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Zukunft der Stadt: Großstädte für glückliche Menschen

Das Leben in der Stadt ist schlecht für die Psyche. Architekturpsychologen, Psychiater und Kulturwissenschaftler erforschen, wie sich Städte verändern müssen, damit die Menschen glücklicher sind. Und versuchen bisweilen die Quadratur des Kreises.
Grüne Architektur

Ein breiter Gehweg, ein Straßencafé, ein Radfahrer, eine Seniorin mit Einkaufstrolley, ein Vater mit Kinderwagen – und schon hat man den schönsten Konflikt. Wem gehört welcher Raum, wie kommen diese Stadtbewohner mit ihren verschiedenen Geschwindigkeiten aneinander vorbei – und wieso sitzen eigentlich diese Schüler mit ihren Eisbechern mitten im Weg? Auch wenn wir solche Situationen im großstädtischen Alltag manchmal anstrengend finden: Psychologen und Kulturwissenschaftler halten sie für wertvoll für unser Wohlergehen in der Stadt.

Um das zu verstehen, müssen wir ein wenig ausholen. Das Leben in der Stadt ist für vieles gut: Menschen treiben mehr Sport, haben ein größeres kulturelles Angebot und verbrauchen weniger Ressourcen als auf dem Land. Für die Psyche hingegen ist das Stadtleben schlecht: Städter sind nicht nur gestresster, sie sind auch häufiger psychisch krank. "Wenn Sie in einer Stadt geboren werden, ist Ihr Risiko für Schizophrenie um etwa 300 Prozent erhöht", sagt Andreas Meyer-Lindenberg vom Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim (ZI). Diese Kausalität sei schon lange bekannt und in zahlreichen Studien auf der ganzen Welt bestätigt. Auch Depressionen erleiden Städter durchschnittlich häufiger. Die aktuell rasche Urbanisierung auf der ganzen Welt macht dem Psychiater Sorgen: "Da rollt ein Problem auf uns zu." Denn noch sei völlig unbekannt, woraus der Zusammenhang zwischen Stadtleben und psychischen Problemen resultiert.

Highline-Park in New York City | Auch nachträglich kann man in Städten noch erholsames Grün unterbringen – beispielsweise auf alten Bahntrassen, wie dies in New York im Highline-Park geschehen ist.

Die Forscher am ZI haben zwar eine Region im Gehirn ausgemacht, in der Stress verarbeitet wird und die sich bei Städtern verändert. Meyer-Lindenberg sieht eine derart veränderte Struktur als Risikofaktor für psychische Krankheiten – so, wie ein erhöhter Blutdruck ein Risikofaktor für einen Herzinfarkt ist. Aber was genau löst den Stress aus? "Es gibt keine belastbaren Daten, was eine Stadt gesund macht", sagt Meyer-Lindenberg. Das liegt auch daran, dass Psychologen ein Problem mit dem Kosmos Stadt haben: Er ist zu vielschichtig, verschiedene Effekte überlagern sich, man kann das Stadtleben nicht im Labor nachbilden. Gleichzeitig lassen sich kaum Kausalitäten zwischen Ereignissen und emotionalen Reaktionen feststellen, da vieles miteinander zusammenhängt. Wer mehr Grün um sich herum hat, lebt in der Regel auch in einem gehobeneren Wohnviertel, hat vermutlich mehr Geld, einen sicheren Job, ein entspannteres Umfeld und so weiter: Was davon stresst ihn also weniger?

Dank Big Data Einblick in die Psyche der Großstädter

Dies ist der dritte Teil unserer Serie zur "Zukunft der Stadt". Ebenfalls erschienen:
  1. Wie intelligent darf die Stadt der Zukunft sein?
  1. Strom aus dem Bunker

Im Zeitalter von Big Data kommt den Psychologen die moderne Technologie zu Hilfe, mit der sie nun belastbare Daten erzeugen wollen: Meyer-Lindenberg stattet derzeit eine Reihe Versuchspersonen mit Smartphones aus, mit denen die Forscher deren Alltag nachvollziehen können. Dank GPS wissen sie, wann sich die Probanden wo aufhalten. Das vergleichen sie mit speziell dafür angefertigten Karten, in denen Grünflächen markiert sowie Informationen über die sozioökonomische Zusammensetzung der Stadtviertel, über Lärm, Licht und vieles mehr verzeichnet sind. Wenn die Teilnehmer bestimmte Gebiete betreten, bekommen sie automatisch Fragen gestellt: Wie geht es dir gerade? Wie fühlst du dich? Die Forscher messen außerdem am Ende der jeweils einwöchigen Versuchsreihe ein Stresshormon in den Haarwurzeln und untersuchen im Hirnscanner den Zustand der erwähnten Stress verarbeitenden Struktur. "Wir versuchen herauszufinden, was im Alltag Stress verursacht", sagt der Psychologe, "in der Hoffnung, dass Architekten und Stadtplaner etwas damit anfangen können."

