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Cliodynamik: Geschichte berechenbar machen

Straßenkämpfe in Minneapolis 1934

Manchmal scheint sich die Geschichte tatsächlich zu widerholen. So schwappte zum Beispiel nach dem US-Bürgerkrieg eine von Rassen- und Klassenvorurteilen getriebene Welle der Gewalt durch die Städte, die 1870 ihren Höhepunkt erreichte. Innere Unruhen ähnlichen Ausmaßes ereigneten sich dann wieder 1920, als es nach Rassenunruhen, Arbeiterausständen und antikommunistischen Ressentiments für viele so aussah, als ob eine Revolution unmittelbar bevorstünde. Dann, Anfang der 1970er, ein neuerlicher Höhepunkt: gewalttätige Studentenunruhen, politisch motivierte Morde, Aufstände und Terrorismus.

Dass solche Phasen der politischen Instabilität sich nun dreimal alle 50 Jahre wiederholt haben, sei kein Zufall, meint Peter Turchin. Der Populationsdynamik-Forscher hatte vor 15 Jahren damit begonnen, mathematische Methoden zur Analyse von Räuber-Beute-Beziehungen in Forst-Ökosystemen auf geschichtliche Ereignisse anzuwenden. Dazu wertete er ökonomische Aktivitäten, demografische Trends und Gewaltausbrüche in den Vereinigten Staaten aus.  [1] Seine Schlussfolgerung: Die nächste Woge innerer Unruhen rollt schon heute auf uns zu. Etwa 2020, meint er, dürfte sie über uns hereinbrechen – mindestens mit einer Wucht wie zu Beginn der 1970er, hoffentlich aber "nicht so schlimm wie 1870".

Turchins Ansatz – er nennt ihn nach Clio, der antiken griechischen Muse der Geschichte, Cliodynamik – ist nur einer von mehreren Versuchen aus jüngster Zeit, jene allgemeinwirksamen sozialen Parameter zu identifizieren und zu modellieren, die nach Meinung dieser Forscher alle menschlichen Gesellschaften prägen. Am Ende sollen sie als Grundlage einer naturwissenschaftlichen Methodik in der Geschichtswissenschaft etabliert werden. Dies, so Turchin, sei ein Versuch zu belegen, dass Geschichte eben nicht nur die Abfolge von "just one damn thing after the other"(eines verdammten Dings nach dem anderen) ist, wie es der verstorbene britische Historiker Arnold Toynbee einmal formuliert hatte.

Geschichte wiederholt sich |

Laut Turchin folgen gewalttätige Auseinandersetzungen in den Vereinigten Staaten einem 50-Jahres-Zyklus, den er auch anderswo beobachten konnte. Demnach stünde den USA im Jahr 2020 die nächste Phase innerer Spannungen bevor.

Die meisten Historiker treten allerdings der Cliodynamik mit gehöriger Skepsis entgegen. Sie sehen Geschichte am ehesten als komplizierte Abfolge von Einzelereignissen, die von Zufällen, individuellen Absonderlichkeiten und einzigartigen Situationen geprägt ist, kaum je aber von einer wissenschaftlichen Pauschalmethode erfassbar wäre. "Nach einem Jahrhundert großer theoretischer Gedankengebäude vom Marxismus und Sozialdarwinismus zum Strukturalismus und der Postmoderne hat die Mehrheit der Historiker den Glauben an allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten verloren", meint Robert Darnton, Kulturhistoriker der Harvard-Universität, 1999 in einer Kolumne.

