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Medizin: Suche nach neuen Wirkstoffen im Chemie-Universum

Maschinelles Lernen und Big Data helfen Forschern, aus der überwältigenden Fülle chemischer Verbindungen bessere Medikamente zu entwickeln.
Moleküle in digitaler Ansicht

2016 veranstaltete das Pharmaunternehmen Sunovion aus Marlborough in Massachusetts (USA) einen ungewöhnlichen Wettbewerb. Auf ihrem Labortisch fanden die zehn erfahrensten Chemiker der Forschungsabteilung Hunderte von Reagenzgläsern vor. Jedes davon enthielt eine Substanz, deren Molekülstruktur bekannt war. Doch nur zehn der Röhrchen waren mit Angaben über die biologische Wirkung versehen. Die Chemiker sollten jene Verbindungen identifizieren, die das Potenzial zu einem neuen Wirkstoff hatten. Dabei durften sie lediglich auf das Wissen zurückgreifen, das sie sich über Jahre mühsam angeeignet hatten.

Erst nach Stunden stand der Sieger fest. Für Aufsehen sorgte allerdings der Zweitplatzierte: Bereits nach wenigen Millisekunden hatte der Teilnehmer die Aufgabe gelöst. Er trug weder Laborkittel noch eine Schutzbrille oder Handschuhe; die brauchte er auch nicht. Schließlich steckte der Molekül-Algorithmus in einem Computer.

Entwickelt hat die Software Willem van Hoorn, Leiter der Abteilung Chemoinformatik beim schottischen Start-up Exscientia. Für die Suche nach neuen Medikamenten beschäftigt das Unternehmen keine Kittelträger, sondern setzt auf lernfähige Computerprogramme. Van Hoorn hatte seine KI für den Wettbewerb bei Sunovion ins Rennen geschickt, um eine mögliche Zusammenarbeit mit dem Pharmariesen auszuloten. "Meine ganze Reputation stand auf dem Spiel", erinnert er sich. Der Platz auf dem Treppchen sicherte Exscientia einen lukrativen Vertrag mit Sunovion.

Mehr biologisch wirksame Moleküle auf der Erde als Atome im Sonnensystem

Immer mehr industrielle und akademische Forschergruppen nutzen die Werkzeuge der Informatik, um das Universum chemischer Verbindungen zu erkunden. Man vermutet dort bis zu 1060 Moleküle mit biologischer Wirkung. Das wären weit mehr, als es Atome in unserem Sonnensystem gibt. Algorithmen, so die Hoffnung, könnten viele Millionen dieser Moleküle charakterisieren, vergleichen und katalogisieren und es Forschern so ermöglichen, viel versprechende Wirkstoffkandidaten schnell und mit geringem finanziellem Aufwand zu finden. Befürworter dieses Ansatzes glauben zudem, dass dadurch weniger klinische Studien notwendig wären. Manche hingegen sind skeptisch, ob man die kaum fassbare Komplexität der Chemie in ein paar Zeilen Computerkode zwängen kann.

Tatsächlich sind die durch KI designten Moleküle bisweilen kaum zu synthetisieren oder enthalten gefährliche funktionelle Gruppen. Van Hoorn ist jedoch optimistisch, dass sich solche Probleme durch eine bessere Zusammenarbeit von Informatikern und Chemikern lösen lassen. Ganz neu ist die Idee computergenerierter Wirkstoffe nicht. Bereits 2001 begann der Chemiker Jean-Louis Reymond an der Universität Bern damit, die Welt der Moleküle mittels Rechenpower zu kartieren. Heute enthält seine Chemical Universe Database GDB-17 sämtliche Verbindungen mit bis zu 17 Atomen, die prinzipiell denkbar sind: mehr als 166 Milliarden.