Erste Hypothesen gibt es bereits: Mazda Adli, Chefarzt für Psychiatrie an der Berliner Fliedner Klinik, vermutet, dass Stadtstress sozialer Stress ist: "Er besteht wahrscheinlich aus den Komponenten der sozialen Dichte und der Isolation." Genau das, was viele in einer Stadt angenehm finden, nämlich anonym leben zu können, setzt manchen zu: Sie fühlen sich einsam in der Masse. Soziologen haben immer wieder belegt, dass das soziale Kapital auf dem Land höher ist und die Beziehungen dort verbindlicher sind. Wie kann man die Städter in Kontakt zueinander bringen? "Eine Stadt ist dann gut, wenn sie dazu führt, dass Menschen miteinander agieren", sagt Adli. Man muss ihnen einen Anlass geben, vor die Tür zu treten, anstatt sich dahinter zu verschanzen. "Gut ist eine Stadt, die ein mediterranes Leben ermöglicht, das sich draußen abspielt." Dazu tragen unter anderem Erdgeschosse, die durch Cafés und Geschäfte belebt sind, und breite Gehwege bei. Wichtig sind außerdem Plätze, die nicht allzu vorherbestimmt sind, sondern sich von Menschen zum Plaudern, Handeln, Essen, zur Erholung, zum Spielen oder Flirten aneignen lassen.

Bosco Verticale | Zu den schönsten Hochhäusern der Welt gehört sicherlich der preisgekrönte Bosco Verticale in Mailand. 800 Bäume, 5000 Sträucher und 11 000 Bodendeckerpflanzen wachsen auf, an oder in seiner Fassade.

Temporäre Begegnungen bei Wahrung der Anonymität

Mit solchen Räumen beschäftigt sich der Kulturwissenschaftler Ludwig Engel. "Wichtig ist eine Funktionsmischung, denn nur so treffen unterschiedliche Vorstellungen von Raumnutzung aufeinander, nur dort wird Raum verhandelt", sagt er. Diese Verhandlungen zwischen dem eingangs erwähnten Vater mit seinem Kinderwagen und der Oma mit ihrem Trolley machen eine Stadt aus seiner Sicht lebenswert, sie bringen die Menschen in Kontakt. Funktionstrennung hingegen in Fußgängerzonen und Fahrradstraßen beispielsweise findet Engel falsch. "Räume, die frei von Zweck genutzt werden können" seien wertvoll, denn auch hier kann über die Nutzung verhandelt werden. Die Stadt könne hier etwas, was kein anderer Raum so einfach herstellen kann: "Temporäre Begegnungen bei Wahrung der Integrität und Anonymität." Es sei wichtig für Menschen, Orte zu haben, an denen sie nicht bewertet werden. "Das Tolle an der Stadt ist: Ich kann als Flaneur vor die Tür gehen, und keiner fragt mich: Was machen Sie hier?" In der Anonymität der Stadt dürfen Menschen frei von Funktion sein, das macht die Stadt wertvoll. Man trifft sich beispielsweise von Hundebesitzer zu Hundebesitzer, und keiner weiß vom Ehekrach zu Hause oder von den Problemen im Büro. "Das entsteht nur durch Dichte und Funktionsmischung", so Engel.

