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Wildschweine in der Stadt: Grunzende Nachbarn

Deutschlands Wildschweine haben eine ausgesprochene Vorliebe für das Stadtleben entwickelt. Wissenschaftler untersuchen nun, wie sie sich in ihrer neuen Heimat verhalten - und wie man zerstörerische Wühlaktionen unterbindet.
Wildschweine

Ein Wildschwein sollte man nicht unterschätzen. "Sein geistiges Wesen ist nicht so stumpf, wie man gewöhnlich annimmt", wusste der bekannte Zoologe Alfred Brehm schon im 19. Jahrhundert. "Unter gewöhnlichen Umständen benimmt es sich weder unklug noch ungeschickt, bekundet nicht selten auch bemerkenswerte List", schrieb er in seinem Mammutwerk "Brehms Tierleben". Hinrich Zoller von der Universität Rostock kann das nur bestätigen: "Diese Tiere sind extrem clever, vorsichtig und lernfähig." Das aber sind beste Voraussetzungen für ein Leben in der Stadt. Arten mit solchen Talenten fällt es besonders leicht, die Chancen dieses Lebensraums zu nutzen und den Gefahren aus dem Weg zu gehen. Und tatsächlich melden deutsche Städte immer mehr grunzende Bewohner – nicht nur zur Freude der menschlichen Nachbarn.

Denn eine Rotte Borstentiere auf Nahrungssuche kann einige Zerstörungskraft entfalten. Über Nacht schaffen es die wühlenden Rüssel problemlos, einen Garten oder Park in eine Kraterlandschaft zu verwandeln. Allein das Rostocker Amt für Stadtgrün verzeichnete 2011 auf seinen Flächen rund 100 000 Euro Schaden. Grund genug, ein Forschungsprojekt zu starten. Im Auftrag der Stadt Rostock und des Schweriner Landwirtschaftsministeriums sollen Hinrich Zoller und seine Kollegen in den nächsten drei Jahren hinter die Kulissen des Rostocker Wildschweinalltags schauen. "Um die Schäden eindämmen zu können, müssen wir einfach mehr über die Lebensgewohnheiten der Tiere wissen", sagt der Biologe.

Zusammenrottung im Grünstreifen | Der Bestand an Schwarzwild wächst und wächst in deutschen Wäldern. Immer öfter dringen daher die klugen Tiere in Städte vor – und verwüsten Grünanlagen und Gärten. Mit umfangreichen Forschungsprogrammen wollen Wissenschaftler klären, wie sich dem Trend Einhalt gebieten lässt.

Schweine auf dem Vormarsch

Obwohl das Projekt gerade erst gestartet ist, stößt es bereits auf großes Interesse. Ratsuchende aus den verschiedensten Regionen von Baden-Baden bis Hamburg fragen nach Tipps und wirksamen Rezepten gegen die wühlenden Rotten. Dabei hatte das Problem noch vor wenigen Jahrzehnten kaum irgendwo auf der Tagesordnung gestanden. Für Landwirte sind Wildschweine zwar seit jeher ein Ärgernis. Doch von den Städten hielten sich die Borstentiere lange fern – bis sie Ende der 1980er Jahre die Vorzüge Berlins entdeckten.

"Das ist eine großflächige Stadt mit Waldstücken und grünen Korridoren, die für Wildschweine sehr gute Bedingungen bietet", sagt Hinrich Zoller. Da locken Essensreste und Komposthaufen, da gibt es Gärten und Parks, in deren feuchter Erde sich Blumenzwiebeln und andere Leckereien verbergen. Warum sich also mit dem knappen Nahrungsangebot der Wälder zufriedengeben, wenn nebenan das Schlaraffenland liegt? Vor allem in trockenen, heißen Sommern können die flexiblen Allesfresser ihren Hunger in einem Stadtgebiet viel einfacher stillen. Etwa seit Ende der 1990er Jahre haben das die Rostocker Schweine erkannt. Und auch in vielen anderen deutschen Städten sind die Bestände deutlich gewachsen.

"Das hängt zum einen damit zusammen, dass auf ehemaligen Feldern und an Waldrändern immer mehr Neubaugebiete entstanden sind", erläutert Hinrich Zoller. Da war der Weg ins Schlemmerparadies für die Tiere nicht weit. Vor allem aber gibt es in Deutschland heute deutlich mehr Wildschweine als früher. Also drängen auch immer mehr in die Städte. Wie viele Tiere in einer bestimmten Region leben, ist zwar schwer zu schätzen, genaue Zahlen gibt es meist nicht, doch die Jagdstrecken liefern immerhin einen Anhaltspunkt. In Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel haben Jäger in der Saison 1938/39 insgesamt etwa 6000 Schweine geschossen. 2008/2009 waren es 76 000. Und auch in allen anderen Bundesländern gibt es ähnliche Trends.

