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Gleichberechtigung: Die Rückkehr der Mädchen

In vielen Ländern Asiens wurden traditionell Söhne bevorzugt, während Töchter millionenfach im Babyalter starben – durch Kindstötung oder Vernachlässigung. Erst in letzter Zeit beginnt sich das Missverhältnis zwischen männlichen und weiblichen Nachkommen auszugleichen.
Es sitzen wieder mehr Mädchen auf den Schulbänken: Jahrzehntelang waren Töchter in Ländern wie Indien, China und Südkorea unerwünscht und die Geschlechterverhältnisse stark verzerrt. Verstädterung, Bildungsangebote und Staatliche Kampagnen führen jetzt vielerorts zur Trendwende.

Töchter seien unnütz und wertlos, schrie eine Greisin, als ich mich 1996 in einem südkoreanischen Dorf mit einer Gruppe älterer Frauen über Familienprobleme unterhielt. Die anderen nickten zustimmend. Aber warum, wollte ich wissen. Faul seien Töchter nicht, antwortete die Alte, das sei nicht der Grund. "Im Gegenteil, Frauen erledigen die meiste harte Feldarbeit, und ihre Heirat kostet praktisch nichts. Trotzdem sind Töchter unerwünscht, weil sie der Familie nicht nützen – sie gehen fort, wenn sie heiraten. Die Söhne hingegen bleiben daheim, erben den Besitz und pflegen die Rituale der Ahnenverehrung."

In China hörte ich ähnliche Geschichten. Wie ein Mann erzählte, war seine Frau bei der Geburt der Tochter "so bestürzt, dass sie das Kind gar nicht aufziehen wollte; ich musste sie überreden, es zu stillen".

Solche Einstellungen entscheiden über Leben und Tod. Von Natur aus werden um 5 bis 6 Prozent mehr Jungen als Mädchen geboren, doch im Jahr 2000 kamen in China 20 Prozent mehr Knaben zur Welt. Dieses schiefe Geschlechterverhältnis findet man in großen Teilen Ost- und Südasiens, im Südkaukasus sowie in einigen Balkanstaaten. Überall werden weibliche Babys abgetrieben, bei der Geburt getötet, oder sie sterben durch Vernachlässigung. Warum? Wie die Südkoreanerin mit brutaler Offenheit aussprach: Das Mädchensterben hat wirtschaftliche Gründe. Diese Kulturen verbieten erwachsenen Töchtern seit jeher, im elterlichen Haushalt mitzuhelfen oder Eigentum zu erben, und das mindert ihren Wert für die Familie.

Das große Verschwinden | Daten aus Volkszählungen und Sozialstudien belegen, dass der Anteil weiblicher Neugeborenen in mehreren asiatischen Ländern über viele Jahrzehnte hinweg dramatisch abnahm. Für Europa und Nordamerika ist dergleichen nicht zu beobachten. Erst seit einigen Jahren steigt der Mädchenanteil in Südkorea, China und Indien wieder an.

Doch seit Kurzem gerät Bewegung ins demografische Ungleichgewicht. In Südkorea hat sich der einst große Überschuss männlicher Nachkommen seit Mitte der 1990er Jahre nicht nur normalisiert, sondern schlägt tendenziell sogar in eine Präferenz für Töchter um. In Indien zeigt die Volkszählung von 2011 für den Nordwesten einen deutlichen Rückgang des dort besonders krassen Missverhältnisses zwischen Mädchen und Jungen. Auch in China hat sich der starke Trend zur Bevorzugung männlicher Babys abgeschwächt.

Die Verschiebungen hängen offenbar mit der rapiden Verstädterung zusammen sowie mit dem durch sozialen Wandel erhöhten Wert von Töchtern. Sie verschwinden nicht mehr aus ihren Familien, sondern bringen manchmal sogar zusätzliche Männer ins Haus. 20 Jahre nach dem erwähnten Besuch in Südkorea erzählte mir dort eine Frau: "Meine Mutter wurde in ihrer Jugend viel geschmäht, weil sie drei Töchter hatte und keinen Sohn. Jetzt, da wir erwachsen sind, ist sie sehr froh darüber, denn wir bleiben alle beisammen. Sie sagt, ihre Schwiegersöhne behandeln sie besser als leibliche Söhne."

Jahrhundertelang trieben die Normen der Agrargesellschaft in China, Südkorea und Nordwestindien die Töchter aus dem elterlichen Haushalt. Mit der Heirat gingen Frauen in die Familie des Mannes über. In der Herkunftsfamilie sorgte die Einheirat von Schwiegertöchtern für neue Arbeitskräfte, was den Wert von Söhnen erst recht unterstrich. Ähnliche Verhältnisse herrschten in Nordvietnam und im Südkaukasus.

