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Korallenbleiche: Ein Heilmittel für Korallenriffe?

Durch das Verabreichen von Probiotika an geschädigte Korallen erhoffen sich Wissenschaftler, Riffe widerstandsfähiger gegen Umweltbelastungen, Krankheiten und die Auswirkungen des Klimawandels zu machen.
Korallenriff im Südpazifik

Die Marovo-Lagune der Salomonen, eines Inselstaats im Südpazifik, zählt zu den eindrucksvollsten Sehenswürdigkeiten unserer Erde. Seevögel kreisen über der von Inseln umgebenen Meeresbucht, Kokosnüsse treiben wippend im Wasser und Fliegende Fische jagen über die Wellen. Wie kleine Tupfen säumen strohgedeckte Hütten die Strände und werden beinah vom dichten Grün des Regenwalds verschluckt, der die Inseln bedeckt. Doch nach Ansicht der Mikrobiologin und Korallenexpertin Rebecca Vega Thurber liegen die wahren Naturwunder unter dem Rumpf unseres Boots verborgen.

Heute haben sich die Wissenschaftlerin und ihre Mitarbeiter zu der Steilwand eines Riffs von der Größe eines kleinen Mehrfamilienhauses auf den Weg gemacht, die mit leuchtend bunten Korallenformationen besetzt ist. Vom Ankerplatz des Forschungsschiffs aus erreichen sie mit ihrem Schlauchboot nach einer zehnminütigen Fahrt den Rand der Lagune. Vega Thurber, ihre Doktorandin Grace Klinges und der Rest des Forscherteams legen ihre Tauchausrüstungen an und lassen sich einer nach dem anderen seitlich über den Bootsrand ins Wasser fallen.

Etwa eine Stunde lang treiben die Forscher langsam die Riffwand entlang, vorbei an einem Sammelsurium aus gesunden Korallen, Seeanemonen, Krebstieren, pfeilschnellen Doktorfischen und grellbunten Papageifischen, die im Wasser zu glühen scheinen. Mit ihren bloßen Händen brechen die Taucher Korallenproben vom Riff und sammeln sie in ihrer »Korallen-Rollkartei«, einer Hand voll verschließbarer, mit Löchern versehener Plastikbeutel, die von einem Kabelbinder zusammengehalten werden.

Ausgebleichte Korallen | Auch in entlegenen Regionen wie dem südpazifischen Tuamotu-Atoll sterben Korallenriffe durch Ausbleichen ab.

Spektakulär unversehrt

Dieses Riff der Marovo-Lagune zeigt sich in einer geradezu spektakulären Weise unversehrt und enthält derartig viele Korallentypen, dass Vega Thurber es nicht schafft, von jedem der Blumentiere eine Probe zu nehmen. »Es war schier überwältigend«, erklärt die Wissenschaftlerin nach Beendigung ihres Tauchgangs. Viele der dort vorkommenden Korallenarten habe sie noch nie zuvor zu Gesicht bekommen, und alle hätten sich bester Gesundheit erfreut, versichert die Forscherin – sozusagen eine kurze Atempause nach all den sterbenden Korallenkolonien, die sie anderswo gesehen hat.

Eigentlich geht es Vega Thurber aber an diesem und an den Dutzend weiteren Riffen, die sie auf ihrer sechswöchigen Expedition besuchen wird, nicht ausschließlich um die Korallen. Gemeinsam mit ihrem Team von der Oregon State University möchte die Wissenschaftlerin die Genetik jener Mikroorganismen erforschen, die auf der Oberfläche der Blumentiere und in ihrem Inneren leben. Diese winzigen Symbionten, bei denen es sich im Wesentlichen um Algen und Bakterien handelt, helfen nämlich den Korallenkolonien in äußerst vielfältiger Art und Weise: von der Unterstützung des Stoffwechsels bis zur Bildung chemischer Verbindungen, die der Abwehr krankheitserregender Bakterien dienen. Fast scheint es, als würden die Symbionten potenziellen Eindringlingen mit der Botschaft »Bleib weg, das gehört mir« eine Warnung erteilen, verdeutlicht Vega Thurber.

Wenn man herausfinden könnte, welche speziellen Aufgaben die symbiontischen Untermieter für ihre Wirtskorallen erfüllen, würde dieses Wissen vielleicht dazu beitragen, ein Massensterben abzuwenden, das nach Ansicht vieler Korallenexperten und Naturschützer bereits in vollem Gang ist, mutmaßt die Mikrobiologin. Das von uns besuchte Marovo-Riff befindet sich zwar noch in seinem natürlichen Zustand, doch solche intakten Korallenriffe sind heutzutage immer seltener anzutreffen. Bedingt durch die Erwärmung, Versauerung und Verschmutzung der Weltmeere und als Folge destruktiver Fischfangmethoden werden gerade viele der seit Jahrtausenden gewachsenen Korallenriffe auf verheerende Weise zerstört.

Korallenprobe | Während der Expedition sammelten die Wissenschaftler 30 000 Proben von Korallen, um sie zu bestimmen und für spätere Studien wiederzuverwenden.

Bis 2050 eine rifflose Erde?

An einem 700 Kilometer langen Abschnitt des Great Barrier Reef starben im Jahr 2006 mehr als zwei Drittel der Korallen infolge einer außergewöhnlich heftigen Korallenbleiche – eines Prozesses, bei dem die hitzegestressten Blumentiere ihre nützlichen Algen, von denen sie unter normalen Umständen mit wichtigen Nährstoffen versorgt werden, einfach abstoßen. In einem solchen Zustand dauert es oft nicht lange, bis die Korallen schädlichen Krankheiten zum Opfer fallen oder schlichtweg verhungern.

