Direkt zum Inhalt

News: Hat das Ur-Kilogramm bald ausgedient?

Chemnitzer Physiker haben eine neues Verfahren entwickelt, kleinste Teilchen mit extrem hoher Genauigkeit zerstörungsfrei zu wiegen. Mit der Methode lassen sich geladene Partikel im Bereich von der Größe eines Atoms bis hin zu solchen von einem Zwanzigtausendstel Millimeter Durchmesser und einer Masse von nur 0,000 000 000 000 1 Gramm (einhundert Billiardstel Gramm) bestimmen. Der Meßfehler liegt dabei bei nur 0,001 Prozent. Das Verfahren könnte in Zukunft dazu dienen, die Einheit der Masse, das Kilogramm, genauer als jemals zuvor zu bestimmen.
Wann immer auf der Welt etwas gewogen wird, wird es – wenn auch über mehrere Zwischenstufen – letztlich mit dem "Urkilogramm" verglichen. Das ist ein Zylinder von 39 Millimeter Höhe und ebenfalls 39 Millimeter Durchmesser, der im Internationalen Büro für Maße und Gewichte (BIPM) in Sèvres bei Paris aufbewahrt wird. Dieser Zylinder, so wurde 1889 auf einer internationalen Konferenz festgelegt, wiegt exakt ein Kilogramm. Alle anderen Gewichte auf der Welt leiten sich von diesem Urkilogramm ab. Das Urkilogramm besteht aus einer Legierung von neunzig Prozent Platin und zehn Prozent Iridium, weil diese Metalle nicht vom Luftsauerstoff angegriffen werden und sich bei Temperaturänderungen nur wenig ausdehnen. Aber man kann natürlich nie wissen – deshalb steht das Urkilogramm auf einem runden Tischchen, über das eine Art Käseglocke gestülpt ist, und über diese eine weitere, zweite Käseglocke.

Exakte Nachbildungen des Urkilogramms, die sogenannten "Nationalen Kilogrammprototypen", werden in vielen Ländern aufbewahrt, in Deutschland zum Beispiel bei der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig. Etwa alle zehn Jahre werden diese Prototypen mit dem Urkilogramm in Paris verglichen. Aus dem billigeren Edelstahl werden hingegen die Hauptnormale angefertigt, die einmal im Jahr mit dem Nationalen Prototypen verglichen werden. Und diese Hauptnormale wiederum werden in den Eichämtern benutzt, um Waagen und "Gewichte" zu eichen. Der Begriff "Gewicht" ist eigentlich nicht ganz korrekt, hat sich aber umgangssprachlich für "Masse" eingebürgert.

Jetzt haben die Physiker Dr. Stephan Schlemmer, Jens Illemann, Stefan Wellert und Prof. Dieter Gerlich von der Technischen universität Chemnitz einen Weg gefunden, mit dem sich die Masse des Urkilogramms wesentlich genauer als bisher definieren ließe und die zudem – anders als andere supergenaue Massebestimmungsmethoden – die zu wiegenden Proben bei der Messung nicht zerstört.

Dadurch könnte das Urkilogramm bald zu einer bloßen Antiquität werden wie zuvor schon das Urmeter. Das Urmeter nämlich war ursprünglich der Abstand zwischen den mittleren von jeweils drei Strichen, die an beiden Enden auf einem x-förmigen Stab angebracht sind, der ebenfalls aus Platin-Iridium besteht. Auch dieser Stab wird in Paris beim BIPM aufbewahrt. Ähnlich die Ursekunde: Sie war im vergangenen Jahrhundert als der 86.400ste Teile des mittleren Sonnentages festgelegt worden. Für Wissenschaft und Technik erwiesen sich diese Werte jedoch schon seit langem als viel zu ungenau. Seit 1960 ist deshalb das Meter definiert als das 1 650 763,73fache der Wellenlänge des orangefarbenen Lichts, das Atome des Edelgases Krypton unter bestimmten Bedingungen aussenden, und seit 1968 die Sekunde als das 9 192 631 770fache der Zeit, die vergeht, wenn ein Cäsiumatom von einem Energiezustand in einen anderen und zurück wechselt. Nur beim Kilogramm muß man sich bis heute auf jenen Platin-Iridium-Zylinder berufen, der längst nicht mehr den Ansprüchen von heute genügt.