Der Großteil von Turchins Kollegen ist überzeugt davon, dass politische Destabilisierung und andere Phänomene vor allem durch eine möglichst detailliert rekonstruierte Nacherzählung aller Ereignisse nachvollziehbar werden – wobei stets auf wiederkehrende Muster und Parallelen geachtet werden muss, gleichzeitig aber nie vergessen werden darf, dass sich jedweder Ausbruch eben zu genau seiner Zeit an seinem speziellen Ort ereignet hat. "Wir versuchen durchaus, alles zu berücksichtigen was möglich ist – und dabei aber eben nicht nach dem Unmöglichen zu schielen", erklärt Daniel Szechi, Spezialist für die Geschichte der Frühen Neuzeit an der University of Manchester in England. Offenbar, fügt er hinzu, habe seine Zunft bisher "schlicht zu wenig Wissen", um aussagekräftige Zyklen in den Zeitläuften zu erkennen.

"Nach einem Jahrhundert großer theoretischer Gedankengebäude hat die Mehrheit der Historiker den Glauben an allgemeingültige Gesetzmäßigkeiten verloren."Robert Darnton

Turchins Lager hält dagegen, es sei Zeit, alte Regeln auf den Prüfstand zu stellen – danke moderner Möglichkeiten wie der nichtlinearen Mathematik oder Modellsimulationen, die die Interaktion von Millionen Individuen in einem Augenblick nachvollziehen; und dank neuer Informationstechnologie, mit deren Hilfe Geschichtsereignisse in riesigen Datenbanken gesammelt, durchforstet und analysiert werden können. Immerhin ein paar Akademiker geben ihm Recht und halten die Zeit reif für Cliodynamik: Historiker sollten sich von ihrer Gewohnheit verabschieden, ein paar unsystematisch gesammelte Fallbeispiele heranzuziehen und daran gewonnene Erkenntnisse dann zu generalisieren, findet Joseph Bulbulia, der an der Victoria University in Wellington, Neuseeland die Entstehung von Religionen erforscht.

Von der Ökologie zur Geschichte

Turchin entwickelte die Cliodynamik in seiner, so nennt er es scherzhaft, Midlife-Crisis: 1997 war er gerade 40 Jahre alt und fand, dass alle großen ökologischen Fragen auf dem Gebiet der Populationsdynamik beantwortet seien. Damals erschien die Geschichtswissenschaft als lohnendes Ziel – vielleicht weil schon sein Vater, der russischstämmige Computerspezialist Valentin Turchin, sich für grundlegende Gesetzmäßigkeiten interessiert hatte, welche die menschliche Gesellschaft bestimmen könnten. (Die Schriften des Dissidenten Turchin sen. über die Ursprünge des Totalitarismus waren ein Grund für die Ausweisung der Familie aus der Sowjetunion 1977, anschließend siedelte sie in die USA über).

Das wirklich Neue an der Cliodynamik ist nicht etwa die Mustersuche, erklärt Turchin: Schon lange korrelieren Historiker erfolgreich Phänomene wie etwa politische Instabilität mit politischen, ökonomischen oder demografischen Entwicklungen. Der Maßstab wird nun aber deutlich größer, Turchin und Co sammeln systematisch historische Daten aus Jahrhunderten, ja sogar Jahrtausenden. Außerdem ändern sie die mathematische Analyse der interagierenden Variablen.

So konzentrieren sich die Cliodynamiker bei der Analyse langfristiger gesellschaftlicher Entwicklungen zum Beispiel auf grundsätzlich vier Variablen: Populationsgröße und Gesellschaftsstruktur, die Macht des Staates und die politischen Instabilitäten. Dabei werden alle Grundvariablen auf unterschiedliche Weise mehrfach bemessen: So gründet sich die Gesellschaftsstruktur zum Beispiel auf Unterschiede im Gesundheitszustand einzelner Gruppen – die wiederum anhand von Faktoren wie Lebenserwartung ermittelt werden – sowie der Ungleichverteilung von Wohlstand, die sich aus dem Verhältnis zwischen dem Median aller Einkommen und dem größten Vermögen ergibt. Sinnvolle Einflussgrößen einzupreisen, erweist sich dabei zugegebenermaßen als schwierig; schließlich sind die notwendigen Primärdaten oft nur schwer zu ermitteln. So etwas wie perfekte Einflussfaktoren gebe es nicht, gestehen die Forscher ein – mindestens zwei müssten aber in jede der Grundvariablen eingespeist werden, um diese Schwäche einzugrenzen.