Sobald eine Frau zur Familie des Gatten wechselt, verliert sie ihr Anrecht auf das eigene Elternhaus. Stattdessen entsteht dort Platz für die Bräute ihrer Brüder. Wenn die Frau dennoch zurückkehrt – was selten vorkommt –, haben sie und die Eltern größte Mühe, mit der ungewöhnlichen Situation fertigzuwerden. Andere Familienmitglieder und das Dorf sträuben sich, weil sie ihre Eigentumsrechte bedroht sehen. Sobald eine Frau im ländlichen China heiratet, wird ihr Anspruch auf Grund und Boden unter den Dorfbewohnern aufgeteilt, und eine Heimkehr kann auf erheblichen Widerstand stoßen.

Die Wirkung dieser kulturellen Normen wird am Unterschied zwischen Taiwan und Südkorea einerseits und den Philippinen andererseits deutlich. Erstere haben streng patrilineare – männlich orientierte – Verwandtschaftssysteme, während Letztere bei der Erbfolge keinerlei Geschlecht bevorzugen. In Taiwan und Südkorea leben Eltern sehr oft mit verheirateten Söhnen, aber fast nie mit verheirateten Töchtern zusammen; das hat eine Feldstudie ergeben, die ich mit Doo-Sub Kim von der Hanyang University in Seoul durchgeführt habe. Auf den Philippinen hingegen teilen sich die Eltern den Haushalt gleich häufig mit verheirateten Kindern beiderlei Geschlechts. Erwartungsgemäß ist das Geschlechterverhältnis auf den Philippinen – anders als in Taiwan und Südkorea – quantitativ nahezu ausgeglichen.

Unerwünschte Mädchen werden nicht nur durch Kindstötung und Vernachlässigung aus der Welt geschafft. In den 1980er Jahren wurde es möglich, das Geschlecht des Fötus per Ultraschalluntersuchung festzustellen. Von da an konnten die Eltern durch Abtreibung die Geburt ungewollter Töchter vermeiden. Entsprechend stieg das Ungleichgewicht der Geschlechter von da an.

Krisen treffen Mädchen härter | In China sank der Prozentsatz weiblicher Kleinkinder in Notzeiten besonders deutlich. Die Familien entledigten sich ihrer Töchter, die sie als weniger wert erachteten, wenn Krieg oder Hunger herrschte. In den 1980er Jahren begann die restriktive Ein-Kind-Politik das Geschlechterverhältnis erneut zu kippen.

Hungersnöte und Kriege erhöhen den Drang, vermeintlich überflüssige Kinder loszuwerden. Als japanische Truppen 1937 den Osten Chinas überfielen, stieg die Sterberate der Mädchen um 17 Prozent gegenüber für solche Zeiten zu erwartende Werte. Die Eltern in Kriegsgebieten standen vor schweren Entscheidungen. In der Provinz Zhejiang erzählte mir eine Frau, was sie in den 1930er Jahren erlebt hatte: "Ich war sechs Jahre alt, als meine Mutter sagte, ich müsse verkauft werden. Ich flehte meinen Vater an, mich zu behalten. Ich versprach, ganz wenig zu essen, wenn ich bleiben durfte." Ähnlich wirkt sich der Zusammenbruch von Regierungen aus. In den Ländern des südlichen Kaukasus kamen nach dem Ende der Sowjetunion plötzlich viel mehr Jungen als Mädchen zur Welt.

Kronprinzen ohne Bräute

Auch der Trend zu kleineren Familien treibt Eltern dazu, Söhne zu favorisieren. In großen Familienverbänden, wo alle ausreichend zu essen haben, kann man sich mehrere Töchter und obendrein ein, zwei Söhne leisten. In der Kleinfamilie dagegen sinkt mit der Geburtenrate zugleich die Chance auf einen Stammhalter. In Kleinfamilien, die männliche Nachkommen bevorzugen, stirbt die zweite Tochter mit viel höherer Wahrscheinlichkeit vor oder bald nach der Geburt als ihre große Schwester.

Das "Verschwinden" der Mädchen zieht allerdings irgendwann einen Mangel an erwachsenen Frauen nach sich. Infolge der jahrzehntelangen Bevorzugung männlicher Nachkommen leiden China, Südkorea und Nordwestindien inzwischen unter einem "Heiratsengpass". China ist am stärksten betroffen: 2010 schätzte die Chinesische Akademie der Sozialwissenschaften, dass im Jahr 2020 jeder fünfte Mann keine Partnerin finden werde.