Deshalb sei es wichtig für die psychische Gesundheit der Städter, eine Stadt als "unfertigen Organismus" zu begreifen, der den Menschen Entwicklung zugesteht. Gut dafür sei es beispielsweise, Baulücken nicht gleich wieder zu schließen, sondern zu ermöglichen, dass sich darauf etwas entwickelt, und Flächen in einer Stadt zu schaffen, die allen gehörten, deren Nutzung aber völlig offen sei. Erste Konzepte, etwa in Tokio, zeigten, dass das durchaus auch mit wachsenden Städten vereinbar ist, die ein Platzproblem haben. Dort entstehen Wohnkonzepte, in denen die Einzelnen relativ kleine Privaträume haben, im Gegenzug aber luxuriöse Zwischenräume, eine Art halböffentliche Wohnzimmer, die sie mit Nachbarn teilen. "In Großstädten muss man Raum schaffen, der Mehrwert bringt für diejenigen, die auf Privatraum verzichten", so der Kulturwissenschaftler. Auch in Berlin gibt es erste entsprechende Initiativen von Privatleuten, die ihre Grundstücke nicht abzäunen, sondern in Richtung der Öffentlichkeit öffnen – wie beispielsweise eine Gruppe von Architekten, die sich in Kreuzberg ein großes Wohnhaus gebaut hat – ohne Zäune, mit kleinen Privat- und großen Gemeinschaftsräumen.

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Grün vor der Haustür baut Stress ab

Meyer-Lindenbergs Daten aus dem Experiment mit den Smartphones sowie ältere Untersuchungen lassen einen weiteren Schluss zu: Grünflächen und Natur wenden Stress von Großstädtern ab. "Das ist allerdings ein Dilemma", sagt Riklef Rambow, Architekturpsychologe am Karslruher Institut für Psychologie: "Stadt heißt Dichte." Je weniger Fläche eine Stadt verbraucht, umso ökologischer ist sie. Wer hingegen Grün vor der Haustür haben will, zieht oft raus aus der Stadt. "Das führt zu Suburbanisierung und in der Konsequenz zu einer Auflösung der Stadt."

Der italienische Architekt Stefano Boeri hat das auf eine naheliegende und gleichzeitig faszinierende Weise gelöst: Er baute auch die Natur in die Vertikale. Ein "Bosco Verticale", ein vertikaler Wald, ragt seit vergangenem Herbst in Mailand in die Höhe, ein Hochhaus mit riesenhaften Balkons, auf denen Bäume wachsen. 20 000 Pflanzen und 800 bis zu neun Meter hohe Bäume sollen das Haus eines Tages insgesamt bewachsen, das entspricht etwa einem Hektar Wald in der Fläche – und das mitten in der Stadt. An sich keine schlechte Idee. "Das scheint das Ei des Kolumbus zu sein", sagt Rambow, "aber wer kann sich Quadratmeterpreise von 9000 Euro leisten?" Es ist ein Projekt für Reiche, zudem ist noch offen, ob das Konzept auf Dauer tragfähig ist. Rambow erinnert das an das Commerzbankhochhaus in Frankfurt am Main, das 1997 mit ähnlich revolutionären Plänen angetreten war: Hängende Gärten sollten das Gebäude auf der gesamten Höhe umwuchern. "Von außen ist heute davon nichts wahrnehmbar", sagt Rambow. "Die Symbiose von Grün und Architektur ist hochproblematisch." Erst eine Langzeit-Evaluation könne zeigen, ob das im Fall des Vertikalen Walds anders ist. Vielleicht sterben die Bäume ab, oder die Bewohner ziehen doch eine andere Bepflanzung vor.

Bleibt also doch nur, rauszuziehen ins Grüne? Der Architekturpsychologe findet, es tun auch überschaubarere Maßnahmen wie Schrebergärten, Straßenbegrünung, "Pocket Parks" – kleine begrünte Plätze – oder Dächer mit Bewuchs. Auch die Graswurzelbewegung des "Urban Gardening", in der Städter jede Verkehrsinsel und jedes Baumbeet bepflanzen, könnte viel versprechend sein, wenn sich der Trend hält. Solche Räume müssen planerisch geschützt werden, fordert Rambow. Viele Stadtplaner führen zudem das Tempelhofer Feld in Berlin als besonders positives Beispiel dafür an, wie Natur und Weite in die Stadt gebracht wurden: Das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof wurde auf einen Bürgerentscheid hin nicht bebaut. Einer der "verhandelbaren Räume", die Kulturwissenschaftler wie Engel so wichtig finden – und zwar riesengroß. Die Menschen gärtnern dort, joggen, grillen oder fahren Inlineskates auf einer Fläche, auf der wohl die Frankfurter Innenstadt Platz hätte – "ein irrer Luxus", wie Rambow findet. Dennoch müsse man in die Rechnung einbeziehen, dass ein Erhalt derartig riesiger Freiflächen in dicht besiedelten Städten nicht umsonst ist: Angesichts der knappen verbleibenden Bauflächen steigen Mieten und Immobilienpreise. Die Quadratur des Kreises ist eben doch nicht möglich.

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