit ausbricht oder nicht. Wenn sie überhaupt eine Rolle spielen, dann wahrscheinlich, indem sie genetisch bereits vorbelastete Personen empfänglicher für die Krankheit machen. Besonders rätselhaft ist, dass ALS weitgehend zufällig aufzutreten scheint. Bei weniger als 10 Prozent der Fälle lässt sich ein Zusammenhang zu genetischen Merkmalen zeigen, die vererbt werden und somit familiär gehäuft auftreten. Die übrigen Fälle werden als nicht ererbt oder »sporadisch« eingestuft.

Trotzdem: Dank ausgeklügelter Sequenziertechniken wissen wir heute sehr viel genauer als noch vor zehn Jahren, welche biologischen Mechanismen dem Muskelabbau zu Grunde liegen. Immer deutlicher zeichnet sich ab, dass die Wahrscheinlichkeit, zu erkranken, von vielen verschiedenen Erbanlagen abhängt – wobei diese sowohl einzeln als auch zusammen wirken können. Bestimmte Mutationen lassen sich mit nahezu 70 Prozent der familiären Fälle in Verbindung bringen und mit immerhin etwa 10 Prozent der sporadischen. Die riesige Fülle neuer genetischer Daten lässt auf innovative, bessere Therapieansätze hoffen. So haben Mediziner festgestellt, dass sie manche ALS-Varianten behandeln können, indem sie spezifische Gene stilllegen – eine Methode namens Gene Silencing. Klinische Studien hierzu sind bereits auf dem Weg. Zudem suchen Wissenschaftler nach Biomarkern, die zeitigere Diagnosen und eine bessere Kontrolle des Krankheitsverlaufs erlauben. Das können Substanzen in Körperflüssigkeiten sein oder auch Muster der elektrischen Aktivität im Gehirn. Solche Biomarker könnten darüber hinaus helfen, neue medikamentöse Therapien zu entwickeln.

© Spektrum der Wissenschaft • HYPERRAUM.TV
Ursache oder Nebeneffekt? Proteinfehlfaltungen bei ALS

Veröffentlicht am: 26.12.2017

Laufzeit: 0:03:19

Sprache: deutsch

Hyperraum TV ist ein von der Medienwissenschaftlerin und Wissenschaftshistorikerin Susanne Päch betriebener Spartensender für Wissenschaft und Technologie.

Menschen mit familiär gehäufter ALS (fALS) geben die Krankheit meist mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit an die nächste Generation weiter. Obwohl sie nur einen kleinen Anteil der Patienten stellen, haben sie in außergewöhnlichem Maß dazu beigetragen, die genetischen Mechanismen der Krankheit aufzuklären. Auf vererbbare Ursachen wiesen erstmals Studien im Jahr 1993 hin, bei denen sich herausstellte, dass etwa 20 Prozent der fALS-Patienten eine Mutation im Gen SOD1 tragen. Diese Erbanlage enthält den Bauplan für das antioxidative Enzym Superoxid-Dismutase (SOD), das aggressive Superoxid-Moleküle in weniger schädliche Formen überführt.

Untergang der Motoneuronen wegen einer überlasteten zellulären Müllabfuhr?

Anfangs vermuteten Wissenschaftler, die Mutation in SOD1 schwäche die antioxidative Wirkung des Enzyms und erlaube es reaktionsfreudigen Sauerstoffverbindungen somit, die Motoneuronen verheerend zu schädigen. Heute wissen wir ziemlich sicher, dass dies nicht zutrifft. Viele mutierte SOD-Varianten haben nichts von ihrer enzymatischen Aktivität eingebüßt – und selbst wenn, scheint das keinen Einfluss darauf zu haben, wann die Krankheit ausbricht oder wie schnell sie fortschreitet.

Vielmehr scheint das defekte Enzym stärker zum Verklumpen zu neigen. Bei den meisten Autopsien verstorbener ALS-Patienten trat ein typisches Muster im Gehirn zu Tage: irreguläre Eiweißaggregate, die sich in den Motoneuronen angesammelt hatten. Offensichtlich hatte in diesen Zellen das Recyclingsystem versagt, das normalerweise die Bausteine ausrangierter Proteine wieder aufbereitet. Alle Proteine und Enzyme müssen eine bestimmte dreidimensionale Gestalt annehmen, um ihre jeweilige Funktion korrekt auszuüben. Mutationen in ihrem Bauplan können dazu führen, dass sie sich nicht in die richtige Form falten und infolgedessen verklumpen. Die Zelle markiert diese fehlerhaften Proteine mit dem Molekül Ubiquitin, um sie ihrem Entsorgungs- und Recyclingsystem zuzuführen. Ist die zelluläre Müllabfuhr allerdings überlastet, sammelt sich der Abfall an. Bei Patienten mit bestimmten fALS-Varianten sind die Motoneuronen regelrecht vollgestopft mit Aggregaten aus abnormen, Ubiquitin-markierten Superoxid-Dismutase-Molekülen.