Auf der ganzen Welt waren bereits eine Reihe von Riffen von schweren, durch steigende Wassertemperaturen ausgelöste Korallenbleichen betroffen, und wissenschaftlichen Schätzungen zufolge könnten bis zum Jahr 2050 nahezu alle noch verbliebenen Korallenriffe unserer Erde auf ebensolche Weise zerstört werden. Sollten sich diese Prognosen bewahrheiten, würde das nicht nur ein ökologisches Desaster, sondern auch eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe bedeuten, da Korallenriffe zu den wichtigsten natürlichen Ressourcen zahlreicher Küstenstaaten gehören. Laut einer von der Great Barrier Reef Marine Park Authority in Auftrag gegebenen Studie bescheren Freizeitaktivitäten, Tourismus und kommerzielle Fischerei am Great Barrier Reef der australischen Staatskasse jährliche Einnahmen von etwa 5,7 Milliarden Australischen Dollar (rund 3,6 Milliarden Euro).

Proben | Die Korallen werden zerschnitten und in speziellen Röhrchen eingelagert, damit sie leichter organisiert und transportiert werden können.

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass sich anhand der Mischung der in und auf den Korallen lebenden Mikroorganismen – ihres Mikrobioms – unter anderem feststellen lässt, ob die Korallen dem Stress der sich verändernden Umweltbedingungen auch in Zukunft gewachsen sind. Aus diesem Grund hat sich Vega Thurber während der vergangenen Jahre im Rahmen des so genannten Global Coral Microbiome Project damit beschäftigt, eine Gendatenbank der mikrobiellen Gemeinschaften von Korallenriffen aufzubauen, die schon jetzt die weltweit größte ihrer Art darstellt.

Mittlerweile haben Vega Thurber, ihre Kollegin Monica Medina von der Pennsylvania State University und ihr gemeinsames Team mehr als 3700 Proben von Korallen aus zahlreichen Meeresgebieten auf der ganzen Welt gesammelt und Hunderttausende von Mikroorganismen identifiziert, die sich an der Oberfläche und im Inneren der Blumentiere tummeln. Die komplexen biologischen Prozesse, die die Forscher im Verlauf ihrer Studien aufdecken, stellen nicht nur wertvolle Informationen für jene Forscher dar, die die Mechanismen innerhalb von Korallenkolonien zu verstehen versuchen, sondern zeigen gleichzeitig eine viel versprechende Möglichkeit zur Erhaltung von Korallenriffen auf. Je mehr Vega Thurber darüber in Erfahrung bringen kann, welche Mikroben auf den unterschiedlichen Korallenarten siedeln und welche spezifischen Funktionen diese Kleinstlebewesen erfüllen, desto besser sind die Wissenschaftlerin und ihr Team gerüstet, um Naturschützern bei der Wiederherstellung geschädigter Riffe beratend zur Seite zu stehen und die noch verbliebenen dieser Lebensräume zu erhalten.

»Wiederaufforstung« zerstörter Riffe

Natürlich ist es nicht möglich, Bedrohungen wie die zunehmende Erwärmung und Verschmutzung der Meere, denen Korallenriffe ausgesetzt sind, einfach so aus der Welt zu schaffen – zumindest nicht innerhalb kürzester Zeit. Dennoch weisen die Forschungsarbeiten von Vega Thurber und ihren Kollegen einen Weg, mit dessen Hilfe diese Probleme auf geschickte Weise umgangen werden könnten: indem man einerseits gefährdete Korallen mit nützlichen Mikroorganismen ausstattet, die ihnen eine erhöhte Stresstoleranz verleihen, und indem man andererseits Korallen, die von Natur aus eine Mischung widerstandsfähiger Mikroben besitzen, zur »Wiederaufforstung« zerstörter Riffe verwendet.

Wie steht es um die Korallen? | Taucher untersuchen ein Riff am unbewohnten Ducie-Atoll, das zu Pitcairn gehört.

Während sich die Blumentiere durch langsames Wachstum und längere Fortpflanzungszeiten auszeichnen, entwickeln sich ihre mikroskopisch kleinen Mitbewohner sehr viel schneller und sind daher in der Lage, sich rasch an die veränderten Umweltbedingungen der Ozeane anzupassen. Die Mikroorganismen könnten also ihre Wirtsorganismen schützen, lange bevor die Korallen selbst dazu im Stande sind.

Vega Thurber, die jeder nach der ersten Begegnung gleich »Becky« nennen darf, ist eine mit allen Wassern gewaschene Meeresbiologin. Anfälle von Seekrankheit übersteht die Forscherin mit der Gelassenheit eines alten Seemanns. »Nimm am besten zweimal täglich Bonine«, mit diesen Worten empfiehlt sie mir die Einnahme eines in den USA gebräuchlichen Mittels gegen die Reisekrankheit, bevor sie leidenschaftslos hinzufügt, dass »man trotzdem manchmal die Fische füttern muss«. Seite an Seite mit der wissenschaftlichen Besatzung schiebt Vega Thurber turnusmäßig Nachtwachen an Bord des Forschungsschiffs »Tara«, und selbst nach einem anstrengenden Tauchtag und der anschließenden mehrstündigen Aufbereitung der gesammelten Korallenproben gibt die Wissenschaftlerin auf dem schwankenden Schiffsdeck noch eine Yogastunde.

Schon immer hat sie sich dem Meer besonders verbunden gefühlt. Während ihrer Besuche bei Verwandten in der Dominikanischen Republik in den 1980er Jahren schnorchelte sie bereits als kleines Mädchen mit Begeisterung in den türkisblauen Gewässern, die die Insel umspülten. Als Teenager bemerkte sie plötzlich, wie die einst vor Leben pulsierenden Meeresregionen mehr und mehr verschwanden und nichts als leere Gewässer und ausgeblichene Korallenskelette zurückblieben. Und während sich der Zustand der Korallenriffe weiter verschlechterte, fragte sich Vega Thurber: Wohin sind nur die vielen Fische verschwunden? Und wo sind bloß all die Korallen?

Eine magische Welt verblasste vor ihren Augen

Außenstehende mögen die Geschichten der ums Überleben kämpfenden Korallenriffe vielleicht als abstrakt empfunden haben, aber Vega Thurber ging dieser Verlust persönlich sehr nah – eine Welt, die ihr einst magisch und zeitlos erschienen war, verblasste buchstäblich vor ihren Augen. Die Trauer über diese im Verschwinden begriffene Welt entfachte ihr Interesse an der Meeresbiologie. Sie wollte wissen, warum die Korallen starben und ob sich jene Zerstörungen, die sie selbst beobachtet hatte, vielleicht wieder rückgängig machen ließen.

