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Glücksspielsucht: Mein Weg in die Spielsucht

Mit zwölf Jahren wettet Sebastian zum ersten Mal auf Fußballergebnisse. 20 Jahre später verspielt er im Kasino mehrfach sein komplettes Monatsgehalt. Die Geschichte einer Spielsucht.
Roulette

Nur noch dieses eine Spiel. Alles oder nichts. Alles – das ist Schwarz. Nichts: Rot. Der Croupier nimmt die kleine weiße Kugel in die Hand, dreht die Scheibe und schnippt die Kugel in entgegengesetzter Richtung in den Roulettekessel. Adrenalin schießt durch meinen Körper. Mein Herz pocht. Ein paar Spieler legen noch hektisch ihre Chips auf den Tisch. »Rien ne va plus! Nichts geht mehr!«, ruft der Croupier. Die Kugel kreist, wird langsamer und beginnt im Kessel zu tanzen. Gleich wird sie in eines der 37 Felder fallen. Dann habe ich 2000 Euro verdoppelt. Oder verloren.

Als Zwölfjähriger habe ich begonnen, Fußball-Toto zu spielen. Am Kiosk kostete ein Schein 1,40 DM, und man konnte damit elf Spiele der ersten und zweiten Bundesliga tippen: die »1« für Heimsieg, die »0« für Unentschieden oder die »2« für Auswärtssieg. Gewonnen habe ich nie etwas, aber es war ein unschuldiges Vergnügen, die Ergebnisse am Samstagabend mit dem Schein abzugleichen. Hätte mir damals jemand gesagt, dass ich 20 Jahre später mit schweißnassen Händen vor einem Roulettetisch stehe, auf dem mein ganzes Monatsgehalt liegt, hätte ich wohl nur ungläubig den Kopf geschüttelt.

Später verlagerte ich meine Sportwetten ins Internet. Im Jahr 2000 eröffnete ich ein Konto bei einem österreichischen Online-Buchmacher. Mein Passwort, eine längere Kombination aus nicht zusammenhängenden Buchstaben und Zahlen, kann ich noch heute im Schlaf aufsagen. Meine allererste echte Sportwette platzierte ich auf einen Sieg des tschechischen Tennisspielers Bohdan Ulihrach. Der Einsatz betrug 5 DM, ich gewann 3,25 DM.

Plötzlich konnte man auf alles wetten: Fußball, Tennis, Basketball, Eishockey – rund um die Uhr. Das war für einen Sportfreak wie mich natürlich aufregend. Nun konnte sogar ein unbedeutendes Zweitliga-Fußballspiel richtig spannend sein, bei entsprechendem Wetteinsatz.

Schönreden und verdrängen

Mit der Höhe der Einsätze stiegen sehr schnell auch die Verluste. Aber das redete ich mir schön: Unterm Strich musste ich doch sicherlich noch im Plus sein. Schließlich gewann ich zwischendurch auch beträchtliche Summen. An das wohlige Gefühl eines Gewinns erinnert sich ein Spieler gern, Verluste werden blitzschnell verdrängt.

Mein erstes Schockerlebnis hatte ich im Sommer 2008. Eine Zeit lang war es richtig gut gelaufen, auf meinem Wettkonto hatte ich aus 500 Euro Einsatz in nur zwei Monaten knapp 3000 Euro gemacht. Fast täglich malte ich mir aus, was ich mir von dem Gewinn kaufen würde. Mehrfach war ich kurz davor, den Button »Auszahlung« anzuklicken und mir den Betrag auf mein Bankkonto überweisen zu lassen. Aber es stand ja noch das Champions-League-Finale an. Darauf musste ich einfach wetten. Zumal ich mir vollkommen sicher war, dass der FC Chelsea das Spiel gegen Manchester United gewinnen würde. Die Quote war verlockend, und ich steigerte mich in die Vorstellung hinein, mein Geld mit einem einzigen Spiel zu verdoppeln. Ich setzte alles.

Als es zum Elfmeterschießen kam, war ich ein Nervenbündel. Und als dann John Terry antrat, ausrutschte, den Ball in den Nachthimmel von Moskau schoss und Chelsea das Spiel verlor, spürte ich eine unerträgliche innere Leere.

