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Maschinelles Lernen: KI entschlüsselt Hochtemperatur-Supraleiter

Die so genannte Pseudobandlücke in Hochtemperatur-Supraleitern gibt Physikern seit Langem Rätsel auf. Nun kommen sie dem Verständnis näher, dank neuronaler Netze.
Quantenwelt

Physiker grübeln seit Jahrzehnten über das Verhalten von Quanten in einer besonderen Form von Supraleiter – doch nun kommen ihnen dabei Algorithmen des maschinellen Lernens zu Hilfe. Die Forscher nutzten künstliche Intelligenz, um die versteckte Ordnung in Bildern eines bizarren Zustands in diesen so genannten Hochtemperatur-Supraleitern zu erkennen. Das Ergebnis, das in einem Vorabdruck auf der Internetseite arXiv Anfang August 2018 veröffentlicht wurde, gibt einer Theorie Aufwind, die das jahrzehntealte Rätsel knacken könnte.

Die Studie zeige damit zum ersten Mal, dass maschinelles Lernen erfolgreich eingesetzt wurde, um experimentelle Daten zur Quantenmaterie zu verstehen, sagt Eun-Ah Kim von der Cornell University in Ithaka, New York. Sie stellte die Arbeit auf dem Treffen »Materials and Mechanisms of Superconductivity and High Temperature Superconductivity« (Materialien und Mechanismen der Supraleitung und Hochtemperatursupraleitung) im August in Peking vor.

Langfristig könnte das maschinelle Lernen dabei helfen, einfache Muster in anderen verrauschten und chaotischen experimentellen Systemen zu erkennen. Zum Beispiel in so genannten Quantenspinflüssigkeiten, die die Grundlage für einen zukünftigen exotischen Typ von Quantencomputer bilden könnten.

Geheimnisvolles Material

Die neueste Studie konzentrierte sich auf Supraleiter, die Elektrizität verlustfrei leiten. Typischerweise zeigen sie dieses Verhalten aber nur bei weniger als 4 Grad über dem absoluten Nullpunkt, was etwa -269 Grad Celsius entspricht. Kims Team untersuchte eine Teilgruppe der Supraleiter, so genannte Cuprate, die aus Kupferoxid-Sandwichen bestehen. Sie werden mitunter schon bei Temperaturen von minus 140 Grad supraleitend. Das Verständnis dieses Phänomens gilt als große Herausforderung, mit der Physiker große Hoffnungen verbinden: Es könnte der Schlüssel dazu sein, neue Materialien zu entwickeln, die bei noch höheren Temperaturen Strom ohne Widerstand leiten.

Eine wichtige Rolle scheint der Zustand zu spielen, den Materialien kurz vor Ausbildung der Supraleitung ausbilden, Experten sprechen von einer »Pseudobandlücke«. Sie ist theoretisch schwer zu beschreiben, da hier Elektronen und Atome auf sehr komplexe, scheinbar chaotische Art und Weise miteinander interagieren. Einige Physiker nennen den Zustand daher die »dunkle Materie« der Cuprate, in Anspielung auf die ebenfalls rätselhafte Dunkle Materie der Astrophysik.

Die Erklärung der Pseudobandlücke könnte jedenfalls der Schlüssel zum Verständnis der Supraleitung sein. Tatsächlich haben Physiker einige viel versprechende Muster in Festkörpern in diesem Zustand beobachtet. So scheint die Elektronendichte hier wellenartig zu- und abzunehmen. Aber was die Interpretation angeht, sind sich Experten uneinig.Ein Ansatz betrachtet Elektronen als stark interagierende Partikel, während eine konkurrierende Idee sie als nur schwach interagierend betrachtet.

KI erkennt Muster, die für Menschen unsichtbar bleiben

Um mehr Informationen über diese Muster zu erhalten, entwarf Kims Team neuronale Netze, die Bilder der Pseudobandlücke untersuchten. Die Muster in den Bildern, die mit einem Rastertunnelmikroskop aufgenommen wurden, erscheinen für das menschliche Auge oft ungeordnet, da das Material in den Messungen chaotisch und schwankend ist und die Messungen ein Rauschen enthalten. Der Vorteil des maschinellen Lernens in dieser Situation besteht darin, dass Algorithmen lernen können, Muster zu erkennen, die für den Menschen unsichtbar sind.

Um die Algorithmen zu trainieren, fütterte das Team neuronale Netze mit Beispielen von Wellenmustern, die verschiedenen theoretischen Vorhersagen entsprachen. Nachdem jeder Algorithmus gelernt hatte, diese Beispiele zu erkennen, wandte er dieses Lernen auf reale Daten aus Cupraten mit Pseudobandlücke an. Über 81 Iterationen hinweg identifizierten die Algorithmen wiederholt ein modulierendes Muster, das der partikelartigen Beschreibung von Elektronen entsprach, welche bereits in den 1990er Jahren entstanden ist.

Die aktuelle Studie zeige, dass die partikelartige Beschreibung in diesem Fall besser geeignet ist als die konventionelle wellenartige Beschreibung, sagt André-Marie Tremblay, Physiker an der University of Sherbrooke in Kanada, der bei Kims Vortrag in Peking dabei war. Die Art des Musters herauszuarbeiten sei entscheidend, um zu interpretieren, was sie verursacht hat, sagt Milan Allan, Physiker an der Universität Leiden in den Niederlanden.

Originelle Anwendung von Algorithmen

Die Technik könnte Physikern künftig helfen, die Hochtemperatur-Supraleitung zu verstehen, sagt Allan. Er verweist allerdings darauf, dass die aktuelle Vorveröffentlichung vermutlich noch nicht das letzte Wort in dieser Frage ist. Die Debatte über die Pseudobandlücke werde wohl noch weitergehen.

Die Arbeit sei eine beeindruckende, originelle Anwendung von Algorithmen des maschinellen Lernens auf diese Art von experimentellen Daten, sagt Tremblay. Aber der Algorithmus könne nur zwischen den verschiedenen Hypothesen unterscheiden, die ihm gegeben sind, und nicht völlig neue Muster finden.

Während ihres Vortrags betonte Kim, dass sie gerade daran arbeiten, die Technik auch auf Daten aus der Röntgenbeugung von Quantenmaterialien anzuwenden – eine Technik, die die Streuung von Lichtwellen nutzt, um die physikalische 3-D-Struktur eines Materials zu enthüllen. Diese Technik erzeugt allerdings so umfassende Muster, dass es Monate dauern kann, sie mit herkömmlichen Mitteln zu entwirren.

In diesem Fall muss die KI Ähnlichkeiten und Klassifizierungen selbst erkennen, sie bekommt keine von Menschen gelabelten Daten, um zu lernen. Stattdessen bildet sie ähnliche Gruppen anhand der Merkmale, die sie in Cluster sortiert. »Diese Reise, auf der wir KI oder maschinelles Lernen einsetzen, um die Entstehung von Quanten zu verstehen, hat gerade erst begonnen«, sagte sie.

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