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Großkatastrophen: "Ländergrenzen spielen keine Rolle"

Vor zwölf Jahren erschütterten die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York Menschen auf der ganzen Welt. Die Ereignisse vom 11. September hinterließen tiefe Spuren in der Psyche von Opfern und Angehörigen. Gilt das auch für unbeteiligte Zeitzeugen? Die Sozialpsychologin Angela Kühner erläutert die gesellschaftlichen Auswirkungen von Großkatastrophen.
Öffentliche Rituale zur Traumabewältigung

Frau Dr. Kühner, im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 sprechen viele Ihrer Kollegen von einem "kollektiven Trauma", also von einem Ereignis, das viele Menschen gleichzeitig seelisch belastet hat. Kann man Traumata auf eine ganze Gesellschaft "hochrechnen"?

Man kann sicher sagen, dass ein solch gravierendes Ereignis wie "9/11" für eine Gesellschaft große Bedeutung hat. Alle Mitglieder verbinden mit diesem Tag bestimmte Erinnerungen. Das lässt sich zum Beispiel feststellen, wenn man die Menschen fragt: "Wissen Sie noch, wie Sie von den Anschlägen erfahren haben?" Man erhält dann recht schnell Antworten wie "Ich habe es auf dem Weg zur Arbeit im Radio gehört" oder "Eine Kollegin hat mir davon im Büro erzählt". Jeder weiß noch verblüffend genau, wo er war, als die Flugzeuge in die Türme des World Trade Center krachten. Ähnliches konnte man schon für das Attentat auf John F. Kennedy oder den Fall der Berliner Mauer nachweisen. Psychologen sprechen von "Blitzlichterinnerungen". Mit dem Begriff "kollektives Trauma" wäre ich allerdings vorsichtig.

Aus Gehirn und Geist 9/2013
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Warum?

Trauma stammt vom griechischen Wort für "Wunde", das in der Medizin "unsichtbare" Verletzungen bezeichnet, die durch äußere Gewalteinwirkungen entstanden sind und mit denen der Körper eine Zeit lang zu kämpfen hat. Als man Ende des 19. Jahrhunderts herausfand, dass bestimmte Ereignisse in vergleichbarer Weise seelische Wunden hinterlassen können, übernahm man diesen Begriff auch in der Psychologie. Und so wie in der Medizin immer nur einzelne Menschen eine Verletzung haben können, sind auch von psychischen Traumata streng genommen nur Einzelne betroffen. Versucht man, dies auf ein ganzes Kollektiv zu übertragen, darf man nicht vergessen, dass das metaphorisch gemeint ist.

Trotzdem gibt es zahlreiche Studien, die darauf hindeuten, dass vor allem in den USA viele Menschen durch die Ereignisse psychisch beeinträchtigt wurden.

Das stimmt. Gerade von Seiten amerikanischer Kollegen gab es zahlreiche Untersuchungen zu den Auswirkungen der Terroranschläge. Man konnte etwa feststellen, dass ungewöhnlich viele Menschen Symptome einer so genannten Posttraumatischen Belastungsstörung zeigten, auch ohne selbst direkt betroffen gewesen zu sein. Ebenso war die Bevölkerung unmittelbar nach den Anschlägen allgemein ängstlicher, was sich etwa darin äußerte, dass viele Kinder lieber in den Betten ihrer Eltern schlafen wollten. Wie man zudem feststellen konnte, haben die Anschläge vom 11. September eine große Bedeutung für die Großgruppenidentität der Amerikaner. So entstehen schnell wieder starke Emotionen, etwa wenn sich das Ereignis jährt und Gedenkfeiern stattfinden. Der aus Zypern stammende amerikanische Psychiater Vamik Volkan bezeichnete dieses Phänomen daher als "gewähltes Trauma", das auf einem gemeinsamen Reservoir an Bildern beruht. Passend wäre in meinen Augen auch die Bezeichnung "geteiltes Trauma".

Dass Menschen in New York die Anschläge schwerer verarbeiten können als anderswo, erscheint nachvollziehbar. Aber warum hatte der Terror auch so eine enorme Wirkung auf jene, die das Geschehen aus der Ferne mitverfolgten?

Angela Kühner | Angela Kühner wurde 1972 in Burghausen an der Salzach ­geboren. Sie studierte Psychologie an der Ludwig-­Maximilians-Universität München, wo sie 2007 über kollektive Traumata promovierte. 2008 erschien ihr Buch "Trauma und kollektives Gedächtnis". Heute ist sie wissenschaftliche ­Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Soziologie und psychoanalytische Sozialpsychologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main.

Die USA sind ein Land, das vor 9/11 kaum direkten Angriffen ausgesetzt war. Die Erfahrung, plötzlich als Gemeinschaft verwundbar zu sein und sich nicht wirkungsvoll schützen zu können, hat also das Selbstverständnis vieler Amerikaner tief erschüttert – unabhängig von der direkten Betroffenheit. Ganz ähnlich ging es übrigens auch Menschen, die anderweitig einen starken Bezug zu dem Land hatten. So beschrieb beispielsweise der spätere Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk eindrucksvoll, wie er die Ereignisse von Istanbul aus erlebt hat. New York war zuvor drei Jahre lang seine Heimat gewesen, aus diesem Grund war er auch aus der Ferne besonders betroffen und hat das Ereignis ganz anders erlebt als die Menschen um ihn herum.