Wenn sie alle verfügbaren Quellen aufgegriffen haben – also etwa historische Datenbanken, Zeitungsarchive und ethnografische Studien –, tragen Turchin und die Anhänger seiner Methode sämtliche Einflussgrößen gegen die Zeit grafisch auf, gehen auf die Suche nach Trends und hoffen, historische Muster oder Signalereignisse zu identifizieren, die zukünftige Ereignisse vorherzusagen helfen. So scheint zum Beispiel evident, dass Phasen von Gewalt und Instabilität immer ein Anstieg der Korruptionsindikatoren sowie eine drastische Abnahme politischer Kooperation vorausgehen. Die Analyse erlaubt es auch, den zeitlichen Verlauf der Ereignisse präziser nachzuverfolgen – so können auffällige Korrelationen helfen, etwaige Kausalzusammenhänge zwischen Ereignissen aufzudecken.

Ein endloser Kreislauf

Tatsächlich wird der Grad an "politischer Instabilität" vor allem von zwei Größen beeinflusst, wie die Untersuchungen von Turchin und zwei Kollegen aufdeckten, als sie an der Verfeinerung der Cliodynamik arbeiteten – beteiligt waren Sergey Neferov vom Institut für Geschichte und Archäologie im russischen Jekaterinburg und Andrey Korotayew von der staatlichen russischen Universität für Geisteswissenschaften in Moskau. Die erste der Größen – die Forscher nennen sie den "säkularen Zyklus" – wiederholt sich alle zwei bis drei Jahrhunderte. Er beginnt in einer Gesellschaft, die relativ egalitär gestaltet ist und in der sich Angebot und Nachfrage für Arbeitskraft einigermaßen die Waage halten. Nun wächst die Bevölkerung allmählich und die Zahl der Arbeitskräfte beginnt, die Nachfrage zu übersteigen, was eine zunehmende Elitenbildung sowie das Absacken der Lebensbedingungen in den ärmsten Bevölkerungsschichten zur Folge hat. An einem bestimmten kritischen Punkt beginnt das System zu kollabieren: Die Eliten bekämpfen einander um Machtpositionen, politische Unruhen brechen aus und lassen das System zusammenbrechen. Schließlich beginnt der Zyklus von Neuem.

Dem säkularen Zyklus überlagert finden die Forscher einen kürzeren, rund 50 Jahre oder zwei Generationen dauernden Kreislauf. Turchin nennt ihn den "Vater-und-Sohn-Zyklus": Exemplarisch kämpft darin erst ein Vater – auch gewalttätig – gegen empfundene soziale Ungerechtigkeit; sein Sohn, der die verelendenden Folgen des Konfliktes zu tragen hat, enthält sich dann jedes Engagements. Eine Generation später beginnt der Zyklus erneut. Für Turchin ähnelt dies einem wiederkehrenden Buschfeuer: Es tobt, bis alles Brennbare verzehrt ist, und beginnt erst von neuem, sobald ausreichend entflammbares Unterholz nachgewachsen ist.

Die beiden interagierenden Kreisläufe lassen sich nach Turchin in verschiedenen geschichtlichen Ereignissen seit dem fünften vorchristlichen Jahrhundert von Europa bis Asien immer wieder entdecken. Beide könnten dem holprigen Übergang von der römischen Republik zum Kaiserreich im ersten Jahrhundert v.  Chr. unterliegen; dasselbe Muster finde sich aber auch im alten Ägypten, in China und in Russland. Das Muster passe darüber hinaus gut zur arabischen Revolution des vergangenen Jahres, die das Regime von Ex-Präsident Hosni Mubarak überrascht hat – zu einem Zeitpunkt, als die ägyptische Wirtschaft florierte und die Armut im Land weniger schlimm als in den meisten anderen Ländern mit ähnlicher Wirtschaft war. Eigentlich sollte dies für Stabilität sorgen. Tatsächlich aber hatte sich schon im Jahrzehnt vor der Revolution die Zahl perspektivloser junger Akademiker vervierfacht – ein Kennzeichen für Elitenüberrepräsentation, so Turchin, und dafür, dass Unruhe ins Haus steht.