Dornenkronen-Seestern | Diese Art namens Acanthaster planci frisst gerne Korallenpolypen. Nehmen sie überhand, können sie geschwächte Korallenriffe zusätzlich gefährden.

Fast von Anfang an gründete sich die Forschung Vega Thurbers auf die wachsende wissenschaftliche Erkenntnis, dass es sich bei Korallen nicht nur um Kolonien tierischer Organismen – so genannter Polypen –, sondern um komplexe biologische Systeme handelt, die auch als Holobionten bezeichnet werden. Dank einer ausgewogenen Mischung aus Bakterien, Algen, Protisten und anderen Mikroorganismen, die innerhalb des Korallenpolypen oder auf dessen Oberfläche leben, kann der Holobiont Koralle erfolgreich gedeihen. Die Kleinstlebewesen übernehmen für ihre Wirtsorganismen lebenswichtige Aufgaben und erhalten im Gegenzug Nährstoffe in Form eines zähen Schleims, den die Korallenpolypen produzieren; zudem bietet ihnen das harte Außenskelett der Korallen Schutz.

Während der vergangenen zehn Jahre hat sich das Konzept der Koralle als holobiontischer Organismus innerhalb der meeresbiologischen Forschergemeinschaft zunehmend etabliert, und genauere Untersuchungen dieser vielschichtigen Systeme haben in jüngster Zeit zu einigen der aufsehenerregendsten Entdeckungen auf dem Gebiet der Meeresforschung geführt. Wissenschaftler der University of Hawaii berichteten beispielsweise im Jahr 2009, dass einige Korallen die in ihrem Gewebe lebenden einzelligen Algen an ihre Eier weitergeben und dadurch den Erhalt eines Vorrats an nützlichen Kleinstlebewesen auch in nachfolgenden Generationen sicherstellen. Wenige Jahre später fand ein Forscherteam des Red Sea Research Center in Saudi-Arabien heraus, dass eine starke Erhöhung des Salzgehalts eine rasche Änderung in der Zusammensetzung der von den Korallen beherbergten Mikroorganismen auslöste, die ihrerseits eine Dehydrierung der Korallenpolypen verhinderte.

Korallen passen sich an Stressfaktoren an

Zur Klärung der Frage, warum die Korallen unter Umweltstress starben, entschied sich Vega Thurber, zunächst die verschiedenen Funktionen innerhalb der Lebensgemeinschaft des Korallenpolypen und seiner Mitbewohner im Detail zu untersuchen und anschließend zu ergründen, wie sich diese langfristig auf den Gesundheitszustand von Korallen auswirken. In den Jahren 2006 bis 2008 führte die Wissenschaftlerin während eines Postdoc-Aufenthalts an der San Diego State University Experimente durch, in denen sie die Stressreaktionen der in und auf den Blumentieren lebenden Mikroorganismen unter Laborbedingungen testete.

Expeditionsschiff vor den Solomonen | Als Basis für die Untersuchungen diente das Segelschiff »Tara«.

Vega Thurber überführte einige Exemplare der weit verbreiteten hawaiianischen Korallenart Porites compressa in Aquarien und unterzog die symbiontischen Einzeller einer Gensequenzanalyse. Im Folgenden setzte sie die Korallen jeweils einem von vier störenden Umwelteinflüssen aus: hoher Wassertemperatur, erhöhten Nährstoffkonzentrationen, geringem pH-Wert sowie hohen Konzentrationen gelösten Kohlendioxids (die Ozeane nehmen ja bekanntlich das in der Atmosphäre enthaltene Kohlendioxid auf, was letztlich zu einer zunehmenden Versauerung der Weltmeere führt). Nachdem die Versuchsorganismen diesen Störfaktoren eine gewisse Zeit ausgesetzt waren, sequenzierte Vega Thurber erneut die Genome der mit den Korallen assoziierten Mikroorganismen.

Wie die Forscherin es erwartet hatte, wiesen die Korallenmikrobiome charakteristische Veränderungen auf – je nachdem, mit welchem Stressfaktor die Organismen konfrontiert worden waren. In der Probe des Aquariums mit hoher Nährstoffbelastung ließen sich beispielsweise viele mikrobielle Gene nachweisen, die an der Reparatur von DNA-Schäden beteiligt sind, während hohe Wassertemperaturen einen signifikanten Verlust nützlicher Mikroalgen zur Folge hatten. Weitaus verblüffender war allerdings ein unter allen Versuchsbedingungen konstantes Ergebnis: Die negativen Umwelteinflüsse bewirkten immer einen Anstieg des Verhältnisses von krank machenden zu gesundheitsfördernden Bakterien. Ganz offensichtlich schien jede Art von Stress die Korallen anfälliger gegenüber schädlichen Eindringlingen zu machen.

Bibliothek der Mikrobiome von Korallen

Es zeichnete sich immer stärker ab, dass eine ausgewogene Zusammensetzung der mikrobiellen Gemeinschaften einen maßgeblichen Einfluss auf das Wohlergehen der Blumentiere hat. Doch noch immer fehlten entscheidende Details hinsichtlich der genauen Art und Weise, in der bestimmte Mikroben den Gesundheitszustand der Korallen beeinflussen. Vega Thurber kam daher zu dem Schluss, dass jemand eine Art Bibliothek der Mikrobiome von Korallen in ihrer natürlichen Umgebung erstellen müsste – eine Aufgabe, die die Wissenschaftlerin nur zu gern selbst übernehmen wollte.

»Tara« | 30 000 Seemeilen über das Meer? Immerhin wurden so viele Proben an Bord der »Tara« genommen. Tatsächlich hat das Schiff in den letzten 13 Jahren für Expeditionen rund 300 000 Kilometer zurückgelegt.