Enthüllung eines Gendefekts | ALS-Erkrankungen können diverse genetische Ursachen haben. Ein sehr hoher Anteil der Fälle lässt sich darauf zurückführen, dass die Nukleotidsequenz GGGGCC auf dem Chromosom 9 abnorm gehäuft auftritt: Normalerweise liegt sie 2- bis 23-fach, bei ALS-Patienten jedoch hunderte bis tausende Male vor. Noch ist nicht vollständig geklärt, wie das zum Krankheitsausbruch führt. Arzneimittelentwickler testen aber bereits ein synthetisches Molekül, ein so genanntes Antisense-Oligonukleotid (ASO), um diese Genmutation stummzuschalten.

Ein großer Durchbruch in der ALS-Forschung gelang 2006, als Wissenschaftler sich mit Patienten befassten, bei denen das Gen SOD1 nicht mutiert ist. Wie sich herausstellte, ist bei diesen Betroffenen fast immer ein anderes Protein namens TAR DNA-Binding Protein 43 (kurz TDP-43) in den Motoneuronen verklumpt. TDP-43 gehört zu einer Klasse von Eiweißen, die die Aktivität von messenger-RNAs (mRNAs) regulieren – kurzen Abschriften der DNA, die als Bauanleitung für die Proteinbiosynthese dienen. TDP-43 bindet an mRNAs, steuert ihre Weiterverarbeitung im Zellkern, transportiert sie an die jeweiligen Zielorte in der Zelle und übt noch andere wichtige Funktionen aus, die für das Übersetzen von RNA in Proteine erforderlich sind. Bei ALS-Patienten gelangen TDP-43-Moleküle aus dem Zellkern heraus und beginnen sich im Zytoplasma anzureichern. Offen ist die Frage, ob das einen Funktionsverlust des Proteins zur Folge hat (da es nun im Zellkern fehlt) oder im Gegenteil dessen Wirkung enorm steigert (weil es sich im Zytoplasma anhäuft) oder beides zugleich.

Genetiker haben auch schon die Erbanlage gefunden, die für TDP-43 codiert: Es handelt sich um das Gen TARDBP. Wie sich herausstellte, ist es bei Angehörigen von Familien, in denen ALS vererbt wird, manchmal auf ungewöhnliche Weise mutiert. Veränderungen in einem RNA-bindenden Protein können also ALS verursachen – eine wichtige Erkenntnis. In der Tat haben Forscher seither noch viele weitere ALS-relevante Gene identifiziert, die für Proteine codieren, welche an der RNA-Regulation beteiligt sind. In den späten 2000er Jahren gab es geradezu atemberaubende Erkenntnisfortschritte, als Wissenschaftler jedes Jahr ein bis zwei neue ALS-relevante Gene fanden. Aber die spannendste Entdeckung sollte erst noch kommen.

2011 berichteten zwei Forscherteams unabhängig voneinander, sie hätten bei Patienten mit einer bestimmten fALS-Variante eine sonderbare Mutation gefunden – und zwar in einem Genabschnitt namens C9ORF72. Die Bezeichnung steht für einen bestimmten Teil eines Gens, nämlich dessen 72. »Open Reading Frame« (ORF), der die Bauanleitung für ein Protein enthält. Das entsprechende Gen liegt auf Chromosom 9. Bei gesunden Menschen findet sich darin die kurze Nukleotidsequenz GGGGCC in 2- bis 23-facher Wiederholung. Bei Personen mit der C9ORF72-Mutation jedoch liegt sie hunderte bis tausende Male wiederholt vor (siehe Infografik).