Also beeinträchtigen Großkatastrophen Menschen über Ländergrenzen hinweg?

Ländergrenzen spielen keine Rolle. Im Prinzip hängt alles davon ab, wie sehr sich jemand mit einem Ereignis identifiziert oder ob er das Gefühl hat: "Das hätte mir auch passieren können." Und so kann es einen Texaner vergleichsweise kaltlassen, während ein Mensch in Tokio tief erschüttert ist, weil er eine Zeit lang in New York gelebt hat und sich der Stadt verbunden fühlt. So eine Verbundenheit muss nicht nur räumlich sein. Ich erinnere mich an einen Patienten, der kurz nach den Anschlägen zu mir sagte: "Na ja, das hat ja nur die Frühaufsteher getroffen. Ich wäre um diese Uhrzeit noch gar nicht im Büro gewesen." Das kann man als eine Art Versuch der psychologischen Verarbeitung ansehen: Dieser Patient identifizierte sich vermutlich mehr mit dem Ereignis und den Opfern, als er ertragen konnte, und hat durch diese eigenartige Erklärung versucht, eine schützende Distanz herzustellen.

Gab es andere Katastrophen, die Gesellschaften ähnlich stark prägten? Beispielsweise der Amoklauf des Norwegers Anders Behring Breivik im Juli 2011?

Auf bestimmte Weise kann man beide Ereignisse sehr gut miteinander vergleichen, auch wenn in Norwegen viel weniger Menschen direkt betroffen waren. Es ist ein Trugschluss zu denken, die Tragik eines Ereignisses ließe sich an der Zahl der Toten messen. Beim Tsunami vor der Insel Sumatra im Dezember 2004 starben zum Beispiel weitaus mehr Menschen als durch 9/11 und Breivik zusammen. Trotzdem würde man dieses Ereignis vermutlich nicht als kollektives Trauma für die halbe Welt bezeichnen.

Warum haben die Terroranschläge in dieser Hinsicht eine Sonderstellung?

Weil es so genannte "man-made disasters" sind. Wir wissen aus der Forschung: Traumatisierungen, die dadurch entstehen, dass einem ein anderer Mensch etwas antut – sei es Vergewaltigung, Entführung oder Folter –, beschädigen die Opfer viel stärker und nachhaltiger als Traumata, die eher als Unglück erlebt werden, wie etwa Naturkatastrophen. Der Hamburger Sozialforscher Jan Philipp Reemtsma spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von dem Unterschied zwischen Unrecht und Unglück.

Wie sollten Gesellschaften mit Großkatastrophen umgehen?

Aus meiner Sicht hilft eine richtig verstandene Solidarität mehr, als sich künstlich Feindbilder aufzubauen. 9/11 wurde sehr schnell als Angriff auf die gesamte westliche Welt bezeichnet – und das, obwohl New York eigentlich eine multikulturelle Stadt ist und diese Aufteilung gerade dort besonders abwegig erscheint. Von den Anschlägen waren ja zum Beispiel auch Muslime betroffen. Schnell wurden kollektive Bilder wiederbelebt: die "Achse des Bösen" oder der "Clash of Civilizations". In Norwegen fand man dagegen einen stärker deeskalierenden Ansatz, um mit den Taten von Breivik umzugehen. Hochrangige Politiker verkündeten: Wir lassen uns als Gesellschaft nicht spalten. Auch gemeinsame öffentliche Rituale wie Gedenktage können die Heilungsprozesse begünstigen, weil die Betroffenen dann merken, dass sie nicht allein sind.

Welche Rolle spielt die juristische Verfolgung der Täter?

Soweit möglich, kann auch die rechtliche Aufarbeitung helfen. Handelt es sich um ein Verbrechen, bei dem man die Schuldigen vor Gericht stellen kann, nimmt die Art und Weise des Prozesses Einfluss auf die Verarbeitung des Erlebten. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der NSU-Prozess. Es ist durchaus vorstellbar, dass einige Menschen in Deutschland, die aus der Türkei stammen, "traumatisiert" wurden, weil die mutmaßlichen Täter ihre Opfer allein auf Grund von deren Gruppenzugehörigkeit auswählten.

Streit um die Sitzplatzvergabe, Befangenheitsanträge, Vertagungen – damit ist gerade der NSU-Prozess doch kein Musterbeispiel für die rechtliche Aufarbeitung, oder?

Unter psychologischen Gesichtspunkten ist das für die Opfer sicherlich ein negatives Signal. Hier wird aus ihrer Sicht die Botschaft vermittelt: "Wir sind mit der Aufklärung überfordert oder nicht genügend daran interessiert." Genauso problematisch kann es sein, wenn der Eindruck entsteht, die mutmaßlichen Täter würden im Rahmen des Prozesses zu viel Raum bekommen, um sich zu erklären und ihr Handeln zu rechtfertigen. Diese Frage wurde etwa im Fall Breivik stark diskutiert: Kann man es den Hinterbliebenen und der Allgemeinheit zumuten, dass er im Gerichtssaal seine Ideologie verbreitet? Hier haben gerade auch ambivalente Erfahrungen mit der Wahrheits- und Versöhnungskommission in Südafrika gezeigt: Einen Königsweg für die Aufarbeitung "kollektiver Traumata" – wenn wir sie so nennen wollen&nsp;– gibt es nicht.

Das Interview führte GuG-Redakteurin Daniela Zeibig.

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