Der Wildschweinzuwachs scheint gleich mehrere Ursachen zu haben. Milde Winter, wie sie Deutschland im Zuge des Klimawandels vor allem in den 1990er Jahren ungewöhnlich häufig erlebt hat, sind aus Schwarzkittelsicht schon mal eine gute Sache. Denn ohne Schnee und strengen Frost können die wühlenden Allesfresser problemlos Wurzeln, Insekten und andere Nahrung aus dem Boden holen und so gut genährt den Winter überstehen. Das steigert die Überlebenschancen von früh geborenen Frischlingen, die in Deutschland normalerweise ab März zur Welt kommen. Zudem können gut im Futter stehende Weibchen schon mit weniger als einem Jahr selbst mit der Familiengründung beginnen.

"Ganz sicher profitieren die Tiere aber auch von der Umstrukturierung der Landwirtschaft", sagt Hinrich Zoller. Wegen der großen Nachfrage nach Energiepflanzen boomt seit einigen Jahren bundesweit der Anbau von Raps und Mais. Auf solchen Feldern aber finden die Tiere nicht nur reichlich zu fressen, die großen Pflanzen bieten auch gute Deckung. Schon ab Mai ist der Raps hoch genug, um eine Rotte zu verbergen. Und da der Mais erst im Oktober geerntet wird, kommen Jäger monatelang nur schwer zum Schuss.

Dabei versuchen sie oft durchaus, die steigenden Schweinezahlen durch mehr Abschüsse wieder zu dezimieren. Doch die cleveren Tiere sind offenbar in der Lage, sich dem steigenden Jagddruck anzupassen und sich entsprechend vorsichtiger zu verhalten. "Man hat das Gefühl, sie sind uns immer einen oder zwei Schritte voraus", sagt Hinrich Zoller. Da er selbst Jäger ist, weiß er, wie Wildschweine "ticken". Und das kommt ihm bei seiner Arbeit sehr zugute.

Mit Fallen und Sendern

Die erste Herausforderung seines Projekts bestand nämlich darin, genügend Borstentiere einzufangen und mit einem Sender ausgerüstet wieder freizulassen. Das ist die übliche Methode, wenn man mehr über die Aktivitäten von Wildtieren herausfinden will. Nur muss man sie dazu eben erst einmal erwischen. Und das ist bei Wildschweinen keineswegs einfach. Gemeinsam mit den örtlichen Förstern stellen die Rostocker Wissenschaftler dazu große Fallen mit einer Hand voll Mais als Köder auf. Am besten dort, wo die wühlenden Rüssel schon ihre Spuren hinterlassen haben. Und dann heißt es warten. Vielleicht taucht die Rotte ja wieder auf. Und vielleicht lässt sich ein Tier in den Gitterkasten locken. Dann können die Forscher die Falle per Fernsteuerung schließen.

Damit dieser Plan aufgeht, müssen sie allerdings sehr vorsichtig vorgehen. Es gilt, möglichst wenig Witterung zu hinterlassen, die das Misstrauen der Tiere wecken könnte. "Bei bestimmten Wetterlagen und Windrichtungen können wir auch gleich wieder einpacken", weiß Hinrich Zoller. Und selbst wenn alles stimmt, ist viel Geduld gefragt. Wenn sich dann endlich ein Tier in die Falle wagt, handelt es sich oft um den neugierigen Nachwuchs der Rotte. Diese Frischlinge bekommen einen kleinen Sender ans Ohr, den man mit Hilfe einer Antenne anpeilen kann. So lässt sich feststellen, wo die zugehörige Schweinefamilie gerade unterwegs ist.

Für raffiniertere Überwachungstechnik sind solche Ohrsender allerdings nicht groß genug. Denn die erfordert mehr Energie und damit größere Batterien, die sich nur in einem Sendehalsband unterbringen lassen. Über das Satellitennavigationssystem GPS ermittelt so ein Halsband regelmäßig die Position seines Trägers. Es speichert diese Daten auf einem Chip und sendet sie nach sieben Peilungen automatisch per SMS an eine Zentrale. Von dort bekommt Hinrich Zoller die Informationen per Mail auf seinen Computer im Büro.