Wie nachfolgende Untersuchungen gezeigt haben, könnte diese extreme genetische Redundanz fast für die Hälfte (40 bis 50 Prozent) aller fALS-Erkrankungen verantwortlich sein – und für 5 bis 10 Prozent der sporadischen Fälle. Mehr noch: Sie stellt auch eine Verbindung her zwischen ALS und einer weiteren neurodegenerativen Erkrankung, der frontotemporalen Demenz (FTD), die mit Persönlichkeitsveränderungen und beeinträchtigter Entscheidungsfindung einhergeht. C9ORF72-Mutationen können entweder ALS oder FTD verursachen oder auch eine kombinierte Erkrankung aus beiden mit der Bezeichnung ALS-FTD. Bei Menschen, die solche Mutationen tragen, häufen sich TDP-43-Proteine in den Nervenzellen pathologisch an – und zwar sowohl bei ALS als auch bei FTD. Dies lässt vermuten, dass beide Störungen zu einem Spektrum verwandter Erkrankungen gehören, wobei noch unklar ist, wie Veränderungen in ein und demselben Gen zu so unterschiedlichen Symptomen führen können.

Auf welche Weise C9ORF72-Mutationen wirken, ist nahezu unbekannt. Momentan diskutieren Wissenschaftler drei Möglichkeiten: Erstens könnten die vielen Wiederholungen der Nukleotidsequenz GGGGCC die Proteinsynthese stören – und somit die Menge und Wirkung des entsprechenden Proteins in der Zelle herabsetzen. Allerdings weiß keiner, welche genaue Funktion das Eiweiß ausübt. Zweitens könnten die zahlreichen Sequenzwiederholungen dazu führen, dass die daraus hergestellte RNA in den Zellkernen verklumpt, dort RNA-bindende Proteine an sich bindet und diese daran hindert, ihrer eigentlichen Aufgabe nachzukommen. Drittens könnten die endlosen GGGGCC-Abschnitte von der Zellmaschinerie in abnorme Proteine übersetzt werden, die ihrerseits zum Verklumpen neigen.

Die bisherigen Daten lassen auf eine der letzten beiden Möglichkeiten schließen, vielleicht auch auf beide zugleich. Ob nun die RNA-Aggregate stärker zu den Krankheitssymptomen beitragen oder eher die Proteinklumpen, dürfte am Ende ohnehin irrelevant sein. Denn die Mediziner entwickeln Therapieansätze, die bei einer C9ORF72-Mutation beides unterbinden: sowohl das Umschreiben der Gensequenz in RNA als auch deren Übersetzung in ein Proteinmolekül.

Eine der meistversprechenden Vorgehensweisen bei neurodegenerativen Erkrankungen ist, Gene mit so genannten Antisense-Oligonukleotiden (ASO) stillzulegen. Ein ASO-Molekül ist eine kurze Kette aus Nukleotiden, den Bausteinen der Nukleinsäuren, und so konstruiert, dass es an eine mRNA-spezifische Sequenz bindet. Dies lässt ein Enzym in Aktion treten, welches das RNA-ASO-Konstrukt attackiert. Die Methode erlaubt es, beinahe jede beliebige mRNA auszuschalten und somit auch die jeweils dazu gehörende Erbanlage zu inaktivieren. Denn ohne mRNA, die »Abschrift« des Gens, wird das Gen nicht mehr in sein Produkt umgesetzt und bleibt stumm. Untersuchungen an Nagetieren haben belegt, dass sich der schädliche Effekt von C9ORF72-Mutationen verhindern lässt, indem man mit geeigneten ASO-Molekülen die entstehenden RNA-Aggregate in Motoneuronen auflöst – und somit auch unterbindet, dass Klumpen aus abnormen Proteinen entstehen.

Medikamente auf Basis von ASO-Molekülen, die mutierte C9ORF72-Genabschnitte stilllegen, sollen schon bald in klinischen Studien getestet werden. Ein anderer ASO-Arzneistoff, der mutierte SOD1-Gene stummschaltet und helfen soll, familiär gehäufte ALS-Formen zu behandeln, hat bereits erste klinische Tests hinter sich. Sie haben ergeben, dass sich der Wirkstoff ohne ernste Nebenwirkungen in die Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit einbringen lässt, von wo aus er die Motoneuronen erreicht.

Ein weiteres ASO, entwickelt zur Behandlung der spinalen Muskelatrophie (SMA), sorgt bei Wissenschaftlern für vorsichtigen Optimismus. Diese genetische, neurodegenerative Erkrankung des Kindesalters hat vieles mit ALS gemein. Nur sehr wenige Kinder, die davon betroffen sind, werden älter als drei Jahre. Kürzlich haben Mediziner in zwei klinischen Studien einen ASO-basierten Arzneistoff getestet, der bei SMA-Patienten verhindert, dass ein bestimmtes mutiertes Gen in abnorme mRNA umgeschrieben wird. Das führte bei den erkrankten Kindern zu einer derart deutlichen Verbesserung der motorischen Fähigkeiten, dass die US-Arzneimittelbehörde FDA die Studien beschleunigte und dem Arzneistoff Ende 2016 die Zulassung erteilte.

