Direkt zum Inhalt

Artensterben: Im Abschwung

Sie rollt: Die gegenwärtige sechste große Aussterbewelle der Erdgeschichte fordert in hohem Tempo ihren Tribut von den Tieren und Pflanzen des Planeten. Und ihr Umfang könnte sogar noch unterschätzt sein - zumindest in der Vogelwelt. Doch es gibt auch Zeichen der Hoffnung.
Der Letzte seiner Art: ausgestorbener Po'o-uli
Für Anwarrudin Choudhury war es sicherlich der bislang größte Tag seines Ornithologenlebens: jener 6. Juni 2006, an dem er eine sensationelle Entdeckung machte. Erstmals nach mehr als siebzig Jahren ohne glaubwürdige Hinweise beobachtete Choudhury während einer Exkursion in den Manas-Nationalpark im Nordosten Indiens wieder eine Manipur-Buschwachtel (Perdicula manipurensis).

Wiederentdeckt: Manipur-Buschwachtel | Wiederentdeckt: Erstmals seit mehr als siebzig Jahren gelang wieder der Nachweis der Manipur-Buschwachtel (Perdicula manipurensis).
Dieser kleine Hühnervogel lebte in kleinen Gruppen in den ausgedehnten Hochgrasfluren und Sümpfen Assams und wurde 1905 erstmals wissenschaftlich beschrieben. Nach 1932 gab es allerdings keine bestätigten Sichtungen der Buschwachtel mehr – ihr Lebensraum wurde größtenteils trocken gelegt und zu Viehweiden oder Reisfeldern umgewidmet, um die rasant wachsende Bevölkerung des Bundesstaats zu ernähren. Das fortgesetzte Überleben der Art erschien Experten folglich mehr als fraglich, und sie trugen sich langsam mit dem Gedanken, die Manipur-Buschwachtel in die Liste der ausgestorbenen Tierarten aufzunehmen.

Damit hätte sich die Spezies in jene traurige Reihe eingeordnet, in der seit dem Beginn der Neuzeit im Jahr 1500 offiziell bereits 129 Vogelarten stehen: vom berühmten Dodo von Mauritius am Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Po'o-uli (Melamprosops phaeosoma) aus Hawaii, dessen wohl letzter Vertreter im November 2004 in Gefangenschaft starb.

Wohl ausgestorben: der Neukaledonien-Lori | Das einzige Exemplar seiner Art: ein ausgestopfter Balg eines Neukaledonien-Loris (Charmosyna diadema) im Pariser Museum für Naturgeschichte. Die Art wird seit 1859 vermisst und gilt deshalb als ausgestorben.
Womöglich ist die Zahl 129 aber auch eine drastische Unterbewertung und sind in Wahrheit während der letzten 400 Jahre mindestens viermal so viele Vogelspezies für immer vom Planeten verschwunden wie bislang angenommen. Und wenn die Menschheit nicht bald gegensteuert, könnte sich dieser Trend bis zum Ende des Jahrhunderts noch einmal deutlich verschärfen, warnen Forscher um Stuart Pimm von der Duke-Universität in Durham in einer neuen Studie [1].

So fehlen in den offiziellen Aufzeichnungen ein Großteil jener gefiederten Inselbewohner des Pazifiks, die nach 1500, aber lange vor Ankunft der Europäer den Expansionsbestrebungen der Polynesier zum Opfer fielen: Funde von historischen, so genannten subfossilen Knochen aus den letzten Jahrhunderten deuten an, dass bis zu tausend verschiedene Rallen-, Tauben- oder Papageienarten dem Hunger der menschlichen Neuankömmlinge, deren tierischen Begleitern wie Schweinen und Ratten oder Rodungen zum Opfer gefallen sein könnten. Allein Hawaii verlor in dieser Zeit bis zu sechzig Prozent seiner knapp 140 endemischen Vogelarten und Neuseeland die Hälfte – ähnliches gilt nach Ansicht der Forscher ebenso für die Inseln anderer Ozeane.

Ebenfalls ausgestorben: Alatroa-Taucher | Dieses unscharfe Bild ist eines der letzten Hinweise auf den Alatroa-Taucher von Madagaskar, der seit 1985 nicht mehr gesehen wurde.
Dazu kommen viele Spezies, die der Wissenschaft nicht nur durch ihr Skelett, sondern immerhin durch ihren Balg oder sogar Forschungsarbeiten bekannt sind, aber bereits seit langem als vermisst einzustufen sind. Dazu zählt etwa das Kapuzenpfäffchen (Sporophila melanops) aus Brasilien – seit 1823 verschollen – oder die Oloma'o-Drossel (Myadestes lanaiensis) von den Hawaii-Inseln, die letztmals 1980 gesehen wurde. Aus verschiedenen Gründen deklarieren Ornithologen sie als extrem gefährdet, aber noch nicht offiziell als ausgestorben, weil noch intakte Lebensräume im ursprünglichen Verbreitungsgebiet vorhanden sind oder sich die Vögel wegen ihrer heimlichen Lebensweise schwer beobachten lassen.