Der Ansatz lässt sich auch auf andere historische Fragestellungen ausweiten, etwa auf das Wachstum von Religionsgemeinschaften, einer Fragestellung, die Wissenschaftler bereits durch mehrere konkurrierende Modelle zu erklären versuchen. So mag eine Religion etwa nach einem linearen Modell schlicht deshalb Anhänger finden, weil nach und nach den zuvor Ungläubigen spontan "die Augen geöffnet werden". Denkbar wäre aber auch, dass die Zahl der Konvertiten exponentiell steigt, ganz so wie eine ansteckende Krankheit sich ausbreitet – schließlich kommen immer mehr Menschen mit einem Gläubigen, also "Infizierten", in Berührung. Derlei kann unter Herbeiziehung verschiedenen Einflussfaktoren modelliert werden, wie Turchin am Beispiel des Islam im mittelalterlichen Iran und Spanien durchexerziert hat – das Ansteckungsmodell, so die Schlussfolgerung, passt hier tatsächlich am besten [2]. Mit ähnlichen Methoden konnte er außerdem zeigen, dass dieses Modell auch den Siegeszug des Christentums im ersten Jahrhundert n. Chr. und der Mormonen seit dem Zweiten Weltkrieg gut erklärt.

Claudio Cioffi-Revilla, ein Computerspezialist und Soziologe der George Mason University in Fairfax, Virginia, begrüßt die Cliodynamik grundsätzlich als natürliche Ergänzung seines Forschungsbereiches – der Simulation von "agentenbasierten" Computermodellen. Cioffi-Revillas Team entwickelt solche Modelle, um Effekte der neuzeitlichen Klimaveränderungen abzubilden, die im ostafrikanischen Grabenbruch ablaufen, einer dichtbesiedelten Region, die immer wieder von Dürren betroffen ist. Seine Modelle starten mit einer kleinen Gruppe digitaler Agenten, die einzelne Haushalte der Region repräsentieren und ihre Handlungen dann gegenseitig nachahmen. Die Interaktion der Agenten erfolgt nach Regeln, die zum Beispiel durch typische saisonale Wanderungsbewegungen oder die charakteristischen lokalen ethnischen Allianzen vorgegeben werden. Im Verlauf der Simulation entstehen spontan charakteristische Phänomene wie eine berufliche Spezialisierung der Modellgesellschaft und eine Anfälligkeit gegenüber der Dürre – in Zukunft hoffen die Forscher auch Flüchtlingsströme vorherzusagen oder potenzielle Krisenherde einzugrenzen. Cliodynamik, meint Cioffi-Revilla, könnte die Modellierung noch verbessern, weil sie den digitalen Agenten neue, aus historischen Daten abgeleitete Regeln vermittelt.

Globale Trends

Einen weiteren Fürsprecher hat die Cliodynamik in Jack Goldstone, dem Leiter des Center for Global Policy der George Mason University und Mitglieds der von der CIA geförderten "Political Instability Task Force" – sie soll politische Unruhen vorhersagen helfen, die sich außerhalb der USA ereignen. Goldstone hat Revolutionen der Vergangenheit nach cliodynamischen Mustern durchsucht und prognostiziert nun, dass Ägypten noch einige Jahre lang mit inneren Auseinandersetzungen zwischen radikalen und gemäßigten Kräften zu tun haben wird. Rund fünf bis zehn Jahre dürften mit der Errichtung neuer Institutionen noch ins Land gehen, bis wieder Stabilität einkehrt. "Revolutionäre Zustände können sich zwar schnell wieder auflösen, dies ist aber selten", meint er. Im Normalfall "dauert das so zehn, zwölf Jahre, einen neuen Staat aufzubauen – und oft länger".