Vega Thurber wusste, dass eine DNA-Sequenzierung der mit den Korallen assoziierten Kleinstlebewesen entscheidende Hinweise bezüglich ihrer Natur und ihrer Wirkung auf das Wohl der Korallen liefern würde. Gleichzeitig war sie sich darüber im Klaren, dass auch die RNA dieser Mikroorganismen genauer analysiert werden musste. Schließlich gibt die RNA-Sequenz Aufschluss darüber, welche Gene in einer Zelle tatsächlich »angeschaltet« sind, also gerade exprimiert werden; etwa solche, die für Proteine des Zellstoffwechsels codieren und beispielsweise die Umwandlung von gasförmigem Stickstoff in eine für symbiontische Algen verwertbare Form bewirken, oder andere, deren Proteinprodukte der Abwehr von Krankheitserregern dienen.

Wenn es Wissenschaftlern gelänge, die DNA und RNA von Mikroorganismen zu sequenzieren, die sich auf einer ausreichend großen Zahl von Riffen unterschiedlichster Gesundheit tummeln, könnte man nach Vega Thurbers Ansicht mit der Zeit wirklich verstehen, wie die mikrobielle Gemeinschaft von Korallen deren Anfälligkeit oder Resistenz gegenüber Stress und Krankheiten beeinflusst. Und ganz nebenbei ließen sich vielleicht auch einige jener spezifischen Mikroben identifizieren, die sich positiv auf die Korallengesundheit auswirken.

Im Jahr 2013 gründeten Rebecca Vega Thurber und Monica Medina das Global Coral Microbiome Project mit dem Ziel, die Mikrobiome so vieler Korallen wie möglich zu sequenzieren. Zum Zweck der Probengewinnung haben die an dem Projekt beteiligten Wissenschaftler inzwischen zahlreiche Reisen unternommen, die sie an so unterschiedliche Orte wie etwa Französisch-Polynesien, Singapur oder das Great Barrier Reef führten. 2015 erhielt Vega Thurber von der Tara Expeditions Foundation, einer französischen Organisation, die die Resilienz von Korallenriffen vor dem Hintergrund der Ozeanerwärmung untersucht, ein Kooperationsangebot. Die Mikrobiologin nahm die Einladung zur Zusammenarbeit an und ist seither als leitende Wissenschaftlerin an Bord des größten Forschungsschiffs der Tara Foundation tätig.

Wie unterscheiden sich die Mikrobiome der Korallen?

Die Partnerschaft mit Tara war für Vega Thurber eine Art natürliche Konsequenz ihrer bisherigen Arbeit. Die Forscherin betrachtete die Expeditionen der Organisation als eine willkommene Erweiterung ihres Global Microbiome Project, mit deren Hilfe sie umfangreiches Probenmaterial für ihre Korallensammlung gewinnen konnte. Darüber hinaus bereicherte Taras Mission ihr Projekt um eine weitere Dimension.

Die Wissenschaftler der Tara Foundation hatten nämlich geplant, auf jeder Station ihrer Forschungsreise neben Meerwasserproben auch einige Exemplare definierter Korallenarten zu entnehmen. Auf diese Weise würden sie genau verfolgen können, wie es den Blumentieren erging und wie sich deren Mikrobiome an den einzelnen Standorten unterschieden.

Gleichzeitig hätte Vega Thurber die Gelegenheit, jenen Faktoren auf den Grund zu gehen, die eine Veränderung der Mikrobiom-Zusammensetzung innerhalb ein und derselben Korallenspezies bewirken. Exemplare eines stark schadstoffbelasteten Meeresgebiets könnten beispielsweise eine ungewöhnlich hohe Zahl von Mikroben beherbergen, die mit einer Korallenkrankheit in Zusammenhang stehen. Oder einer in besonders warmen Gewässern wie etwa dem Karibischen Meer vorkommenden Korallenart könnte eventuell die Alge Symbiodinium fehlen, die mit Hilfe des Sonnenlichts Zucker zur Ernährung ihres Wirtsorganismus herstellt.

»Diese Bakteriengruppen wurden über einen Zeitraum von mehr als 300 Millionen Jahren selektiert«Rebecca Vega Thurber

Eine systematische Untersuchung dieser Unterschiede erlaubt es Vega Thurber, Schlussfolgerungen hinsichtlich jener Fragen zu ziehen, wie sich das mikrobielle Gleichgewicht eines Korallenriffs verschiebt, wenn es verschiedenen Formen von Stress ausgesetzt ist, und welche Mikroben den Korallen Resilienz gegenüber Stressfaktoren wie etwa dem Klimawandel, der Meeresverschmutzung und eindringenden Krankheitserregern verleihen. »Diese Bakteriengruppen wurden über einen Zeitraum von mehr als 300 Millionen Jahren selektiert«, erklärt Vega Thurber. Jetzt gilt es herauszufinden, welche genau definierte Rolle die Mikroorganismen im Ökosystem Korallenriff spielen und ob man einige von ihnen gezielt zur Stärkung der Riffgesundheit einsetzen könnte.

Nur langsam beginnen sich erste Antworten auf diese Fragen abzuzeichnen. Vor Kurzem veröffentlichten Vega Thurber und ihre Kollegen eine Studie, in der sie den Funktionen bestimmter Gruppen von Mikroorganismen im Lebensraum Korallenriff auf den Grund gegangen waren. Die Forscher fanden heraus, dass Bakterien der Gattung Endozoicomonas die Korallen vor dem Ausbleichen schützen, während Vertreter der Vibrionales den Ausbruch einer Korallenerkrankung signalisieren.

Ausgebleichte Korallen im Tuamotu-Archipel | Leider mittlerweile ein gängiger Anblick: Die aufgeheizten Ozeane sorgen dafür, dass die Korallen absterben.

Die Analyse der mehr als 30 000 auf der Pazifikexpedition der »Tara« gewonnenen Proben könnte einige Jahre in Anspruch nehmen. Anhand ihrer bisher untersuchten Korallenexemplare ist Vega Thurber jedoch in der Lage, eine erste Prognose abzugeben: Bei zunehmender Umweltbelastung sind es Korallen mit einem weniger vielfältigen Mikrobiom, die am anfälligsten für Krankheiten sind und schließlich sterben, so die Hypothese der Wissenschaftlerin.

