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Navigation: Ja wo fliegen sie denn?

Eine dauerhafte Ortsveränderung aus dem regnerischen englischen Spätsommer in die verlässliche warme Mittelmeersonne - klingt nach einer guten Entscheidung. Das finden offenbar auch jene Massen an Schmetterlingen, die sich jedes Jahr über den Kanal auf den Weg gen Süden machen. Fragt sich nur, woher sie den Weg kennen.
Am Rande der Weide
Könnten Kohlkopf, Erbse und Co aufatmen, sie würden es in Südengland wohl im August tun. Denn alljährlich gegen Ende des Sommers verschwindet ein Erbfeind aus der Gegend des Grünzeugs: Autographa gamma. Die Gammaeule, ein recht dekorativ gemusterter Schmetterling aus der Sippschaft der Eulenfalter, hat als Raupe großen Hunger auf allerlei niedrig wachsende Feld- und Gartenpflanzen und wütet gelegentlich in Massen – besonders gerne unter Kohl und Hülsenfrüchten. Wenn die Tage aber kürzer und kühler werden, macht sich der erwachsene Nachtfalter aus Britannien auf gen Mittelmeer. Endlich, aus Sicht des Grünzeugs. Endlich, meinte in den Jahren zwischen 2000 und 2003 auch Jason Chapman und machte sich an die Arbeit.

Der am Rothamsted-Forschungszentrum in der Grafschaft Hertfordshire arbeitende Ökologe hatte mit seinen Kollegen drei Spätsommer lang auf der Lauer gelegen, um das Woher und Wohin der abfliegenden Gammaeulen genauer zu analysieren.

Flatternde "Wandervögel"

Nun sind saisonale Wanderungen, auch über enorme Distanzen, bei Insekten eigentlich nichts ganz Ungewöhnliches: Schnelle Langstreckenflugspezialisten wie der Monarchfalter in Amerika oder der Distelfalter in Europa fliegen weite Strecken zwischen Brutgebieten und Winterquartieren und legen dabei pro Wandertag schon einmal Hunderte von Kilometern zurück. Der nordamerikanische Monarch schwappt vom Frühjahr an in kürzeren Tagestouren und über mehrere Generationen in den Norden der USA, bis die älteren Enkel und Urenkel der ersten Frühlingsfalter dann, anhand der Sonne navigierend, in ausdauernden Langstreckenflügen ins mexikanische Winterquartier zurückkehren.

Ähnlich verläuft auch das bewegte Jahr der wandernden Nachteulen, abgesehen von ein paar wesentlichen Details, die das Interesse von Forschern wie Chapman rechtfertigen: Autographa gamma fliegt im Vergleich zum einen erstaunlich langsam – und zum anderen vor allem nur nachts. An der Sonne können sich die Tiere demnach auf dem Weg ins Warme schon mal nicht orientieren.

Und vielleicht, so hatten Insektenkundler dem nächtlichen Wanderer auch bereits unterstellt, orientieren die Tiere sich sogar überhaupt nicht, sondern verfolgen einfach eine Hasardeur-Strategie: Sie hoffen auf günstige Winde im richtigen Augenblick und lassen sich von ihnen dorthin tragen, wo sie hinblasen. Mit Glück werden sie so dann irgendwann nahe Nizza landen – mit Pech in der Nordsee kurz hinter Schottland.

Das, fand Chapmans Team, wäre eine erstaunlich unterkomplexe Überlebensstrategie und machte sich auf die Suche nach gewiefteren Nacht-Navigationsmethoden. Dazu nutzten die Forscher zwei Radarstationen in Südengland, die empfindlich genug waren, auch die Bewegungen von Insektenschwärmen noch genau aufzuzeichnen und sammelten Daten von insgesamt 42 Massenwanderungsereignissen.

Hoch in den Lüften

Wie die Radarüberwachung enthüllte, hat Autographa gamma – andere Insekten fliegen hier gar nicht mehr im Schwarm so spät im Jahr – eine besondere Vorliebe für größere Flughöhen über 150 Metern. Dabei suchten die Gammaeulen nicht, wie eigentlich zu erwarten gewesen wäre, die wärmsten Luftschichten auf, sondern offensichtlich aktiv jene, in denen die schnellsten Windgeschwindigkeiten herrschten. Was ja noch nicht beweist, dass die Falter keine Hasardeure sind – vielleicht sind sie eben einfach nur konsequent darin, sich dem zufälligen Wehen des Winds auszuliefern?

Durchaus nicht, stellten Chapman und Co fest, denn die Schwärme stiegen zwar routinemäßig in der Dämmerung zur üblichen Flughöhe auf, blieben dort in neun von zehn Fällen aber nur dann, wenn sie hier Nordwind vorfanden, und landeten ansonsten schnell wieder. Offensichtlich hatten die Falter also eine klare Vorstellung davon, in welche Richtung sie gerne verblasen werden wollten.

Dies zeigte sich umso deutlicher an den im Detail aufgezeichneten Eigenflugkursen der Tiere ohne Windeinfluss. Mit ihren rund fünf Metern pro Sekunde flatterten fast alle der einzeln analysierten Gammaeulen in die Generalrichtung Südsüdwest – offenbar einem in der vorgefundenen Situation abgerufenen, genetisch fest verdrahteten Lieblingskurs.

Die Nachteulen müssen demnach einen geomagnetischen Kompasssinn besitzen, mit dem sie echten und gewünschten Kurs vergleichen können, schlussfolgern Chapman und Kollegen. Alternative Methoden zum Magnetsinn zur Richtungsfestellung fallen dabei aus, so die Wissenschaftler: Die Sonne als Orientierungsfixpunkt schien nachts nie, der Mond war bei immerhin einem Drittel der erfolgreichen Südkurs-Schwarmwanderungen ebenfalls noch nicht aufgegangen, und die Sterne sind mit großer Wahrscheinlichkeit viel zu lichtschwach für kurzsichtige Komplexaugen von Schmetterlingen.

Gezielte Kurskorrektur

Ihren Magnetsinn nutzen die Gammaeulen sogar in nur halbwegs günstigen Nordwind-Situationen zu ihrem Vorteil, wie weitere Kursanalysen zeigten. Immer wenn die Windrichtung um mehr als 20 Grad von dem in den Genen vorprogrammierten Südsüdwest abwich, begannen die Tiere in einem Winkel gegen den Wind anzufliegen, der die Abdrift vom gewünschten Kurs bestmöglich kompensiert. Dabei scheint es nur auf den ersten Blick so, als ob der mäßige Eigenschub der Schmetterlinge in der kräftigen Höhenbrise ohnehin keinen Effekt hat – denn tatsächlich summiert sich die kompensatorische Kurskorrektur der Falter auf die Langstrecke sehr wohl.

Insgesamt sind damit die Flugleistungen der Gammaeulen auf dem Weg in ihre Winterquartiere beeindruckend, fasst Chapman zusammen: Individuell legen einzelne Tiere pro Nacht bis zu 650 Kilometer in die richtige Richtung zurück; in der Masse zogen "allein im August 2003 in einem Streifen von 150 Kilometern quer durch Südengland mehr als 200 Millionen Nachteulen nach Süden – enorm". Dem beeindruckten Forscher macht das mit Blick auf viele saisonal massenhaft wandernden Pflanzenschädlinge allerdings auch Bauchschmerzen: Wanderungen von Heuschrecken und anderen, gefährlicheren Schädlingen als der Gammaeulen dürften in Zukunft immer weitere Kreise ziehen – der globalen Erwärmung sei dank. Kohlkopf und Co wissen also gar nicht, was noch auf sie zukommen könnte.

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