Seltene fALS-Varianten zu untersuchen, hat sehr dazu beigetragen, die biologischen Mechanismen dieser Erkrankung zu verstehen. Die größte Herausforderung bleibt aber, bei Patienten mit sporadischen Formen genetische Mutationen zu finden, die Betroffene für die Krankheit anfällig machen. Weltweit sammeln Forscher DNA-Proben von ALS-Patienten und durchsuchen diese nach entsprechenden Veränderungen. Um dies zu beschleunigen, führen sie mit Mikrochips so genannte genomweite Assoziationsstudien durch – also Untersuchungen dazu, wie stark die getesteten Genome variieren. Auf diese Weise können sie das Erbgut von ALS-Patienten in kurzer Zeit mit dem von nicht betroffenen Menschen vergleichen. Genomweite Assoziationsstudien können zwar nicht die Ursache von ALS enthüllen, aber verdächtige Unterschiede zwischen der DNA von Gesunden und Kranken aufdecken, die dann eine nähere Überprüfung lohnen. Jüngst haben solche Untersuchungen an rund 10 000 ALS-Patienten und etwa 20 000 gesunden Personen zahlreiche Abweichungen zwischen beiden Gruppen offengelegt, die Mediziner nun näher erforschen.

Sobald die Wissenschaftler einen umfassenden Katalog jener genetischen Varianten erstellt haben, die mit ALS zusammenhängen, werden sie erkunden, wie die entsprechenden Mutationen das Krankheitsrisiko erhöhen. Dabei wird es darum gehen, wie Erbanlagen miteinander wechselwirken, ob einige ALS-Varianten vielleicht von mehreren mutierten Genen verursacht werden und wie Umweltfaktoren dazu beitragen, das Nervenleiden auszulösen. Neueren Studien zufolge könnte ALS zum Teil auf das Aufwecken schlafender Retroviren zurückgehen – viraler DNA-Sequenzen also, die sich schon vor langer Zeit ins Genom integriert haben, normalerweise aber inaktiv bleiben. Es könnte sein, dass aktivierte Retroviren in manchen ALS-Patienten von Neuron zu Neuron springen, die Zellen dabei schädigen und so die Krankheit herbeiführen.

Immer mehr Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass bei ALS nicht nur Motoneurone absterben. Auch Gliazellen, die im Zentralnervensystem weit häufiger vorkommen als Neurone, könnten eine wichtige Rolle spielen. Sie üben zahlreiche Funktionen aus: Einige dienen den Nervenzellen als Stützgerüst oder elektrischer Isolator, andere regulieren das chemische Milieu im Gehirn, indem sie an Stofftransport und Flüssigkeitsaustausch mitwirken. Unlängst sorgten Untersuchungen an Mäusen, die Mutationen im SOD1-Gen trugen, für eine Überraschung. Das Stummschalten des mutierten Gens in Gliazellen verlängerte die Lebenszeit der Tiere – obwohl in deren Motoneuronen das krank machende (mutierte) Protein nach wie vor wirkte. Möglicherweise geht die Krankheit zwar von den Motoneuronen aus, schreitet aber unter Mitwirkung der Gliazellen schneller fort. Wüssten die Forscher, welche Faktoren dabei eine Rolle spielen, könnten sie diese gezielt blockieren und so den Krankheitsverlauf verlangsamen oder aufhalten.

Bei alldem bemühen sich die Wissenschaftler auch darum, neue Biomarker zu finden, die es den Ärzten erlauben, das Fortschreiten der Krankheit zu verfolgen. Sie versuchen zum Beispiel, jene abnormen Proteine nachzuweisen, die aus den oben beschriebenen C9ORF72-Mutationen resultieren. Am besten wäre es natürlich, wenn man diese Eiweiße in leicht zugänglichen Körperflüssigkeiten aufspüren könnte, etwa dem Blut oder der Rückenmarksflüssigkeit. Anfang 2017 berichtete einer von uns (Petrucelli), er habe entsprechende Proteine in der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit von ALS- und ALS-FTD-Patienten detektiert – und ebenso von Personen, die das mutierte Gen tragen, aber keine Krankheitssymptome ausprägen. Solche Messungen könnten zu einer besseren Frühdiagnose beitragen. Andere Forscher setzen auf weiterentwickelte bildgebende Verfahren, um die Klumpen aus TDP-43-Proteinen nachzuweisen, die in den Gehirnen von ALS-Patienten bereits im frühen Krankheitsstadium entstehen. All diese Biomarker könnten zudem helfen, den Erfolg verschiedener Therapieverfahren zu bewerten, die in klinischen Studien getestet werden.