"Mit Bleistift und Papier kämen Chemiker niemals auf all diese Varianten"Jean-Louis Reymond

Reymonds Universum beschreibt einen mehrdimensionalen Raum. Dieser ist nach 42 Merkmalen, beispielsweise der Anzahl an Kohlenstoffatomen, organisiert. Je ähnlicher sich zwei Moleküle sind, desto näher sind sie benachbart. Für jeden Wirkstoff, der es bereits auf den Markt geschafft hat, gibt es Millionen chemisch nahezu identischer Verbindungen, die sich etwa nur durch ein Wasserstoffatom oder eine Doppelbindung unterscheiden. Und einige davon dürften besser wirken als der zugelassene Arzneistoff. "Mit Bleistift und Papier kämen Chemiker niemals auf all diese Varianten", so Reymond.

Er und sein Team können potenziell wirksame Nachbarn erprobter Verbindungen identifizieren, indem sie nach Ähnlichkeiten zwischen diesen suchen. Ausgehend von einem bestimmten Wirkstoff findet ein Algorithmus unter allen 166 Milliarden Molekülen innerhalb von nur drei Minuten die besten Kandidaten. Reymond vergleicht es mit der Suche nach Gold, bei der eine geologische Karte die besten Grabungsorte verrät. Für eine Machbarkeitsstudie wählte der Chemiker als Startpunkt ein Molekül, das an einen Nikotinrezeptor bindet. Dieser spielt bei Nerven- und Muskelerkrankungen eine Rolle. Schnell waren 344 Moleküle mit einer ähnlichen Struktur identifiziert, von denen seine Mitarbeiter im Labor drei synthetisierten. Und tatsächlich aktivierten zwei der Verbindungen den Rezeptor so stark, dass sie irgendwann gegen Muskelschwund im Alter eingesetzt werden könnten.

Algorithmus sucht nach Kontaktstellen für Proteine

Ein alternativer Ansatz setzt auf Computer, um nach Gold zu suchen, ohne sich dabei allzu sehr um den Ausgangspunkt der Suche zu kümmern. In diesem Fall durchkämmt ein Algorithmus riesige chemische Datenbanken nach Molekülen, die an ausgewählte Proteine binden. Die Algorithmen sind auf molekulare Andockmanöver spezialisiert und spielen alle möglichen Orientierungen durch, in denen die Verbindungen an die Kontaktstellen der Proteine passen könnten.

Mit stetig zunehmender Rechenpower wächst auch das Potenzial solcher Algorithmen. Das demonstrierte kürzlich eine Forschergruppe um Brian Shoichet von der University of California in San Francisco bei der Fahndung nach einem neuen Schmerzmittel. Die Chemiker suchten in einer Datenbank mit mehr als drei Millionen kommerziell erhältlichen Verbindungen nach jenen, die so genannte μ-Opioid-Rezeptoren aktivieren und dadurch Schmerzen lindern. Gleichzeitig sollte der Wirkstoff nicht in den β-Arrestin-Signalweg eingreifen – Opioide stehen im Verdacht, auf diese Weise Nebenwirkungen wie Atemprobleme und Verstopfung auszulösen.

In kürzester Zeit lieferte der Algorithmus den Forschern eine Liste mit 23 aussichtsreichen Kandidaten. Sieben davon zeigten im Labor die gewünschte Aktivität. Einer der Wirkstoffe wurde anschließend so modifiziert, dass er nicht mehr an das β-Arrestin andocken konnte. Basierend auf diesen Erkenntnissen entwickelt die von Shoichet mitbegründete Biotechnologiefirma Epidyne derzeit ein neues Schmerzmittel und andere Pharmazeutika.

Virtuelle Moleküle statt aufwändiger Wirkstoff-Isolierung

Das Team um Shoichet durchkämmt in ähnlichen Suchaktionen ein digitales Dickicht bestehend aus 100 Millionen nie zuvor synthetisierter Verbindungen, die vermutlich leicht herzustellen wären. Diesen Ansatz verfolgen auch Pharmaunternehmen wie Nimbus Therapeutics aus Cambridge, Massachusetts. Das Unternehmen experimentiert mit virtuellen Molekülen, anstatt aufwändig Wirkstoffe aus der Natur zu isolieren. Und bei wenigstens einem Medikamentenprogramm verdanke man alle bisherigen Treffer den Algorithmen, berichtet CEO Don Nicholson.

