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Hirnforschung: Kummerspeck macht lustig

Plakativ stimmt nie so ganz, vor allem in der Naturwissenschaft - und so ist es folgerichtig Etikettenschwindel, den Körperbotenstoff Ghrelin nur mit der Beschreibung "Hungerhormon" abzutun. In Wirklichkeit zeigt sich nun, dass er viel tiefer in unser Körperempfinden eingreift.
Kurz, aus dem Stegreif, zwei schnelle Fakten über die letzten Diätvorschläge der aktuellen Frauenzeitschrift XY – los geht's. Erstens, sie wird nicht funktionieren. Zweitens, sie könnte trotzdem glücklich machen, Erstens hin oder her. Und Jeffrey Zigman vom Howard Hughes Medical Institute in Maryland und seine Kollegen hoffen nun, die physiologischen Zusammenhänge für dieses nicht ganz logische Widerspruchsgemenge besser verstanden zu haben. Kurz zusammengefasst glauben sie, dass unser Körper Schwermut und Unglücklichsein mit uralten Mitteln bekämpft, deren Risiken und Nebenwirkungen allerdings ausgerechnet unser heutzutage modernes Idealgewicht in Gefahr bringen.

Im Zentrum der Experimente, die die Wissenschaftler auf diese Idee gebracht haben, steht dabei der körpereigene Wirkstoff Ghrelin. Schon seit einiger Zeit weiß man, dass das Peptidhormon im Magen-Darm-Trakt ausgeschüttet wird, wenn unserem Körper langsam die Kurzzeitspeichervorräte ausgehen und es daher eine gute Idee zu sein scheint, sich selbst ein wenig mehr auf die Dringlichkeit einer möglichst baldigen Nahrungssuche einzupeitschen. Der Ghrelinpegel steigt entsprechend höher und höher, je länger eine Mahlzeit zurückliegt – die Bezeichnung Hungerhormon für Ghrelin lag entsprechend nahe.

Zuletzt hat sich aber immer deutlicher herauskristallisiert, dass die Wirkungen des Peptids im Körper vielfältiger sind. So scheint der Ghrelinpegel im Blut zum Beispiel nicht nur mit dem Zyklus der Nahrungsaufnahme zu pendeln – auch Stresssituationen beeinflussen offenbar die Hormonspiegel im Blut. Das scheint zunächst einmal durchaus einleuchtend: Wenn das Leben einen etwas mehr fordert, als man es gerne hat, sollte man dabei zumindest nicht auch noch ein Hungergefühl haben. Dummerweise aber erhöht Stress gerade die Ghrelinmenge, statt sie zu minimieren – und steigert trotz der ganzen Sorgen auch noch den Appetit, was nun wieder weniger sinnvoll, sondern ziemlich gemein klingt. Was steckt dahinter?

Besser als satt

Zigman und Co testeten an Mäusen und bestätigten, dass gestresste Nager tatsächlich höhere Ghrelinspiegel aufweisen. Daraufhin aber machten die Forscher eine pfiffige Gegenprobe – vielleicht, so ihre Idee, sind die höheren Hungerhormonspiegel ja sogar als aktiver Schutzwall gegen Stress gewollt, weil sie die Mäuse gegenüber den wachsenden Alltagsbeanspruchungen immunisieren?

Einige für die Mauskandidaten wenig lustige Versuchsreihen sollten Antworten liefern. Die Nager wurden dazu zunächst auf strenge Diät gesetzt – wie gewünscht stieg ihr Ghrelinspiegel auf die vierfache Menge. Dann mussten diese Nager, sowie gut genährte Kollegen, in verschiedenen stressigen Irrgartenversuchen ihre Lernfähigkeit unter Beweis stellen. Im Normalfall sind diese Versuche für die Nager ziemlich frustrierend. Sie dienen zudem als Depressionsmessgerät: Schwermütige und überforderte Mäuse sind an ihrer generellen Lustlosigkeit und Angst im Versuch gut zu erkennen.

Im Experiment zeigte sich nun, dass die hungrigen und ghrelingepushten Tiere deutlich robuster auf die Anforderungen des Tests reagierten – als depressiv erwiesen sich viel eher ihre gut genährten Kollegen, durch deren Adern deutlich weniger des Hungerhormons zirkulierte.

Offenbar wirkt das Ghrelinpeptid als biochemische Frustrationsbremse, schlussfolgerten die Forscher – und überprüften die Hypothese in einem weiteren Experiment. Dabei ließen sie im selben Versuchsaufbau nun auch noch unter Diät gesetzte Nager antreten, denen der Growth-Hormone-secretagogue-Rezeptor (Ghsr) fehlte, auf den Ghrelin im Körper in der Hauptsache wirkt. Zwar stieg auch bei diesen Tieren der Ghrelinspiegel, es brachte diesen aber keinen Vorteil: Die Tiere waren bei steter experimenteller Anforderung ebenso frustrations- und depressionsgefährdet wie die satte Normalmaus.

Gut gewappnet

Ghrelin erhöht damit die Lernbereitschaft und Neugierigkeit in Labyrinthversuchen, schützt dort vor Frust und verhindert jene Nager-Depressionen, die mit steter Überforderung einhergehen. Das gilt auch für das Leben außerhalb des Irrgartens, wie ein abschließender Versuch belegt: Hier mussten sich diätäre Ghrelin- sowie gemästete Normnager in einem zu engen Käfig die dauernde Präsenz einer aggressiven Boss-Maus gefallen lassen, die sie zu steter Unterwerfung und Selbstaufgabe nötigte. Auch auf diese soziale Stresssituation reagierten die hungerhormonisierten Mäuse deutlich entspannter – während ihre armen satten Kollegen zunehmend schwermütig wurden.

Das modische "Hungerhormon" Ghrelin ist daher vielleicht eher als altertümliches Stresshormon mit ein paar zusätzlichen Sonderfunktionen im Ernährungsbereich anzusehen – die leider im Nebeneffekt ein paar Pfunde auf die Hüften bringen könnten. Gerade für Mäuse – oder einst auch hungrige Steinzeitmenschen – dürften beide Ghrelinrollen aber ohnehin in den Jahrmillionen der Evolution Hand in Hand gegangen sein: auf der Nahrungssuche sollte man als Lebewesen ohne Supermarktzugang besser mit Stress klarzukommen lernen. Angeblich gilt das für den modernen Homo sapiens ja nicht: Ihm empfiehlt man landläufig, zum Schutz des Geldbeutels mit leerem Magen besser nicht in den Supermarkt zu gehen. Ob das aber auch in der stressigen Samstag-kurz-vor-Ladenschluss-Stampede gilt, kann, wer unbedingt will, im verzichtgestählten Ghrelin-Selbstversuch überprüfen. Einfach vorbeigehen, am Eisstand.

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