»Wenn man einen Gewinn wieder verspielt, fühlt sich das an wie eine Niederlage. Man muss den Verlust wieder ausgleichen«

Nach diesem Desaster hörte ich kurzzeitig mit dem Wetten auf. Doch je länger der vermeintlich heilsame Schock zurücklag, desto mehr bog ich mir die Dinge wieder zurecht: Ich hatte ja »nur« meinen Gewinn verzockt. Dass auch die 500 Euro Einsatz flöten gegangen waren, unterschlug ich in Gedanken einfach. Und wenn ich es einmal geschafft hatte, mein Geld zu versechsfachen, dann würde mir das doch bestimmt auch ein zweites Mal gelingen. So ging es weiter – mit immer riskanteren Wetten, mit immer höheren Einsätzen, um die Verluste wieder auszugleichen.

Mit meinem Umzug nach Berlin ein Jahr später fand ich noch an einem weiteren Glücksspiel Gefallen: Roulette. Seit jeher war ich fasziniert von der mondänen Atmosphäre der großen Kasinos. Fatalismus, Leichtigkeit, ein Hauch von Weltverachtung und das Leben als einziges, großes Spiel – das gefiel mir, und nach dieser Bühne suchte ich. Jetzt hatte ich die größte Spielbank Deutschlands direkt vor der Haustür.

Fürs Roulette braucht man nicht viel Übung. Auf eine Zahl, Rot oder Schwarz, Gerade oder Ungerade kann auch jeder Anfänger setzen. Dennoch begann ich zaghaft, tauschte nur 2-Euro-Chips und platzierte kleine Einsätze. In den ersten Monaten gewann ich deutlich mehr, als ich verlor. Und ich nahm einfach an, dass das immer so weitergehen würde. Wenn ich beim letzten ruhmreichen Kasinobesuch doch nur mit höheren Einsätzen gespielt hätte – wie schnell wären es dann statt 100 satte 1000 Euro Gewinn gewesen!

So drehten sich meine Gedanken immer öfter um Spielvarianten und mögliche Gewinne. Aus den 2-Euro-Chips wurden bald 20-Euro-Chips. Ich war schließlich kein Student mehr und verfügte endlich über ein passables Einkommen.

Ein schleichender Prozess

Die Sucht kommt nicht über Nacht, es ist ein schleichender Prozess. Nach und nach wurde das Zocken zu meiner maßgeblichen Freizeitbeschäftigung. Abends machte ich mich auf den Weg zur Spielbank am Potsdamer Platz. Und danach schlug ich mir die Nächte mit Sportwetten oder in einem Onlinekasino um die Ohren. Ich begann, private Termine abzusagen. Statt mit Freunden in der Kneipe saß ich nun am Roulette- oder Blackjack-Tisch, wo ich regelmäßig die Zeit und die Welt um mich herum vergaß.

Eines Tages sagte mein Kumpel Henry zu mir, er sei neugierig. Ob wir nicht mal zusammen ins Kasino gehen könnten. Es war der Beginn einer fatalen Kombination zweier Spieler-Charaktere: Henry war schon nach dem ersten Abend, an dem er eine beträchtliche Summe gewann, vollkommen angefixt. Am nächsten Tag gingen wir wieder hin. Und am Tag darauf auch. Und an dem darauf. Von nun an konnte ich meine Spielleidenschaft mit jemandem teilen, plötzlich verstand jemand den Kick, den mir das Spiel gab. Wenn er verlor, gewann ich meistens – und andersherum. Wir liehen uns gegenseitig Geld, investierten Gewinne direkt in den nächsten Whisky an der Bar und gingen meistens erst nachts um drei Uhr, wenn der »Royal Floor« der Spielbank schloss.

Illegales Glücksspiel

In Deutschland sind sowohl das Angebot als auch die Teilnahme an Glücksspielen, bei denen der Spieler reale Geldsummen einsetzen kann, verboten und können theoretisch mit bis zu sechs Monaten Haft oder einer Geldbuße bestraft werden – außer, man spielt in staatlichen Kasinos. Minderjährige dürfen grundsätzlich nicht an öffentlichen Glücksspielen teilnehmen.

Onlineglücksspiele bei nichtlizensierten Anbietern sind ebenfalls untersagt. Solche Plattformen werden jedoch in der Regel von Ländern aus betrieben, in denen diese Spiele nicht verboten sind; im Kleingedruckten wird darüber informiert, dass die Nutzer eigenverantwortlich handeln. Viele Zocker stören sich nicht daran oder hoffen etwa darauf, dass sie sich in einer rechtlichen Grauzone befinden.