Welche Organismen spielen die Hauptrolle?

Vega Thurbers Entdeckungen bezüglich der mit Korallen assoziierten Mikrobengemeinschaften haben auch das Interesse von Meeresbiologen geweckt, die an der Entwicklung von Plänen zum Wiederaufbau geschädigter Korallenriffe mitwirken. Eine von ihnen ist Erinn Muller, Ökologin und Korallenexpertin am Mote Marine Laboratory in Sarasota. Sie sequenziert die Genome von Korallen vor der Küste Floridas und in der Karibik – in der Hoffnung, herauszufinden, warum die Blumentiere krank werden und wie man ihre Widerstandsfähigkeit stärken könnte. Die Wissenschaftlerin vermutet, dass einige vom Glück begünstigte Korallen bestimmte genetische Merkmale besitzen, die ihnen eine gesteigerte Resistenz gegenüber Krankheiten verleihen. Nach einem gegenseitigen Daten- und Erfahrungsaustausch mit Vega Thurber ist Muller jedoch zu dem Schluss gekommen, dass auch die mikrobiellen Untermieter ganz entscheidend zum Wohlergehen der Korallen beitragen.

»Becky hat den Begriff des Korallenmikrobioms wie keine andere geprägt«, bekräftigt Muller und fügt ergänzend hinzu: Vega Thurbers Forschung habe ihr auf bemerkenswerte Weise deutlich gemacht, welche Mikroorganismen die eigentliche Hauptrolle innerhalb der Korallengemeinschaften spielen.

Vor einigen Jahren hatte Muller Untersuchungen an Korallenkolonien vor den Florida Keys durchgeführt. Sie kratzte erkranktes Oberflächengewebe von den Korallenstöcken ab und fand durch eine DNA-Sequenzanalyse heraus, dass Bakterien der Gattung Rickettsia etwa 50-mal häufiger in diesen Proben vertreten waren als im Gewebe gesunder Korallen. Als Muller Vega Thurber von ihren Ergebnissen berichtete, lieferte diese ihr gleich eine plausible Erklärung. Laut Vega Thurbers eigenen Daten neigt jene Bakteriengattung nämlich dazu, bei erhöhten Nährstoffkonzentrationen sehr gut zu gedeihen.

Nach Ansicht der Mikrobiologin war das von Muller nachgewiesene verstärkte Auftreten von Rickettsia höchstwahrscheinlich das Resultat eines erhöhten Nährstoffeintrags vom Land in die umgebenden Gewässer, der auch die Korallen in Mitleidenschaft gezogen hatte. In Zukunft, davon ist Vega Thurber überzeugt, könnte eine Behandlung von Korallenkolonien wie dieser mit gesundheitsfördernden Mikroorganismen, so genannten »Korallen-Probiotika«, oder eine gezielte Ansiedlung von Korallen, die derartige Mikroben enthalten, dazu führen, dass Korallen ausgewogenere Mikrobiome entwickeln, die ihnen selbst bei länger anhaltenden ungünstigen Nährstoffverhältnissen bessere Überlebenschancen verschaffen.

Laborkorallen sollen sich im Meer verbreiten

Und schließlich könnten sich Vega Thurbers Erkenntnisse als ein zentrales Element von Maßnahmen zur Wiederherstellung von Korallenriffen auf der ganzen Welt erweisen und vielleicht auch bei einem der ehrgeizigsten Vorhaben des Mote Marine Laboratory zur Anwendung kommen. Jenes Projekt sieht vor, innerhalb der nächsten 15 Jahre mehr als eine Million im Labor gezüchtete Korallenfragmente ins offene Meer zu »verpflanzen«, und zählt somit zu den umfangreichsten Renaturierungsversuchen, die das Mote Laboratory oder irgendeine andere Institution je unternommen hat. Seit 2014 sind von diversen Organisationen auf der ganzen Welt insgesamt nur etwa 100 000 Korallen im offenen Meer wiederangesiedelt worden; Wissenschaftler des Mote Marine Laboratory haben die gefährdeten Riffe im Bereich der Florida Keys bisher mit mehr als 20 000 neuen Korallenfragmenten bestückt.

Forscherinnen entnehmen Proben | Die beiden Biologinnen Rebecca Vega Thurber und Grace Klinges sammeln Korallen, um sie später an Bord genauer zu untersuchen.

Vor einigen Jahren etablierte der am Mote Marine Laboratory tätige Meeresbiologe David Vaughan die Technik der so genannten Mikrofragmentierung – ein Verfahren, bei dem kleine Korallenstücke mit Hilfe einer Bandsäge von einem größeren Korallenstock abgetrennt werden. In meeresbiologischen Forscherkreisen gilt das Mote-Institut seitdem als eine Art Pionier der Wiederherstellung von Korallenriffen. Beim ersten Ausprobieren seiner Methode stellte Vaughan mit Verblüffung fest, dass die Korallenfragmente etwa 25-mal schneller wuchsen als normale Korallen. Inzwischen stellt sein Schnellverfahren zur Anzucht von Korallentransplantaten das Herzstück der Bemühungen zur Renaturierung von Korallenriffen am Mote Marine Laboratory dar.

»Man will doch nicht für viele hunderttausend Dollar Korallen im offenen Meer ausbringen, die schon in fünf Jahren wieder verschwunden sind«Erinn Muller

Für einen erfolgreichen Wiederaufbau von Riffen in großem Maßstab müssen allerdings die neu angesiedelten Korallen robust genug sein, um längere Zeiträume an ihrem neuen Standort zu überdauern, und genau deshalb sei das sich ständig erweiternde Wissen Vega Thurbers hinsichtlich der Korallen-Mikrobiome so unglaublich wichtig, betont Muller. »Man will doch nicht für viele hunderttausend Dollar Korallen im offenen Meer ausbringen, die schon in fünf Jahren wieder verschwunden sind.«

Wenn die »Tara« sanft im Wellengang schaukelt oder in der Nacht vor Anker liegt, ist das Leben an Bord von einer unbestimmten Zeitlosigkeit geprägt. Vega Thurber verbringt diese unverplanten Stunden, indem sie auf ihrer Ukulele spielt, ihrem Ehemann und dem vierjährigen Sohn E-Mails schreibt oder mit neugierigen Bewohnern der Salomonen Freundschaft schließt, die in ihren Einbäumen herangepaddelt kommen. Doch sobald das Schiff eine Probennahmestation erreicht, macht sich an Bord ein neuer, hektischer Rhythmus breit.