Schach | 1997 schlug IBMs Deep Blue den Schachweltmeister Garri Kasparow, 2017 Deep Mind den weltbesten Alpha-Go-Spieler. Auf eine ähnliche Mischung aus Rechenpower, Kreativität und gesundem Menschenverstand hoffen Forscher bei der Suche nach neuen Medikamenten.

Die Erfolge dieser virtuellen Experimente erschüttern die einstige Überzeugung vieler Pharmakologen: dass der beste Ort, um nach neuen Wirkstoffen zu suchen, stets die Nachbarschaft bereits bekannter sei. "Bis vor Kurzem war ich selbst noch dieser Ansicht", gesteht Shoichet. Es habe einfach Sinn ergeben – auch wenn es dafür keine Beweise gab. Doch bislang unveröffentlichte Ergebnisse haben sein Interesse an entlegenen Regionen im molekularen Kosmos geweckt: "Inzwischen glaube ich, dass die ferneren Galaxien wahre Goldgruben sind."

Wenn Algorithmen Datenbanken nach potenziellen Arzneistoffen filtern, können sie dabei nur den vorgegebenen Kodezeilen folgen. Daher entwickeln Firmen zunehmend lernfähige Programme: Maschinelles Lernen soll die computergestützte Molekülsuche beschleunigen, indem Algorithmen Daten und Erfahrungswerte verknüpfen und so Muster in der Wirkstoff-Rezeptor-Interaktion erkennen, die selbst dem erfahrensten Chemiker verborgen bleiben. Etwa ein Dutzend Unternehmen investieren derzeit in solche intelligenten Wirkstoff-Algorithmen.

"Inzwischen glaube ich, dass nicht ähnliche Verbindungen, sondern eher die ferneren Galaxien wahre Goldgruben sind"Brian Shoichet

Andrew Hopkins, CEO von Exscientia, erklärt, dass bisher allein die Suche nach Wirkstoffkandidaten sowie deren Optimierung durchschnittlich 4,5 Jahre dauert. Das liegt vor allem daran, dass Pharmaunternehmen erst Tausende von Verbindungen synthetisieren müssen, bevor sie überhaupt eine viel versprechende Spur haben. Und selbst diese führt nur in den seltensten Fällen zu einem neuen Medikament. Lernfähige Algorithmen hingegen könnten die Zahl unwirksamer Kandidaten verringern und die Entwicklungsphase auf ein Jahr verkürzen.

Unter Beweis stellen konnte Exscientia dies 2015 bei einer zwölfmonatigen Kampagne für das japanische Unternehmen Sumitomo Dainippon Pharma, welches auch Inhaber der Firma Sunovion ist. Die Chemie-Informatiker von Exscientia trainierten ihre KI-Werkzeuge darauf, Moleküle zu erkennen, die zwei Rezeptoren der Zellmembran gleichzeitig regulieren können. Nach nur einem Jahr und weniger als 400 zu synthetisierenden Verbindungen war ein Kandidat gefunden. Nur zwei Jahre später steht der Wirkstoff bereits kurz vor den ersten klinischen Tests für psychische Erkrankungen, so Hopkins. Seit Mai 2017 hat Sumitomo hunderte Millionen Dollar schwere Verträge mit den Pharmariesen Sanofi und GlaxoSmithKline aus Brentford unterschrieben.

Giftige Moleküle werden frühzeitig erkannt

Neben dem Aufspüren potenzieller Arzneistoffe würde KI Forschern auch helfen, jene Moleküle frühzeitig zu erkennen, die nicht in Frage kommen, erläutert Brandon Allgood, Technischer Direktor der Firma Numerate, die in Kalifornien Wirkstoffe mittels KI designt. Moleküle, die giftig sind oder vom Körper schlecht absorbiert werden, würde man dann gar nicht erst herstellen. Allgoods Arbeitgeber schloss 2017 zwei Verträge, unter anderem mit dem französischen Pharmaunternehmen Servier, um Wirkstoffe aus dem virtuellen Chemielabor gegen Herzrhythmusstörungen und Herzversagen zu testen.