Ernüchternder Absturz

Den Punkt, an dem ich auch den letzten Rest Kontrolle verlor, kann ich nicht mehr genau festmachen. Die Monate waren geprägt von exzessiven Nächten mit so manchem Gewinn, umso höheren Verlusten und ernüchternden Abstürzen. Wir soffen und zockten ganze Wochenenden durch. Lief es am Spieltisch gut, war das warme Gefühl der Euphorie grenzenlos. Lief es schlecht, brach sich die Depression ihre Bahn.

Dass wir dabei mehr und mehr Geld verloren, war irgendwann nicht mehr zu leugnen. Henry verspielte einmal in einer einzigen Nacht 2500 Euro, kroch daraufhin wie ein geprügelter Hund zu seiner Freundin und musste ihr beichten, dass aus der gemeinsamen Thailand-Reise nichts werden würde. Die stellte ihn daraufhin vor die Wahl: entweder Schluss mit dem Zocken oder Schluss mit der Beziehung. Von da an ging ich wieder allein ins Kasino.

Aber auch mein Umfeld begann, Fragen zu stellen: Warum hatte ich nie Zeit? Und vor allem – warum war ich immer pleite, obwohl ich gutes Geld verdiente und mir kein Auto, keinen Urlaub oder teure Klamotten leistete? Mit meinen Antworten wich ich aus, verharmloste: Ja, ich übertreibe es manchmal ein bisschen mit dem Spielen. Aber ich habe alles im Griff. Ich bin doch kein Junkie! Dieser Satz reichte meistens.

»Ich träumte von einer letzten, magischen Nacht. All die Verluste der Vergangenheit in ein paar Stunden zurückzugewinnen – und dann aufzuhören«

Insgeheim träumte ich von einer letzten, magischen Nacht. All die Verluste der Vergangenheit in ein paar Stunden zurückzugewinnen – und dann aufzuhören. Denn dass meine Spielerei eine Dimension erreicht hatte, die meinem Leben nicht guttat, war mir durchaus bewusst. Und das nicht nur in jenen Momenten, in denen ich nach einem Totalverlust mitten in der Nacht benommen aus dem Kasino stolperte und wie in Trance mit dem Taxi nach Hause fuhr. Verdrängung und Selbstbetrug funktionieren eben nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich weiß nicht, wie oft ich morgens wie nach einem schlimmen Albtraum mit dem Gedanken aufgewacht bin: »Wie konnte mir das nur wieder passieren?«

Es gibt in meinem Freundes- und Bekanntenkreis viele Menschen, die sich sehr gut in einen Alkohol- oder Nikotinabhängigen hineinversetzen können. Aber die Vorstellung, 100 Euro darauf zu setzen, dass eine weiße Kugel in ein schwarzes Feld rollt, erscheint ihnen befremdlich. Die Psychologie des Spielens ist für manche vermutlich schwer nachvollziehbar. Setzt man 100 Euro und hat nach einer Stunde 300 Euro, kommt zunächst der Gedanke: Jetzt geh doch einfach. 200 Euro sind ein netter Gewinn. Drüben ist ein gutes Steakhaus. Ein Stück weiter eine Cocktailbar. Aber man geht nicht. Man geht nie. Denn man hat ja eine Glückssträhne.

Sind die 200 Euro Gewinn dann wieder verspielt, könnte man rational immer noch sagen: Okay, ich hatte meinen Spaß, immerhin habe ich keinen Verlust gemacht. Doch wenn man einen Gewinn wieder verspielt, fühlt sich das an wie eine totale Niederlage. Man muss diesen Verlust wieder ausgleichen – und zwar möglichst schnell. Und dann steigen Einsatz und Risiko. So beginnt der Teufelskreis.

Vielfach belastet

Neun von zehn Glücksspielsüchtigen leiden oder litten schon einmal an einer weiteren psychischen Erkrankung, darunter überwiegend Depressionen und Alkoholsucht.

Psychiatry Res. 210, S. 1065–1070, 2013

Im Kasino fand ich zu dieser Zeit einen Flyer mit dem Titel »Wenn das Glück Sie mal verlässt«. Es war ein Ratgeber für suchtgefährdete Spieler. Darin standen eine Reihe von Testfragen wie »Setzen Sie im Vergleich zu früher heute mehr Geld oder Zeit für Glücksspiele ein?« oder »Kreisen Ihre Gedanken häufig um Gewinne oder den Verlustausgleich?«. Bei mehr als zwei Ja-Antworten sollte man sich laut Broschüre professionelle Hilfe suchen. Ich bejahte, ohne zu zögern, neun Fragen. Dass ich ein ernstes Problem hatte, glaubte ich aber immer noch nicht: Ich bin eben eine Spielernatur. Und es gibt gute und schlechte Zeiten. Wirklich kaputt sind doch nur die Typen an den Automaten. Das hat sich mir ohnehin nie erschlossen – wie können die stundenlang vor den Dingern hocken und darauf warten, dass drei Zitronen oder Kirschen aufblinken, um weitere Freispiele oder ein paar Euro zu gewinnen. Ich hingegen trug einen Anzug und spielte das altehrwürdige Roulette.