Nach jedem Tauchgang breiten Vega Thurber, ihre Doktorandin Grace Klinges und ihre französische Kollegin Emilie Boissin ihre aus tropfenden Plastikbeuteln bestehende Jagdbeute auf einem großen Holztisch auf dem Hauptdeck der »Tara« aus. »Hey, das sind wirklich schöne Stücke«, meint Vega Thurber anerkennend, während sie mit dem zufriedenen Grinsen eines Goldsuchers den Fang des Tages mustert. Noch bevor sie ihre Tauchanzüge ablegen oder eine Dusche nehmen, schnappen sich die Forscherinnen bereits einige Korallenexemplare und beginnen, sie mit Hilfe von Knochenschneidezangen in kleine Stücke zu zerteilen.

Erste Verarbeitung direkt an Bord

Einige Proben werden durch kurzes Eintauchen in einen großen Behälter mit flüssigem Stickstoff tiefgefroren, so dass Wissenschaftler zu einem späteren Zeitpunkt die genaue Stellung dieser Exemplare im Stammbaum der Korallen ermitteln können. Andere bearbeiten die Forscher mit Hammer und Meißel, um sie in handlichere Stücke zu zerlegen. Nach getaner Zerkleinerungsarbeit fischen Klinges und Vega Thurber mit orangefarbenen Pinzetten die allerkleinsten Korallenfragmente, die nicht viel größer als Kekskrümel sind, heraus und überführen sie in fingerdicke Röhrchen. Diese Proben sind zum Versand an das französische Centre National de Séquençage, auch Genoscope genannt, bestimmt. Dort werden Mitarbeiter die mikrobielle DNA sequenzieren, um den genetischen Code der mit den Korallen assoziierten Mikroorganismen zu entschlüsseln; eine RNA-Sequenzierung soll zudem Aufschluss über die spezifischen Funktionen der einzelnen Mikrobenarten geben.

Seefächer | Ein Seefächer aus der Ordnung der Weichkorallen.

Vega Thurber möchte im Rahmen ihrer Forschungsarbeiten den Einfluss der verschiedenen Kleinstlebewesen auf das Wohlergehen von Korallenkolonien näher ergründen. Einige Bakterien sind beispielsweise in der Lage, gasförmigen Stickstoff in eine für fotosynthetisch aktive Algen leichter verwertbare Form zu verwandeln, die die pflanzlichen Einzeller ihrerseits nutzen, um ihre Wirtskorallen zu ernähren. Andere Bakterien wiederum synthetisieren Moleküle, mit deren Hilfe sie ihre Artgenossen leichter aufspüren können, um daraufhin in gemeinschaftlicher Arbeit schützende Schleimschichten herzustellen, die die Korallen vor Krankheiten bewahren. Und bestimmte Formen der nützlichen einzelligen Alge Symbiodinium werden von den Korallen nicht sofort ausgestoßen, wenn die Temperaturen des umgebenden Meerwassers steigen.

Eine detaillierte Analyse der inneren Prozesse jener Mikroorganismen, eine DNA- und RNA-Sequenzierung der individuellen Mikrobenmischungen bestimmter Korallen sowie eine Kartierung der Korallenmikrobiome unter verschiedenen ozeanischen Umgebungsbedingungen könnten eines Tages dazu beitragen, die ums Überleben kämpfenden Riffe in Nährböden für »Superkorallen« zu verwandeln, sinniert Vega Thurber optimistisch.

Meerwasser wird saurer

Im weiteren Verlauf der Forschungsreise, wenn die »Tara« die Salomonen verlässt und das nahe gelegene Papua-Neuguinea ansteuert, wird Klinges untersuchen, wie sich Korallenmikrobiome entlang eines natürlichen pH-Gradienten verändern. Innerhalb dieser Meeresgebiete verringert sich nämlich der pH-Wert des Wassers von 8,1 (basischer) auf 7,9 (weniger basisch), was zufälligerweise in etwa derselben pH-Wert-Änderung entspricht, die in den Weltmeeren im Lauf der nächsten 100 Jahre als Folge der weltweiten Kohlendioxidemissionen zu erwarten ist. Eine Beurteilung des Zustands der in und auf den Korallen lebenden Mikroorganismen in Gewässern mit höherem Säuregrad könnte Naturschützern also eine Vorschau auf künftige Veränderungen in der Mikrobenzusammensetzung von Korallenriffen geben und es ihnen ermöglichen, bereits vorab entsprechende Maßnahmen zu treffen.

Beim Aufbereiten der Korallenproben vertreiben sich die Wissenschaftler plaudernd die Zeit, oder Vega Thurber singt. An einem glühend heißen Tag nimmt die Meeresbiologin einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche und beginnt, ein Lied aus dem Musical »Les Miserables« zu schmettern. Ein wenig verwirrt stimmen ihre Forscherkollegen ein, während sie die Korallen in fingerknöchelgroße Stücke schneiden und in die wiederverschließbaren Plastikbeutel füllen.

»In einem Jahr kommt man zurück, und es ist nichts mehr übrig«Rebecca Vega Thurber

Doch während sich Vega Thurber weiter durch das Libretto singt, in dem eine Figur nach der anderen umkommt, macht sich ganz allmählich eine bedrückte Stimmung unter den Anwesenden breit. »Alle sterben«, fasst Klinges lakonisch die Handlung des Musicals zusammen. Der Wissenschaftlerin und vielleicht jedem, der die im Niedergang begriffenen Riffe gesehen hat, wird die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem Schicksal der Korallen und der dem Untergang geweihten französischen Revolutionäre deutlich. »In einem Jahr kommt man zurück, und es ist nichts mehr übrig«, ergänzt Vega Thurber.