"Das ist deutlich effektiver, als nächtelang mit der Peilantenne durch die Gegend zu laufen", sagt der Forscher. Nur braucht man eben auch die richtigen Tiere für das Halsband. Frischlinge sind zu klein, die ausgewachsenen Männchen verändern im Lauf des Jahres sehr stark ihr Körpergewicht und damit auch die Dicke ihres ohnehin kaum vorhandenen Halses. Da lässt sich der Sender nicht richtig befestigen. Bleiben also die ausgewachsenen Weibchen. "Gerade diese Bachen, die eine Rotte anführen, sind allerdings besonders vorsichtig und clever", sagt Hinrich Zoller. "Da kann es Monate dauern, bis man sie in die Falle bekommt."

Umso zufriedener sind die Forscher mit ihren bisherigen Erfolgen. Mehr als 20 Tiere trotten bereits mit Halsbändern oder Ohrsendern durch die Gegend. Auf welchen Routen sind die Tiere unterwegs? Kommen sie von außerhalb in die Stadt, oder halten sie sich dauerhaft dort auf? Wo liegen ihre Tagesverstecke, wo gehen sie nachts auf Nahrungssuche? Warum ist eine Grünfläche immer wieder umgewühlt, eine andere aber nicht? Richten alle Tiere Schäden an oder nur bestimmte Rotten? Solche Fragen hoffen die Forscher mit Hilfe der neuen Daten beantworten zu können.

Blick in den Schweinealltag

"Bisher ist das Verhalten von Wildschweinen vor allem in Wäldern und auf landwirtschaftlichen Flächen untersucht worden", sagt Hinrich Zoller. Über die borstigen Stadtbewohner dagegen ist vergleichsweise wenig bekannt. Etwas Licht ins Dunkel hat kürzlich ein Team um Tomasz Podgórski vom Institut für Säugetierkunde der Polnischen Akademie der Wissenschaften gebracht [1]. Die Forscher haben das Verhalten von Schweinen im Białowieża-Urwald im Osten Polens mit dem von Artgenossen in Krakau verglichen. Die insgesamt 35 mit Sendern ausgerüsteten Tiere legten dabei ein recht unterschiedliches Verhalten an den Tag.

So durchstreiften die Stadtschweine insgesamt ein kleineres Gebiet als ihre Wald-Kollegen – vermutlich, weil die geeigneten Lebensräume in Krakau nicht so groß sind wie in Białowieża. Um ihre Bedürfnisse trotzdem zu befriedigen, legten die Krakauer Borstentiere allerdings doppelt so weite Wege zurück. Und während sich die schweinischen Aktivitäten im Urwald ungefähr gleichmäßig auf Tag und Nacht verteilen, sind die vierbeinigen Stadtbewohner fast ausschließlich nachts unterwegs. Dadurch versuchen sie offenbar, ihren zweibeinigen Nachbarn so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Hinrich Zoller und seine Kollegen sind gespannt, ob sich ähnliche Trends auch in Rostock zeigen.

Berliner Borstentiere werden künftig ebenfalls verstärkt unter Beobachtung stehen. Milena Stillfried vom Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung (IZW) und ihre Kollegen wollen dort ebenfalls etliche Tiere mit Sendern ausrüsten. Zudem hoffen sie auf die Mithilfe von interessierten Berlinern und Brandenburgern, die Wildschweinbeobachtungen melden. Ein dritter Teil des Projekts besteht darin, Proben von Jagdstrecken zu untersuchen. "So können wir zum Beispiel mehr über den Gesundheitszustand und die Stressbelastung der Wildschweine herausfinden", erläutert die Forscherin. Genetische Analysen werden mehr über die Verwandtschaftsverhältnisse der Tiere verraten, der Mageninhalt erlaubt Rückschlüsse auf ihren Speiseplan. Stück für Stück wollen die Forscher so ein Bild vom Alltag der vierbeinigen Hauptstadtbewohner zusammensetzen.