Allerdings eigne sich Cliodynamik nur zur Vorhersage langfristiger Trends, gibt Goldstone zu bedenken: Der Ansatz sei "in manchen Fällen durchaus angemessen, naheliegend und zielführend. Zum Beispiel, wenn man die Häufigkeiten und die Auswirkungen von Ereignissen gegeneinander abbilden kann: Die Opferzahlen in verschiedenen Schlachten eines Krieges, die Sterbezahlen bei einer Naturkatastrophe oder die Zeit bis zum Wiederaufbau eines Staates; das alles lässt sich präzise in mathematischen Formeln fassen, es bildet wiederkehrende Muster aus hohen Frequenzen und niedrigen Magnituden oder umgekehrt." Aber einzelne Ereignisse vorhersagen – etwa die Industrielle Revolution? Oder die Biografie eines einzigartigen Individuums, etwa Benjamin Franklin? Hier, meint Goldstone, eignet sich der althergebrachte Historikeransatz des durch belegte Ereignisse konstruierten Narrativs noch immer am besten.

Auch Henri Gintis, der als pensionierter Ökonom noch aktiv an der University of Massachusetts-Amherst über die Evolution sozialer Komplexität forscht, zweifelt daran, dass per Cliodynamik historische Einzelereignisse vorhersagbar werden. Allerdings könnten Politiker anhand der aufgezeigten Muster und Kausalketten mögliche Fallstricke besser erkennen und verhängnisvolle Entscheidungen leichter vermeiden. Dazu bemüht er eine Analogie aus der Luftfahrt: "Einen Flugzeugabsturz wird man nie vorhersagen können. Man kann aber nachher die Blackbox finden, gründlich auswerten und die Gründe des Absturzes herausfinden. Und heute stürzen, weil man genau das getan hat, viel weniger Flugzeuge ab als früher".

Die generelle Skepsis der Historiker hat bisher kein Argument verringern können. Der ganz grundsätzliche Schwachpunkt aller Versuche, zukünftige Ereignisse aus einem vergangenen Trend abzuleiten, sei die gravierende Lückenhaftigkeit historischer Datensätze, erklärt Szechi. Der Zufall mag die Hand im Spiel haben, ob Daten erhalten oder zerstört werden – so etwa 1922, als während des irischen Unabhängigkeitskriegs in den Four Courts von Dublin Feuer ausbrach und das gesamte Mittelalterarchiv der Nation vollständig vernichtete. Generell sei auch zu beobachten, dass manche Spezialbereiche tatsächlich besonders gründlich beleuchtet sind – so kenne man zwar bis ins letzte Detail die Getreidepreise aus einigen Ortschaften des südlichen Englands im Mittelalter, so Szechi. Man könne gleichzeitig aber "nicht sagen, wie der Durchschnittseinwohner sein Leben lebte".

Datensammeln im Großmaßstab

Wissenslücken sollen nun aber in einer konzertierten Aktion gefüllt werden: Unter der Leitung des Anthropologen Harvey Whitehouse von der Oxford University entsteht eine umfassende Informationsdatenbank über Rituale, Sozialstrukturen und Konflikte aus allen Teilen der Welt seit Beginn der ältesten Aufzeichnungen. Ein gigantisches Unterfangen, an dem Historiker, Archäologen, Religions- und Sozialwissenschaftler und sogar Neurowissenschaftler sich beteiligen sollen. Bis zu seinem Abschluss dürften noch Jahrzehnte vergehen – falls die Weiterfinanzierung überhaupt gelingt, sobald in fünf Jahren die derzeitige Förderung durch die britische Regierung ausläuft. Whitehouse ist allerdings sicher, dass bereits die beim Aufbau der Datenbank geleisteten Forschungsbemühungen Turchins Ansatz voranbringen – schon, weil sie die unmittelbaren Auslöser von politischer Gewalt näher beleuchten.