Blumenkohlkoralle | Eine Blumenkohlkoralle (Pocillopora meandrina) wird von Fischen umschwärmt.

Die düstere Aussicht einer drohenden Zerstörung hat Vega Thurber dazu veranlasst, sich mit Forschern zusammenzuschließen, die wie Muller vom Mote Marine Laboratory daran arbeiten, den Gesundheitszustand natürlicher Korallenriffe zu verbessern. Eine ihrer jüngst hinzugewonnenen Mitstreiterinnen ist die brasilianische Mikrobiologin Raquel Peixoto, deren Forschungsarbeiten gerade erste Hinweise darauf liefern, dass sich die Stärkung gefährdeter Korallen mit den geeigneten Mikroben als eine durchaus praktikable Naturschutz- und Erhaltungsstrategie erweisen könnte.

Vor Kurzem hat Peixoto, die zurzeit als Gastprofessorin an der University of California in Davis tätig ist, sieben Bakterienarten identifiziert, die für Korallen in irgendeiner Weise von Vorteil sind. Die Wissenschaftlerin beimpfte einige Exemplare der Korallengattung Pocillopora mit diesen »guten« Bakterien; andere Pocillopora-Exemplare blieben unbehandelt und dienten als Kontrollgruppe. Nachfolgend setzte Peixoto alle Korallen in einem Experiment verschiedenen Stressbedingungen aus: In einem Versuch erhöhte sie etwa die Wassertemperatur auf 30 Grad Celsius, in einem anderen brachte sie einen bereits bekannten Krankheitserreger ins Spiel.

»Wenn man nur zu den Riffen hinausfahren und den Korallen Probiotika verabreichen müsste und die Tiere dadurch der Korallenbleiche widerstehen könnten, wäre das einfach großartig«Raquel Peixoto

Nach 26 Tagen erfreuten sich die mit den nützlichen Bakterien vorbehandelten Korallen noch immer bester Gesundheit, während die Kontrollexemplare deutliche Anzeichen des Ausbleichens aufwiesen. »Wir waren ziemlich euphorisch angesichts dieses Ergebnisses, denn schließlich war es unser erster Versuch«, berichtet Peixoto. Die brasilianische Forscherin hofft, dass ihre Methode sowohl natürlich gewachsenen als auch neu angesiedelten Korallen helfen wird, mit widrigen Umweltbedingungen zurechtzukommen. »Wenn man nur zu den Riffen hinausfahren und den Korallen Probiotika verabreichen müsste und die Tiere dadurch der Korallenbleiche widerstehen könnten, wäre das einfach großartig.«

Natürlich gilt es bis dahin noch einige größere Herausforderungen zu meistern. Zunächst wird Peixoto ihr Experiment in freier Wildbahn wiederholen müssen, um dann irgendwann ein Verfahren zur großflächigen Ausbringung der Korallen-Probiotika zu entwickeln. Die Kenntnis der Eigenschaften und Funktionen eines breiten Spektrums von mit Korallen assoziierten Mikroben wird in diesem Zusammenhang von entscheidender Bedeutung sein, und Peixoto betrachtet das Global Coral Microbiome Project auch als eine unerlässliche Voraussetzung für den weiteren Erfolg ihres Forschungsprojekts.

Natürlich ist sich die Wissenschaftlerin darüber im Klaren, dass Mikroorganismen, die etwa den Pocillopora-Korallen vor der Küste Südamerikas nützen, nicht zwangsläufig auch anderen Blumentieren in denselben Gewässern oder anderswo zugutekommen. Stattdessen beherbergt wahrscheinlich jede Korallenart ihre ganz eigene individuelle Mischung an vorteilhaften Mikroben. Und genau diese Kleinstleben sind es, die Vega Thurber identifiziert, während sie die Weltmeere besegelt und Proben nimmt. »Indem wir die Korallen stärken, können wir wieder Hoffnung schöpfen«, erklärt Peixoto.

Bringen die Labor-Korallen Gefahren mit sich?

Auch Stephanie Wear, die als leitende Wissenschaftlerin bei der US-amerikanischen Naturschutzorganisation The Nature Conservancy beschäftigt ist, betrachtet den auf die Mikroorganismen fokussierten Ansatz von Vega Thurber als Teil einer breit angelegten weltweiten Strategie, um die Korallenriffe vor dem drohenden Untergang zu bewahren. »Je mehr wir über die Riffe wissen, desto stärker können wir zu ihren Gunsten eingreifen.«

Gesundes Korallenriff | Neben ausgebleichten Riffen fanden die Wissenschaftler zum Glück auch noch viele Bestände, die einigermaßen gesund waren.

Einige Kritiker geben jedoch zu bedenken, dass das Ausbringen und Ansiedeln von im Labor gezüchteten Korallen oder fremden Mikroorganismen in natürlichen Korallenriffen gewisse Risiken birgt, und vertreten daher die Ansicht, dass man diese Ökosysteme lieber sich selbst überlassen sollte. Bei unsachgemäßer Planung könnten sich die künstlichen Riffstrukturen als eine Gefahr für natürlich gewachsene Riffe erweisen und möglicherweise sogar invasiven Arten Schutz bieten, warnen Wissenschaftler des Florida Keys National Marine Sanctuary.