Genau wie ihren Rostocker Kollegen geht es ihnen dabei vor allem um eines: Auf wissenschaftlicher Basis wollen sie wirksamere Strategien entwickeln, um das Wildschweinproblem in den Griff zu bekommen. Denn daran fehlt es bisher noch. Mit stark riechenden Abwehrmitteln kann man die wühlenden Rotten zwar vielleicht vorübergehend von unerwünschten Besuchen abhalten. Länger als ein paar Wochen aber hält die Wirkung nicht an. Jede Grünfläche einzuzäunen, ist schon allein aus finanziellen Gründen keine Lösung. Und auch die Jagd hat in Städten ihre Tücken. So ist der Abschuss dort aus Sicherheitsgründen nur mit Sondergenehmigung erlaubt. Und die Schweine sind äußerst geschickt darin, sich in unübersichtliche Refugien zurückzuziehen. "In Städten zum Schuss zu kommen, ist oft ziemlich schwierig", sagt Hinrich Zoller.

Ein Köder zur Verhütung

Katarina Jewgenow vom Berliner IZW sieht aber noch einen anderen Grund, sich bei der Bestandskontrolle von Wildschweinen nicht nur auf die Jagd zu verlassen. Das Problem ist die enorme Fruchtbarkeit der Tiere. Ausgewachsene Bachen können bis zu zweimal im Jahr sechs bis acht Junge werfen. Selbst wenn viele Frischlinge nie erwachsen werden, kann sich daher der Bestand in einem Gebiet innerhalb eines Jahres verdoppeln oder verdreifachen. "Tiere mit so hohen Fortpflanzungsraten können Verluste gut kompensieren und lassen sich daher durch die Jagd nur schwer dezimieren", erläutert Katarina Jewgenow. Bei solchen Arten sei es wirkungsvoller, die Reproduktion zu unterbinden.

Nun kann man frei lebenden Wildtieren kaum ständig ein Verhütungsmittel verabreichen. Doch es gibt eine Alternative, die Wissenschaftler "Immunokontrazeption" nennen. Dabei wird der normale Fortpflanzungszyklus der Tiere durch eine Art Impfung unterbunden. Der Impfstoff enthält bestimmte Proteinbausteine des so genannten "Gonadotropin-Releasing-Hormons". Dieses Hormon der Hirnanhangdrüse brauchen Säugetiere, um Sexualhormone herstellen zu können. Doch mit dem Impfstoff behandelte Schweine bilden Antikörper, die das Hormon abfangen und unwirksam machen. Daraufhin produzieren die Schweine kaum noch Sexualhormone wie Östrogen und Testosteron. Sowohl männliche als auch weibliche Tiere werden dadurch unfruchtbar. "Wie bei einer Impfung gegen Krankheiten muss man die Behandlung allerdings nach einigen Jahren wiederholen", sagt Katarina Jewgenow.

Bei Hausschweinen wird die Methode bereits eingesetzt. Um das Fleisch schmackhafter zu machen, werden Eber einige Monate vor dem Schlachten kastriert. Während man den Tieren hier zu Lande die Hoden entfernt, setzen australische Schweinezüchter schon seit einiger Zeit auf die Impfmethode. Nach etwa vier Monaten zeigen die damit behandelten Eber keinerlei Fortpflanzungsinteresse mehr. Untersuchungen belegen, dass die Impfung keine gesundheitlich bedenklichen Rückstände im Fleisch hinterlässt. Es würde also nichts dagegen sprechen, auch Wildschweine damit zu behandeln, die später möglicherweise als Braten auf dem Teller landen.

Einen Haken hat die Behandlung jedoch: Der Impfstoff wird bei Hausschweinen in die Muskeln gespritzt. Da man aber unmöglich jedes Wildschwein einzeln einfangen und behandeln kann, setzen die Forscher am IZW stattdessen auf eine Schluckimpfung. Im Kampf gegen die Schweinepest haben sich Köder aus gepresstem Trockenfutter bewährt, in denen der Impfstoff versteckt ist. Mit ein paar Anpassungen könnte man solche Köder auch zur Empfängnisverhütung verwenden. Allerdings wird man sie nicht einfach in Wäldern und Parks auslegen können. Denn die Antibabyimpfung würde auch bei anderen Säugetieren wirken, die den Köder fressen. Doch auch für dieses Problem haben die IZW-Mitarbeiter eine Lösung: Ein mit einer Kamera gekoppelter Futterautomat, der die Umrisse der auftauchenden Tiere erfasst und mit vorgegebenen Daten vergleicht. Nur wenn die Informationen auf ein Wildschwein hindeuten, gibt der Automat einen Köder frei. "Wir würden diese Methode sehr gern zur Anwendungsreife weiterentwickeln", sagt Katarina Jewgenow. Noch fehlt dazu die nötige Finanzierung. Doch die Rotten wühlen weiter. Und der Leidensdruck wächst.

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