Am härtesten trifft der Brautmangel die ärmeren Männer. Wie Shan-Jin Wei von der New Yorker Columbia University berichtet, greifen arme chinesische Eltern zu verzweifelten Maßnahmen, um die Chancen ihres Sohns auf dem Heiratsmarkt zu erhöhen. Zum Beispiel nehmen sie eine besonders gefährliche Arbeit an, um mehr zu verdienen und ein schönes Haus bauen zu können, damit er für die wählerischen Damen attraktiver wird.

Umgekehrt nützt der Heiratsengpass den Frauen. Eine Untersuchung von Maria Porter von der Michigan State University in East Lansing ergab, dass Chinesinnen in Regionen mit Brautmangel in der Ehe mehr mitzureden haben und dadurch ihre Eltern besser unterstützen können. Aus armen Gebieten stammende Frauen können wohlhabendere Männer wählen; mitunter wechseln die Bräute dafür den Wohnort oder wandern sogar in ein anderes Land aus. In China, Südkorea und Indien sind die Männer, die solche Fernheiraten eingehen, meist schlechter gestellt als die lokalen Mitbewerber auf dem Heiratsmarkt. Damit sind sie zwar unattraktiv für die Bräute der Nachbarschaft, können aber Heiratswilligen, die aus ärmlichen Verhältnissen stammen, ein besseres Leben bieten.

Die Fernheiraten sind für die Frauen jedoch riskant. Eine Braut aus einer anderen ethnischen Gruppe oder Sprachregion hat mitunter Schwierigkeiten, sich zu assimilieren; sie gilt als Außenseiterin, kennt weder die neue Sprache noch die örtlichen Gebräuche und ist kaum sozial vernetzt. Meist lebt sie mit ihrem Ehemann auf dem Land, wo sie nur schwer Anschluss findet.

Oft bleibt es nicht bei sozialer Isolation und kulturellen Missverständnissen. 2010 befragten Forscher der Vietnam National University in Ho-Chi-Minh-Stadt zahlreiche in Taiwan verheiratete Vietnamesinnen. Die meisten gaben zwar an, sie seien froh, ihrer Herkunftsfamilie finanziell unter die Arme greifen zu können, doch einige Aussagen trübten das Bild: So würden etwa der Gatte und seine Verwandtschaft die Frau verachten, weil sie arm ist; sie werde misshandelt oder müsse arbeiten wie eine Sklavin. Tatsächlich fand eine taiwanesische Studie 2006, dass Fernheiraten das Risiko häuslicher Gewalt erhöhen. Für Südkorea wies Doo-Sub Kim von der Hanyang University eine erhöhte Scheidungsrate bei solchen Ehen nach.

Insgesamt ruft die Entstehung einer ganzen Generation von unfreiwilligen Junggesellen mehr Verbrechen und Gewalt hervor, insbesondere Gewalt gegen Frauen. Zwei Studien – eine für Indien, die Jean Drèze an der Delhi School of Economics durchführte, sowie eine in China von Lena Edlund an der Columbia University – bestätigen, dass mit dem Männerüberschuss die Kriminalität zunimmt.

Wenn die Präferenz für Stammhalter sinkt | In Südkorea hat die erklärte Vorliebe für männliche Nachkommen seit Beginn der 1990er Jahre stetig abgenommen. Infolge dieses Wertewandels sank bald auch der Prozentsatz neugeborener Söhne.

Abnehmende Vorurteile

Seit zwei Jahrzehnten beginnen die Vorurteile gegen Töchter abzunehmen. Mein Kollege Woojin Chung und ich haben für Südkorea gezeigt, dass sich die Haltung der Mütter zum Geschlecht der Kinder drastisch geändert hat. 1991 betonten 35 Prozent der befragten Frauen, die zwischen 1955 und 1964 geboren waren, sie müssten einen Sohn haben. 2003 beharrten nur noch 19 Prozent desselben Jahrgangs darauf. Mit dem Einstellungswandel hat sich auch das Geschlechterverhältnis der Neugeborenen verändert.