Vega Thurber ist sich dieser Gefahren durchaus bewusst. Angesichts der Vielzahl an Herausforderungen, denen Riffe zurzeit gegenüberstehen, sei es jedoch geboten, gewisse Risiken einzugehen, um Korallenriffe in besonders stark betroffenen Regionen wiederherzustellen, argumentiert die Wissenschaftlerin. »Bevor man gar nichts unternimmt, sollte man auf jeden Fall einen Versuch wagen.«

In diesem Meeresgebiet rund um die Salomonen besteht dagegen kein Bedarf für Maßnahmen wie etwa den Einsatz von Korallen-Probiotika oder den Wiederaufbau von Riffen – jedenfalls im Moment noch nicht. Viele der Inseln sind von Mangrovengürteln umgeben, die zum Schutz der Riffe beitragen, indem sie Verunreinigungen aus dem Wasser filtern und mit ihren Wurzeln Sedimente binden, die sonst in den offenen Ozean abfließen würden. Vega Thurber erklärt, die Riffe der Salomonen gehörten zu den gesündesten, die sie je gesehen habe. »Ich habe keinerlei Krankheiten, keine Anzeichen einer Korallenbleiche und auch keine beschädigten oder vollkommen zerstörten Korallen entdeckt.«

Auf der Reise wird deutlich, was auf dem Spiel steht

Im Verlauf unserer Forschungsexpedition springen Vega Thurber, Klinges, Boissin und ich eines Tages mit Taucherbrille und Schnorchel von der »Tara« ins Wasser und schwimmen zu einer etwa 200 Meter von unserem Ankerplatz entfernt gelegenen Insel. Sogar an dieser mehr oder weniger zufällig ausgewählten Stelle staune ich über die Vielfalt und Fülle der hier lebenden Rifforganismen. Flinke Falterfische huschen an Gruppen orange leuchtender Feuerkorallen vorbei, die einen starken Kontrast zu den anämisch aussehenden Korallen anderer Meeresgebiete bilden. Viele gefährdete Riffe sind kaum mehr im Stande, ihre reiche Tierwelt am Leben zu erhalten. Hier jedoch lauern an seichten Stellen Kegelschnecken, und Clownfische tummeln sich neben mit grünen Tentakeln bewehrten Seeanemonen. Dieses Riff erinnert uns daran, was trotz weltweit steigender Meerestemperaturen und zunehmender Verschmutzung der Ozeane noch möglich ist – und zugleich auch daran, was auf dem Spiel steht.

Nur wenige der von Vega Thurber besuchten Riffe erreichen diesen Standard. Noch immer verfolgen die Wissenschaftlerin Erinnerungen an einen Tauchgang im Jahr 2016 vor der südpazifischen Insel Ducie, auf dem sie feststellen musste, dass die meisten der dort vorkommenden Pocillopora-Exemplare von der Korallenbleiche betroffen waren. Und sogar hier, im Paradies der Salomonen, gibt es bereits erste bedrohliche Anzeichen: Während eines Tauchgangs hat das Team mehr als ein Dutzend Exemplare des Dornenkronen-Seesterns (Acanthaster planci) entdeckt – eine Art, die für ihre Eigenschaft berüchtigt ist, Korallenriffe innerhalb weniger Monate großflächig zu zerstören.

Bislang wagte ich es nicht; nun, an meinem letzten Tag an Bord der »Tara«, stelle ich Rebecca Vega Thurber die schmerzhafte Frage: ob sie sich eigentlich – mit Blick auf all die Veränderungen, die gerade innerhalb kürzester Zeit und mit aller Macht auf die Riffe unserer Erde einwirken – je Sorgen darüber mache, dass der Wissenschaft vielleicht nicht genügend Zeit für die Rettung dieser Lebensräume bleibt?

Bleibt der Wissenschaft genug Zeit?

Ich merke sofort, dass ich einen wunden Punkt getroffen habe. Vega Thurber räumt ein, dass sie tatsächlich von düsteren Gedenken heimgesucht worden sei, als 2016 die Nachricht von der verheerenden Korallenbleiche am Great Barrier Reef bekannt wurde – insbesondere, da so viele andere Riffe auf der ganzen Welt ebenfalls unter Stress standen und starben. »Ich war ziemlich deprimiert«, gesteht die Wissenschaftlerin und beschreibt ihre damalige Angst, dass auch jene Riffe, die sie gerade erforschte, hätten zerstört werden könnten. Sie blinzelt schneller, und ihre Augenwinkel röten sich. Es ist die Resignation einer Feuerwehrfrau, die gerade einen Brand löscht und zusehen muss, wie in seinem Gefolge weitere aufflammen.

Dennoch deutet alles an Vega Thurbers Arbeitsweise auf die tief in ihrem Inneren verankerte Überzeugung hin, dass die Lage nicht vollkommen hoffnungslos ist. Wenn sie sich schon mehrere Wochen lang unter Deck eines Segelschiffs einquartiert und während dieser Zeit ihre Familie vermisst, Anfälle von Seekrankheit erträgt und gegen die von den Anti-Malaria-Medikamenten verursachte Schlaflosigkeit kämpft, dann wird das doch verflixt nochmal nicht völlig umsonst sein.

»Diese Beispiele dafür, wie sich Riffe erfolgreich erholen, geben mir unheimlich viel Hoffnung«Rebecca Vega Thurber

Wenige Augenblicke später gewinnt denn auch ihr Optimismus wieder die Oberhand, und sie berichtet von den Lichtblicken in ihrem meeresbiologischen Forscheralltag. In den späten 1990er Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausends waren zahlreiche Riffe an den Seychellen vor der Ostküste Afrikas von einer schweren Korallenbleiche betroffen, an der bis zu 90 Prozent der Korallen starben. »Jetzt ist es dort wieder wunderschön«, schwärmt Vega Thurber. »Diese Beispiele dafür, wie sich Riffe erfolgreich erholen, geben mir unheimlich viel Hoffnung.«

Noch immer ist die Wissenschaftlerin der festen Überzeugung, dass durch ein ausreichendes Maß an gezieltem Eingreifen manchmal selbst katastrophale Rückschläge, die die Korallenriffe betreffen, überwunden werden können – vielleicht mit Hilfe der Wiederansiedlung robuster Korallen oder der Verabreichung sorgfältig abgestimmter Mikrobenmischungen. »Wir möchten die zähesten Vertreter der Korallengemeinschaften selektieren«, betont Vega Thurber. Angesichts unseres kollektiven Versagens beim Eindämmen der Kohlendioxidemissionen scheint eine Stärkung der Korallen gegenüber den andauernden Umweltbelastungen tatsächlich der beste Weg zu sein, um die Riffe der Weltmeere zu retten.

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