So müssten sich zum Beispiel Einzelne erst vollständig mit einer politischen Strömung identifizieren, damit ein Gewaltausbruch möglich wird, meint Goldstone [3]. Verschiedene Rituale könnten, insbesondere wenn sie mit Schmerz, Angst oder anderen Emotionen verbunden sind, die Identifikation mit einer Gruppe zementieren: Sie schaffen eine tragfähige Basis eindrücklicher Kollektiverinnerungen.

"Menschen tendieren dazu, die eigene Interpretation der persönlichen Lebensgeschichte für besonders zutreffend zu halten, sobald diese Ansicht von anderen geteilt wird", erklärt Whitehouse. Dieser "Fusion der Individualitäten" ist er im letzten Dezember am Beispiel libyscher Rebellen aus Misrata gemeinsam mit dem Oxford-Anthropologen und Bürgerkriegsexperten Brian McQuinn in einer noch unveröffentlichten Studie nachgegangen. Erst nachdem Abschluss dieser Fusion seien Menschen bereit, zu kämpfen und für ihre Gruppe auch zu sterben. Wenn Turchin recht damit hätte, eine Rebellion bis zum Jahr 2020 anzukündigen, so sollten, meint Whitehouse, in den nächsten Jahren in den USA mehrere kleine, eng vernetzte Gruppierungen entstehen, die sich einerseits durch befremdliche Rituale abgrenzen und andererseits große Heilsversprechen machen.

Welche Gruppierungen da in Frage kommen, für was sie kämpfen werden und zu welchen Gewalttätigkeiten es dabei kommen wird, kann auch Turchin nicht sagen. Immerhin hätten sich ja die Auseinandersetzungen der Vergangenheit auch nicht an einem einzigen, dominierenden Streitpunkt entzündet. Trotzdem sieht er Warnzeichen heranziehen: Der soziale Unfriede, die Zahl gut ausgebildeter Unzufriedener und die gesellschaftliche Ungleichheit wächst. Und Ungleichheit, so der Forscher, "ist fast immer ein schlechtes Zeichen für die Gesellschaft".

Bei all dem, beharrt Turchin, sei der Ausbruch von Gewalttätigkeiten aber genauso wenig unvermeidbar wie eine Masernepidemie. So wie die Epidemie durch effektive Impfstoffe eingedämmt werden kann, könne unsere Geschichte uns vor Gewalt wappnen – wenn wir aus ihr lernen. Helfen würde demnach, wenn die US-Regierung etwa mehr Arbeitsplätze für Akademiker schafft und die Ungleichheit in der Gesellschaft abmildert.

Und trotzdem könnte eine offene Revolte das beste, womöglich gar das einzige Ventil sein, das schwerste soziale Verwerfungen behebt, gibt Gintis zu bedenken. Er sei nicht alt genug, sich an die letzte Periode der Unruhen in den Vereinigten Staaten zu erinnern – immerhin haben sie aber dazu beigetragen, die Bürgerrechte von Frauen und Schwarzen zu erkämpfen. Die Geschichte lehrt, dass Eliten ihre Macht auch wieder an Mehrheiten abgeben, so der Forscher – allerdings immer nur dann, wenn sie stark unter dem Druck standen, die Ordnung nach einem Aufruhr wieder herstellen zu wollen. Unruhen fürchte er nicht, so der Ökonom, denn: "Sie haben uns dahin gebracht, wo wir heute stehen."

Dieser Artikel erschien unter dem Titel "History as Science" in Nature 488, S. 24-26, 2012.

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  • Quellen

[1] Turchin, P.: Dynamics of political instability in the United States, 1780–2010. In: Journal of Peace Research 49, S. 577–591, 2012

[2] Turchin, P.: Historical Dynamics, Princeton, Princeton Univ. Press, 2003

[3] Swann Jr., W.B. et al.: When group membership gets personal: A theory of identity fusion. In: Psychological Review 119, S. 441–456, 2012

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