Eiskübel-Aktion verschafft Aufmerksamkeit

Rasche Fortschritte in der Genetik sowie die Etablierung neuer Biomarker nähren die Hoffnung, dass wir bald in eine neue Ära der ALS-Behandlung eintreten. Schon in naher Zukunft dürften die Mediziner den Patienten spezielle Therapie- oder Präventionsverfahren empfehlen können, die auf deren individuelle ALS-Varianten zugeschnitten sind.

»Eiskübelherausforderung« | Im Rahmen der »Ice Bucket Challenge« (»Eiskübelherausforderung«) haben Millionen Menschen Videos ins Netz gestellt, in denen sie sich mit eiskaltem Wasser übergießen (lassen). Die Kampagne half, ALS ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und viele Forschungsgelder einzuwerben.

Die Erfolge in der ALS-Forschung verdanken wir auch der Bereitschaft zahlreicher Betroffener, an groß angelegten genetischen Studien teilzunehmen. Eine bedeutende Rolle haben aber auch die Social Media gespielt, über die ALS-Patienten und ihre Familien auf die Krankheit aufmerksam wurden, was einerseits ein öffentliches Bewusstsein dafür schuf und andererseits half, finanzielle Mittel für die Forschung und Patientenbetreuung einzuwerben. Das Paradebeispiel dafür ist die »ALS Ice Bucket Challenge« ("ALS-Eiskübelherausforderung"), die im Sommer 2014 das Internet eroberte. Der Baseballspieler Pete Frates, der mit 27 die Diagnose ALS erhalten hatte, wollte Geld für die Non-Profit-Hilfsorganisation »ALS Association« einwerben, die sich für Betroffene engagiert. Hierfür postete er ein Video auf Facebook, in dem er seine Freunde dazu aufforderte, sich einen Eimer eiskalten Wassers über den Kopf zu schütten. Die Kampagne verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Innerhalb von nur acht Wochen stellten Facebooknutzer mehr als 17 Millionen Ice-Bucket-Challenge-Videos online, und es kamen mehr als 115 Millionen US-Dollar zusammen, von denen 67 Prozent in die Forschung flossen, 20 Prozent in die Patientenbetreuung und 9 Prozent an Bildungseinrichtungen.

ALS ist eine grausame Krankheit. Vor Gehrigs aufwühlender Abschiedsrede im Yankee-Stadium – in der er sich selbst als »glücklichsten Menschen auf der Erde« bezeichnete – und bevor die Öffentlichkeit von seiner Diagnose erfuhr, litten die meisten Betroffenen im Stillen. Doch heute entwickelt die Gesellschaft ein wachsendes Bewusstsein dafür, auch dank Menschen wie Pete Frates. Die Eiskübelkampagne hat bewirkt, dass die ALS Association ihr jährliches Forschungsbudget verdreifachen konnte. Wissenschaftler sind optimistisch, dass unser Wissen darüber, welche biologischen Prozesse ALS zu Grunde liegen, weiterhin rasant zunehmen wird. Die sich ständig ausweitende Rasterfahndung nach krankheitsverursachenden Genen wird mit Sicherheit zu besseren Therapien führen, um dieses Leiden in Schach zu halten.

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  • Quellen

Renton, A. E., Chiò, A., Traynor, B. J.: State of Play in Amyotrophic Lateral Sclerosis Genetics. In: Nature Neuroscience 17, S. 17–23, 2014

Taylor, J. P., Brown, R. H. Jr., Cleveland, D. W.: Decoding ALS: From Genes to Mechanism. In: Nature 539, S.197–206, 2016

Yokoyama, J. S., Sirkis, D. W., Miller, B. L.: C9ORF72 Hexanucleotide Repeats in Behavioral and Motor Neuron Disease: Clinical Heterogeneity and Pathological Diversity. In: American Journal of Neurodegenerative Disease 3, S. 1–18, 2014

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