Selbstmitleid im Vollrausch

Meine unkontrollierten Spielverluste wurden weniger, als ich mich verliebte und eine neue Beziehung begann. Die Prioritäten verschoben sich – kurzzeitig. Dass ich ein Spielproblem hatte, merkte meine Freundin schnell. Es war nicht der entscheidende, aber einer der Gründe, warum sie mich nach sechs Monaten wieder verließ. Und jetzt brachen alle Dämme. Ein Zitat aus dem Film »Leaving Las Vegas« kam mir in den Sinn: »Ich weiß nicht mehr, ob ich angefangen habe zu trinken, weil meine Frau mich verlassen hat – oder ob meine Frau mich verlassen hat, weil ich angefangen habe zu trinken.« Alkohol und Glücksspiel nahmen erneut mein Leben ein, ich ergab mich dem Selbstmitleid. Tagsüber schlich ich durch die Spielbank und betrank mich, nachts setzte ich im Vollrausch Hunderte von Euros auf amerikanische Eishockeyspiele.

Inzwischen habe ich jegliche Freude am Sport verloren. Ich kann fast kein Fußballspiel oder Tennismatch mehr schauen, ohne dass mir der Kick des Wettens fehlt. Es ist mir schlicht und einfach zu langweilig geworden.

In einem hellen Moment recherchierte ich zum Thema Spielsucht im Internet. Ich fand eine Beschreibung des klassischen Verlaufs – und erkannte meine Geschichte darin wieder. Demnach stand ich gerade irgendwo zwischen »Gewöhnungsverhalten« und »Suchtstadium«. Entscheidend war für mich ein Satz: »Kontrolle ist noch möglich.« Ich wusste, dass ich die Reißleine ziehen musste. Aber vorher, dachte ich, hole ich mir noch einen Teil meiner Verluste zurück. In einer einzigen, magischen Nacht.

Die kleine weiße Kugel beendet ihren Tanz auf der Scheibe. Ich kann nicht hinsehen, schließe die Augen. Das klimpernde Geräusch habe ich schon tausende Male gehört, jetzt liegt die Kugel. »27, rot!«, ruft der Croupier mit fester Stimme. Mein Vorhang fällt. Nichts geht mehr. Ich verlasse fluchtartig das Kasino. Auf dem Weg zum Taxi denke ich an ein Zitat aus dem Roman »Der Spieler« von Dostojewski: »Doch morgen, morgen wird sich alles wenden.«

Haben Sie ein Spielproblem?

Wenn Sie mindestens drei dieser Fragen mit »Ja« beantworten, sollten Sie über Ihr Spielverhalten nachdenken:

1. Müssen Sie manchmal mehr und häufiger Glücksspiele spielen, als Sie ursprünglich vorhatten?

2. Setzen Sie im Vergleich zu früher heute mehr Geld oder Zeit für Glücksspiele ein?

3. Haben Sie schon einmal versucht, mit dem Glücksspielen aufzuhören, und es nicht geschafft?

4. Spielen Sie vor allem auch dann Glücksspiele, wenn Sie Langeweile beziehungsweise Stress haben oder traurig sind?

5. Wenn Sie an das Glücksspielen denken, verspüren Sie dann körperliche Symptome wie Herzrasen, feuchte Hände oder ein inneres Kribbeln?

6. Leiden Sie unter Ihrem Glücksspielverhalten?

7. Kreisen Ihre Gedanken häufig um Gewinnchancen oder um die möglichen Gewinne?

8. Verspüren Sie oft ein unwiderstehliches Verlangen, Glücksspiele zu spielen?

9. Vernachlässigen Sie wegen des Glücksspielens bestimmte Verpflichtungen (Beruf, Hobby, Beziehungen)?

10. Wenn Sie nicht Glücksspiele spielen können, fühlen Sie sich dann unruhig, gereizt oder verspüren Sie unangenehme körperliche Symptome?

11. Versuchen Sie Ihre Spielleidenschaft zu verheimlichen?

Kompetenzzentrum Verhaltenssucht am Universitätsklinikum Mainz

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