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Teilchenphysik: KATRIN – die Feinwaage für Neutrinos

Am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) steht derzeit die weltweit genaueste Waage für Neutrinos. Sie soll die Massen dieser Geisterteilchen noch wiegen können, selbst wenn diese deutlich weniger als ein Millionstel der Elektronenmasse besitzen. Teilchen- und Astrophysiker gleichermaßen warten sehnsüchtig auf das Ergebnis.
Blick in das Spektrometer

Am 25. November 2006 zwängte sich ein riesiges, silbrig schimmerndes Gefährt durch die engen Straßen des Ortes Leopoldshafen bei Karlsruhe. Es handelte sich um den größten Ultrahochvakuum-Behälter der Welt, der in wenigen Wochen für erste Testmessungen im Karlsruher Tritium Neutrino Experiment, KATRIN, in Betrieb gehen wird. Und er soll dazu beitragen, endlich das große Rätsel um die Masse der Neutrinos zu lösen.

Die beim Urknall entstandenen Neutrinos sind neben Photonen die häufigsten Elementarteilchen im Universum. In jedem Volumen von der Größe einer Streichholzschachtel befinden sich knapp zehntausend von ihnen. Neutrinos entstehen im Innern der Sonne und anderer Sterne oder bei Sternexplosionen. Da sie Materie nahezu ungehindert durchdringen, lassen sie sich schwer nachweisen und untersuchen. Weil ihre Massen noch immer unbekannt sind, stellen sie eine große Unbekannte im Standardmodell der Elementarteilchen dar. Gleichzeitig ist unklar, welchen Einfluss sie auf die Entwicklung des Kosmos hatten.

Für die bislang genaueste Massenbestimmung nutzt KATRIN den radioaktiven Zerfall von Tritium, genauer gesagt dessen Betazerfall. Damit knüpfen die Forscher an die aufregende Entdeckungsgeschichte der Neutrinos an.

Ein verzweifelter Ausweg

"Liebe radioaktive Damen und Herren": Mit diesen Worten richtete der Physiker Wolfgang Pauli am 4. Dezember 1930 einen Brief an seine Kollegen mit weit reichenden Folgen. In den 1920er Jahren hatten Physiker den Betazerfall radioaktiver Elemente untersucht. Hierbei schoss aus dem zerfallenden Kern ein Elektron heraus. Vor und nach dem Zerfall hatten Mutter- und Tochterelement fest definierte, messbare Energiezustände, deren Differenz das Elektron hätte davontragen müssen. Stattdessen aber besaßen die Elektronen unterschiedliche Energien, während der Rest auf unergründliche Weise verschwunden schien. War hier der heilige Energieerhaltungssatz verletzt, nach dem Energie nicht verloren gehen kann? Außerdem schienen auch Spin und Impuls nicht erhalten zu bleiben.

Um dieses unverständliche Verhalten zu erklären, postulierte Pauli "als verzweifelten Ausweg" die Beteiligung eines unsichtbaren Elementarteilchens am Betazerfall. Es sollte die fehlenden Beträge von Energie und Impuls mitnehmen und einen bestimmten Spin besitzen, so dass es die Erhaltungssätze wieder in Ordnung brachte.

Nach den experimentellen Daten musste das unbekannte Teilchen elektrisch neutral sein, weswegen ihm Pauli den Namen Neutron gab. Als aber 1932 der britische Physiker James Chadwick einen neutralen Kernbaustein entdeckte, nannte man diesen Neutron, und Enrico Fermi taufte Paulis Neutron in Neutrino (kleines Neutron) um.

26 Jahre nach seinem Brief an die "radioaktiven Damen und Herren" erhielt Wolfgang Pauli ein Telegramm aus Los Alamos. Darin teilten ihm Clyde Cowan und Frederick Reines erfreut mit, dass sie erstmals Neutrinos nachgewiesen hätten. Es handelte sich um Elektron-Antineutrinos, die im Innern des Savannah-River-Kernreaktors entstanden waren. Der Nachweis der beiden anderen Neutrino-Arten ließ noch länger auf sich warten: Das Myon-Neutrino zeigte sich erstmals 1962, das Tau-Neutrino 2000. Diese drei Neutrino-Arten nennt man Flavour-Zustände.