Nun haben sich Stuart Butchart von der Naturschutzorganisation Birdlife International und seine Kollegen die Mühe gemacht, diese Liste der Wackelkandidaten auf wohl tatsächlich für immer verschwundene Spezies zu durchforsten [2]. Nach ihren Recherchen sind weitere 14  Vogelarten ins Nirwana des Artensterbens eingegangen, während der Spix-Ara (Cyanopsitta spixii) heute nur mehr in menschlicher Haltung überdauert. Auch diese Tiere bezog Pimms Team in seine Kalkulation mit ein.

Vom Aussterben gefährdet: Grauflügelkotinga | Sein Überleben hängt am seidenen Faden: Der Grauflügelkotinga (Tijuca condita) überlebt bislang noch in kleinen Bergregenwäldern an Brasiliens Atlantikküste und wird durch Abholzungen un den Klimawandel akut gefährdet.
Die Knochenfunde wie diese jüngeren Verluste könnten allerdings immer noch nur die Spitze des Eisbergs sein, befürchten die Forscher anhand von statistischen Berechnungen. Denn die meisten Skelettrelikte stammen aus der Gruppe der Nichtsingvögel, die größer und schwerer sind, sodass ihre sterblichen Überreste eher die Zeiten überdauern als jene der kleinen Sperlingsvögel. Deren Artenzahl ist jedoch doppelt so groß, hohe Verluste in der Gruppe der Singvögel müssen deshalb ebenfalls befürchtet werden.

Zudem betrifft das Aussterben naturgemäß eher seltene Spezies mit kleinen Verbreitungsgebieten, wie sie häufig in tropischen Wäldern und Gebirgen vorkommen. Manche Gebiete wie die Mata Atlantica – der Küstenregenwald Brasiliens –, die Anden oder Westafrika haben bereits in historischer Zeit riesige Areale ihrer natürlichen Vegetation eingebüßt, sodass es für die Biologen sehr wahrscheinlich ist, dass viele Vogelspezies bereits verloren gingen, bevor sie wissenschaftlich erfasst wurden.

Höchst selten: Madagaskar-Fischadler | Er war auch lange verschollen und hat doch in geringer Zahl überlebt: der Madagaskar-Fischadler (Haliaeetus vociferoides).
Alles in allem kalkulieren deshalb Pimm wie auch Butchart und ihre Kollegen, dass seit 1500 mindestens eine Vogelart jährlich ausstarb, was hundertmal so schnell ist wie es der natürlichen Verlustrate entspricht. Und da gegenwärtig etwa ein Viertel der bekannten 10 000 Spezies gefährdet ist, könnte sich diese Geschwindigkeit bis zum Ende des Jahrhunderts noch einmal verzehnfachen – sofern sich an den gegenwärtigen negativen Bedingungen nichts ändert.

Die Gründe für den Niedergang der Biodiversität sind wohlbekannt: An erster Stelle steht die rapide um sich greifende Umwandlung von Natur- in Kulturlandschaften, gefolgt von übermäßiger Jagd und eingeschleppten exotischen Tieren. Zukünftig dürfte außerdem der Klimawandel an Bedeutung gewinnen, denn er verschiebt Vegetationszonen und gefährdet damit ganze Ökosysteme.

Ebenfalls kurz vor dem Aussterben: Purpurflügelkolibri | Der winzige natürliche Lebensraum des Purpurflügelkolibris (Aglaeactis aliciae) in Peru wurde weit gehend durch Eukalyptusplantagen ersetzt.
Eine Untersuchung von Niclas Jonzén von der schwedischen Universität in Lund bietet allerdings wenigstens für die europäischen Zugvögel einen Hoffnungsschimmer [3]: Die Langstreckenzieher reagieren wohl doch flexibler auf die Erderwärmung als bisher prognostiziert, da sie mittlerweile früher aus ihrem afrikanischen Winterurlaub in die Brutgebiete zurückkehren und so folglich ihre Küken mit den ebenfalls zeitiger startenden Insektenbeständen versorgen können.

Und auch Pimms Team bietet noch eine gute Nachricht zum Schluss: Während der letzten drei Jahrzehnte ist die globale Aussterberate wieder leicht gesunken, weil intensive Erhaltungsmaßnahmen mindestens 25 Spezies vor dem ansonsten sicheren Artentod bewahrt haben. Naturschutz kann sich also wirklich lohnen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.