Die Pharmaindustrie investiert massiv in die virtuelle Wirkstoffforschung, auch wenn die noch in den Kinderschuhen steckt. So ist Reymonds Datenbank mit 166 Milliarden Molekülstrukturen zwar riesig, zeigt aber nur einen winzigen Ausschnitt des chemischen Universums. Darüber hinaus funktioniert das digitale Wirkstoff-Screening lediglich mit detaillierten Kristallstrukturen der Zielproteine, und die erfordern viel Zeit, Geld und Expertise. Zudem bereiten bewegliche Proteine besonders große Probleme. Lernfähige Algorithmen ihrerseits sind nur so gut wie die Datensätze, mit denen sie trainiert werden. Begegnen sie ihnen unbekannten Verbindungen, unterlaufen ihnen schnell Fehler. Zudem sind Computerprogramme dieser Art eine Black Box und geben keine Auskunft darüber, warum gerade dieses oder jenes Molekül ein geeigneter Kandidat für einen neuen Arzneistoff ist.

"Die Wirkstoffforschung erlebt gerade ihren Kasparow-Deep-Blue-Moment"Andrew Hopkins

Ein weiteres Hindernis: Viele Verbindungen, die Algorithmen ausspucken, sind zwar theoretisch möglich, in der Praxis aber extrem schwer herzustellen. Nicht selten dauert es Monate, bis Chemiker im Labor ein geeignetes Rezept identifiziert haben. Und selbst dann gibt es keine Garantie, dass der Stoff wie vorhergesagt wirkt. Die Erfolgsquote von Reymond liegt bei etwa 5 bis 10 Prozent, sprich, lediglich eines von 10 bis 20 synthetisierten Molekülen zeigt tatsächlich die zuvor errechnete Aktivität. "Die Schwachstelle bei unserer Erkundung des chemischen Kosmos ist, dass wir uns an viele denkbare Verbindungen nicht heranwagen", ergänzt Reymond. Deshalb hat er sein Universum zuletzt auf 10 Millionen Moleküle verkleinert, die einfach herzustellen sind und trotzdem ein breites Wirkstoffspektrum abdecken.

Mark Murcko, wissenschaftlicher Leiter bei Relay Therapeutics im US-amerikanischen Cambridge, rät, weniger an neuen Algorithmen zu arbeiten, sondern vor allem die Datenbasis, die als Lehrmaterial dient, zu erweitern. "Am besten optimiert man ein Modell, indem man es mit mehr und qualitativ hochwertigen Daten füttert", führt Murcko aus. Bei Relay Therapeutics arbeiten Chemiker daher eng mit Informatikern zusammen und synthetisieren Verbindungen, die Mensch und Maschine erdacht haben. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse wiederum verbessern die Grundlage zukünftiger Entscheidungen.

Für Andrew Hopkins, den CEO von Exscientia, sind solche Kooperationen Schlüsselelemente. Informatiker hätten Jahrzehnte gebraucht, um Programme zu entwickeln, die es mit Schachgroßmeistern aufnehmen konnten. Als schließlich IBMs Deep Blue im Jahr 1997 Garri Kasparow besiegte, war das jedoch nicht das Ende des Schachsports. Stattdessen dachte sich Kasparow ein Doppel mit einer KI und einem menschlichen Spieler pro Team aus. "Gemeinsam können Mensch und Maschine jeden Menschen schlagen – aber auch jede Maschine", davon ist Hopkins überzeugt. Seine Vision ist die gleiche Mischung aus Rechenpower, Kreativität und gesundem Menschenverstand bei der Suche nach neuen Medikamenten: "Ich glaube, die Wirkstoffforschung erlebt gerade ihren Kasparow-Deep-Blue-Moment."

Der Text ist am 26. September 2017 unter dem Titel "The Drug-Maker's Guide to the Galaxy" in "Nature" erschienen (Nature 549, S. 445–444; doi:10.1038/549445a).

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