Das Telegramm | Als Clyde Cowan und Frederick Reines in ihrem Savannah-Experiment erstmals Neutrinos nachwiesen, schickten sie Wolfgang Pauli ein Telegramm mit der Erfolgsmeldung.

In den 1990er Jahren entdeckten Physiker, dass Neutrinos ihre Identität wechseln. Wenn sie zum Beispiel bei einer Kernreaktion im Innern der Sonne als Elektron-Neutrinos entstehen, können einige von ihnen sich auf dem Weg zur Erde zu Myon-Neutrinos umwandeln – und wieder zurück. Sie pendeln also zwischen Zuständen hin und her, oder, wie Physiker sagen, sie oszillieren. Mit unterschiedlichen Experimenten haben Forscher in den letzten Jahren ermittelt, auf welchen Distanzen und mit welchen Wahrscheinlichkeiten diese Oszillationen vor sich gehen. Daraus lassen sich zwar die Massenunterschiede der unterschiedlichen Neutrino-Arten berechnen – nicht jedoch die absoluten Massenwerte der einzelnen Arten. Die erhält man nur mit einer extrem genauen Analyse des physikhistorisch so bedeutenden Betazerfalls. Und genau hier kommt KATRIN ins Spiel.

KATRIN-Spektrometer geht an den Start

Mit dem etwa 70 Meter langen Experiment will ein internationales Team von Astroteilchenphysikern den Betazerfall von Tritium mit bislang unerreichter Genauigkeit messen. Tritium, auch überschwerer Wasserstoff genannt, eignet sich aus mehreren Gründen am besten hierfür.

Zum einen ist es mit einem Proton und zwei Neutronen im Kern das einfachste Isotop, das einen Betazerfall erfährt. Dank seiner kurzen Halbwertszeit von 12,3 Jahren erreichen die Physiker mit der von KATRIN verwendeten Menge an gasförmigem Tritium rund hundert Milliarden Zerfälle pro Sekunde.

Zum anderen ist die Zerfallsenergie von 18 600 Elektronvolt (eV) sehr niedrig. Dies ist von Vorteil, da sich die Energie bei jedem Zerfall auf das Elektron und das Elektron-Antineutrino aufteilt. Erhält das eine Teilchen mehr Energie, steht dem anderen nur ein geringerer Betrag zur Verfügung. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Energie eines Teilchens aus seiner kinetischen Energie (der Geschwindigkeit) und seiner Ruhemasse zusammensetzt. Mit Einsteins berühmter Formel E=mc2 lässt sich die Ruhemasse m über das Quadrat der Lichtgeschwindigkeit c in eine Energie umrechnen.

Da ausschließlich die Ruhemasse des Elektron-Antineutrinos gesucht ist, untersucht man Betazerfälle, bei denen es keine kinetische Energie erhält. Entsprechend der Energiebilanz im Zerfall erhält in diesem (extrem seltenen) Fall dann das Elektron seine maximale kinetische Energie.

Die Aufgabe von KATRIN wird es also sein, die Form des Spektrums der Elektronenenergien nahe am Endpunkt des Tritiumzerfalls zu messen, an dem die kinetische Energie der Elektronen maximal ist. Trotz der hohen Zerfallsrate müssen die Physiker ihre Messungen über Jahre hinweg durchführen, um die Neutrino-Ruhemasse zu bestimmen.

Bisherige Tritium-Experimente konnten bis zum Jahr 2000 lediglich eine obere Grenze von 2 eV/c² angeben. Sie wurde von Physikern aus Mainz und Troizk in Russland aufgestellt. Das ist jedoch noch zu ungenau für viele Fragen der Teilchenphysik. KATRIN soll eine untere Nachweisgrenze von 0,2 eV/c² erreichen. Zum Vergleich: Das Elektron wiegt 511 000 eV/c².

Diese zehnfach höhere Genauigkeit, die mit KATRIN erzielt werden soll, erfordert einen erheblichen technischen Aufwand. So muss das verwendete hochreine molekulare Tritium bei einer Temperatur von 30 Kelvin gehalten werden. Dabei dürfen die räumlichen und zeitlichen Schwankungen in der Quelle einen Wert von 0,1 Prozent nicht überschreiten, um eine konstante Dichte des Gases und damit eine konstante Zerfallsaktivität einzustellen.