Das Chemnitzer Verfahren benutzt für seine Massebestimmungen ein sogenanntes Quadrupol-Massenfilter, auch Ionenfalle genannt. Eine solche Falle hatte in den fünfziger Jahren der Bonner Physiker Wolfgang Paul entwickelt und dafür 1989 den Nobelpreis erhalten. Mit ihr lassen sich elektrisch geladene Teilchen einfangen und auf engem Raum einsperren. Die Falle besteht aus zwei einander gegenüber stehenden schalenförmigen Elektroden und einer weiteren, senkrecht dazu stehenden Ringelektrode. Die Elektroden sind dabei nur Millimeter voneinander entfernt. An die Elektroden wird eine Wechselspannung angelegt. Diese Spannung erzeugt ein elektrodynamisches Feld. Ein solches Feld kann ein Teilchen für eine beliebig lange Zeit festhalten. Gerade, weil dieses Feld sich gewissermaßen laufend dreht, fängt es das Teilchen sofort wieder ein und schiebt es in die alte Lage zurück, sobald es sich selbständig macht. Das ermöglicht es, die Eigenschaften solcher Teilchen genau zu bestimmen, sie beliebig lange zu beobachten, Versuche an ihnen durchzuführen und physikalische Theorien zu testen.

Wie eine solche Falle aussieht, kann man sich an einem Modell verdeutlichen, das man leicht aus Büroklammern bauen kann. Die beiden gegenüberstehenden Klammern entsprechen den schalenförmigen Elektroden, die zu einem Ring gebogene Büroklammer die Ringelektrode. Auch mit einer solchen einfachen Falle läßt sich etwa ein Staubkorn in der Schwebe halten.

Die Paul-Falle der Chemnitzer Forscher ist freilich etwas komplizierter aufgebaut. So befinden sich die Elektroden in einem nahezu luftleer gepumpten Edelstahlgehäuse. Ein feiner Laserstrahl beleuchtet das dort eingeschlossene Teilchen und wird an ihm gestreut. Das schwache Streulicht wird über eine Linse gesammelt und außerhalb des Gehäuses von einem äußerst empfindlichen Lichtdetektor ausgewertet. Aus diesen Signalen läßt sich die spezifische Ladung ermitteln, das ist das Verhältnis von Ladung des Teilchens zu seiner Masse. Das eingesperrte Teilchen wird zudem mit Elektronen beschossen. Aus der Anzahl der aufgenommenen Elektronen läßt sich zunächst die Ladung des Teilchens bestimmen. Hieraus berechnen die Forscher das "Gewicht".

Das Chemnitzer Verfahren unterschiedet sich von ähnlich empfindlichen anderen Massebestimmungsverfahren dadurch, daß die Teilchen bei der Messung nicht zerstört werden oder sonstwie verloren gehen. Bisher ist es den Wissenschaftlern gelungen, Teilchen bis herunter zu einer Größe von fünf Zehntausendstel Millimetern – zum Vergleich: Ein menschliches Haar ist rund hundertmal so dick – und dem unvorstellbar geringen Gewicht von 0,000 000 000 000 1 Gramm (100 Billiardstel Gramm) zu wiegen. Damit liegen Teilchengröße und -gewicht genau zwischen Atomen und Molekülen auf der einen und gerade noch mit bloßem Auge erkennbaren Strukturen auf der anderen Seite. Dieser Bereich ist für die Physiker hochinteressant, gelangt man hier doch in die Welt der Quantenmechanik, in der die normalen Naturgesetze nur noch eingeschränkt gelten. Es ist gleichzeitig der Größenbereich, in den die elektronischen Schaltkreise, etwa für Computerchips, vermutlich schon in den nächsten Jahren vorstoßen werden.

Besonders faszinierend ist aber, daß man das Kilogramm neu definieren könnte – es ist die Grundeinheit unseres Meßsystems, die mit den größten Ungenauigkeiten und Fehlern behaftet ist. Zudem könnte das Ur-Kilogramm auch jederzeit beschädigt, zerstört oder gar gestohlen werden. Aus diesem Grunde bemühen sich die internationalen Eichbehörden schon seit geraumer Zeit darum, den Wert des Kilogramms an eine Naturkonstante zu binden. Das ermöglicht das neuartige Chemnitzer Wiegeprinzip. Dann könnte es zum Beispiel heißen: Ein Kilogramm ist die Masse von 21,4435 Quadrillionen Atomen – einer Zahl mit 25 Stellen – des Elements Silicium. Daß die Zahl der Atome ungefähr so groß sein müßte, weiß man aus theoretischen Überlegungen heraus.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.