Was ließ den Wert der Mädchen steigen? Zweifellos spielen Urbanisierung und Bildung der Eltern eine wichtige Rolle. In Südkorea hat sich der Anteil an Menschen, die in Städten zu Hause sind, zwischen 1966 und 1986 von 33 auf 67 Prozent verdoppelt. 1991 lebten bereits 75 Prozent der Bevölkerung in urbanen Regionen. Das hat soziale und ökonomische Auswirkungen, denn in der Stadt schwindet die zentrale Bedeutung der Söhne. Während Dorfbewohner ihr Dasein im engen Kreis der Verwandtschaft zubringen, leben und arbeiten Städter in der unpersönlichen Umgebung von Wohnblocks und Bürogebäuden. Damit sinkt der Konformitätsdruck, der junge Männer zu Gehorsam und Fortsetzung der Erbfolge verpflichtet.

In der Stadt unterstützen Kinder ihre Eltern weniger auf Grund traditioneller Normen, sondern vor allem wenn sie zufällig in der Nähe wohnen und sich emotional gebunden fühlen. Auf diese Weise nivelliert die Urbanisierung die ungleiche Bewertung von Söhnen und Töchtern. Sobald Letztere Zugang zu Bildung und Arbeit haben, können sie die Eltern besser unterstützen. Zugleich sind Eltern, die in den Genuss von Renten und sozialen Sicherungssystemen kommen, finanziell unabhängiger von ihren Kindern.

Darüber hinaus fördern staatliche Maßnahmen gezielt die Gleichberechtigung von Männern und Frauen. So hat Indien eine Quotenregelung eingeführt, damit sich mehr Kandidatinnen für lokale Regierungsämter aufstellen lassen. Soziologischen Untersuchungen zufolge führte die Initiative zu einem Abbau stereotyper Vorurteile in der Gesamtbevölkerung, während gleichzeitig das weibliche Selbstbewusstsein wuchs.

Frauen als Vorbilder

In Indien, China und Südkorea propagieren die Massenmedien die Vorteile der Familienplanung. Plakate und die allgegenwärtige Fernsehwerbung ermuntern die Eltern, wenige Kinder zu bekommen – und nicht unbedingt Söhne. So sind in diesen Ländern immer mehr Menschen der Ansicht, dass eine Familie mit Töchtern ebenso glücklich werden kann wie mit männlichen Nachkommen.

In den populären indischen Fernsehserien arbeiten die dargestellten Frauen nicht mehr nur zu Hause, sondern nehmen am öffentlichen Leben teil. Die dadurch vermittelten Werte stellen die traditionelle Meinung über die soziale Rolle der Frau in Frage. Die Vorliebe für Söhne nimmt durch solche Einflüsse nachweislich ab.

In mehreren Ländern wurde darüber hinaus versucht, das sexuelle Ungleichgewicht durch ein Verbot der vorgeburtlichen Geschlechtsbestimmung und -selektion zu stoppen. Mangels exakter Daten sind die Erfolge solcher Maßnahme jedoch fraglich. Sowohl in Indien als auch in China, wo besonders weit reichende Verbote einer sexuellen Selektion gelten, änderten sich die Geschlechterverhältnisse dadurch kaum.

Da die Verstädterung der asiatischen Länder rapide fortschreitet, dürfte die Bevorzugung von Söhnen weiter abnehmen. Die offiziellen Stellen können diesen Prozess durch Gesetze und emanzipatorische Maßnahmen beschleunigen; etwa indem sie Medieninhalte fördern, die zeigen, wie Frauen ihre eigenen Eltern – und nicht nur die Schwiegereltern – im Alter pflegen. Dadurch können geschlechtsbedingte Stereotype sowie die Vorliebe für männlichen Nachwuchs ins Wanken geraten. Solche Ansätze dürften Frauen und der Gesellschaft insgesamt mehr dienen als ein Verbot pränataler Selektion.

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  • Quellen

Chung W., Das Gupta, M.: The Decline of Son Preference in South Korea: The Roles of Development and Public Policy. In: Population and Development Review 33, S. 757–783, 2007

Das Gupta, M., Shuzhuo, L.: Gender Bias in China, South Korea and India 1920–1990: Effects of War, Famine and Fertility Decline. In: Development and Change 30, S. 619–653, 1999

Das Gupta, M. et al.: Why Is Son Preference so Persistent in East and South Asia? A Cross-Country Study of China, India and the Republic of Korea. In: Journal of Development Studies 40, S. 153–187, 2003

Edlund, L. et al.: Sex Ratios and Crime: Evidence from China. In: Review of Economics and Statistics 95, S. 1520–1534, 2013

Zhen, G. et al.: "Missing Girls" in China and India: Trends and Policy Challenges. In: Asian Population Studies 12, S. 135–155, 2016

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