Die beim Zerfall frei werdenden Elektronen fliegen in alle Richtungen aus den Kernen heraus. Ein starkes Magnetfeld lenkt sie aber so um, dass die Hälfte von ihnen in Richtung auf das große Spektrometer fliegt, das wie eingangs geschildert mit großem Geschick durch Leopoldshafen dirigiert wurde. Im Innern des Spektrometers müssen die Elektronen zur Bestimmung ihrer Energie ein elektrisches Feld überwinden. Dies ist ähnlich wie beim Minigolf, bei dem ein Ball nur mit entsprechender Geschwindigkeit (Energie) einen Hügel überqueren kann. Bei KATRIN schaffen dies nur die schnellsten und damit die allerwenigsten Elektronen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist in etwa so groß wie für zwei Lottogewinne hintereinander. Damit die Elektronen dabei nicht aus der Bahn geraten, muss das Spektrometer mit einem Vakuum betrieben werden, das so gut ist wie an der Mondoberfläche. Die wenigen Elektronen, die das Spektrometer durchqueren, werden schließlich in einem Detektor von der Größe eines Bierdeckels gezählt.

Die Spannung steigt

Technisch gehen die Physiker mit KATRIN bei vielen Komponenten bis an die Grenzen des technisch Machbaren. "Als besonders herausfordernd erwies sich die Temperaturstabilisierung der zehn Meter langen Tritiumquelle", erklärt Guido Drexlin vom KIT in Karlsruhe, der die Aufbauarbeiten vor Ort leitet und auch einer der beiden wissenschaftlichen Leiter von KATRIN ist. "Bei unseren Tests haben wir sogar eine Stabilität von einem zehntel Promille und damit einen wichtigen Meilenstein erreicht", sagt er. Auch die Entwicklung der supraleitenden Spulen, die das Magnetfeld erzeugen, war eine weitere technische Hürde, deren Überwindung mehr Zeit und Aufwand erforderte als gehofft. Diese und andere Gründe waren dafür verantwortlich, dass die rund 60 Millionen Euro teure Hightech-Anlage einige Jahre später als ursprünglich geplant an den Start gehen wird.

Unterwegs | Das Hauptspektrometer – 24 Meter lang und 10 Meter im Durchmesser – windet sich auf dem Weg durch enge Straßen.

Wenn das große Spektrometer erstmals angelaufen ist, wird die 70 Meter lange Anlage Schritt für Schritt in Betrieb gehen, so dass die Forscher Ende 2015 endgültig loslegen können. "Ein erstes aussagekräftiges Zwischenergebnis werden wir vielleicht schon Ende 2016 präsentieren können", hofft der zweite wissenschaftliche Leiter, Christian Weinheimer von der Universität Münster, der schon am Mainzer Experiment beteiligt war.

Auf die ersten Ergebnisse warten nicht nur die zahlreichen engagierten Forscherinnen und Forscher von KATRIN aus fünf Ländern, sondern die Teilchen- und Astrophysiker weltweit. Die Spannung ist groß, insbesondere nachdem Kosmologen am 21. März dieses Jahres erste Ergebnisse des Weltraumobservatoriums Planck bekannt gegeben haben. Die neuen Messungen der kosmischen Hintergrundstrahlung ermöglichen auch Aussagen über die maximal zulässige Masse der Neutrinos. Eine Abschätzung kommt sogar zum Schluss, dass Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos zusammen nicht mehr Masse besitzen als 0,23 eV/c2. "Diese Resultate sind natürlich harte Bedingungen für uns, aber dieser Wert ergibt sich erst im Zusammenhang mit einem bestimmten kosmologischen Weltbild", sagt Weinheimer. Diese Einschätzung teilen die Planck-Forscher auch selbst in ihren Publikationen und betonen, dass ihre Resultate sehr modellabhängig sind.

"Mit KATRIN machen wir aber eine Messung, die ohne Modellannahmen auskommt. Und es wäre nicht das erste Mal, dass sich Neutrinos völlig anders verhalten, als es die meisten Theoretiker glauben", geben die beiden KATRIN-Sprecher zu bedenken. Wolfgang Pauli hätte ihnen sicher zugestimmt.

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