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Lebensdauer von Neutronen: Neun Sekunden auf dem Weg zu einer neuen Physik

Selbst nach Jahrzehnten der Forschung lässt sich die exakte Lebensdauer des Neutrons nicht dingfest machen. Da steckt mehr dahinter als nur ein Messfehler, sagen Physiker.
Protonenfalle

Die Situation ist äußerst unbefriedigend: Selbst nach Jahrzehnten der Forschung können Wissenschaftler noch immer nicht genau sagen, wie lange Neutronen leben. Die Elementarteilchen sind stabil, solange sie in Atomkernen stecken. Doch ungebunden zerfallen sie nach einer knappen Viertelstunde in andere Teilchen. Wie lange exakt – dafür liefern verschiedene Experimente jeweils unterschiedliche Antworten.

Dabei wäre es sehr wichtig, die exakte Lebensdauer des Neutrons zu kennen – nicht allein aus grundsätzlichem Interesse, sondern auch um zentrale Fragen über eine neue Physik jenseits der bekannten Teilchen und Prozesse im Universum beantworten zu können, sagt Jeffrey Nico vom National Institute of Standards and Technology (NIST) in Gaithersburg, Maryland. "Wir dürfen diese Unstimmigkeit nicht einfach hinnehmen", meint der Physiker, der selbst ein Experiment zur Neutronenlebensdauer leitet.

Um die Lebensdauer von Neutronen zu bestimmen, beobachten Wissenschaftler entweder das Verschwinden von Neutronen oder aber das Auftauchen ihrer Zerfallsprodukte. Neutronen vergehen durch einen Prozess namens Betazerfall: Sie wandeln sich in ein Proton um und senden (neben einem Antineutrino) ein Elektron aus. Dadurch geben sie negative Ladung ab, um selbst eine positive Ladung anzunehmen. Wie lange die Partikel überleben, lässt sich beispielsweise messen, indem man mehrere von ihnen in einer speziellen Flasche einfängt und zählt, wie viele von ihnen nach verschiedenen Zeitspannen noch übrig sind. Eine andere Methode umhüllt einen Strahl aus Neutronen mit einer "Protonenfalle", um so alle beim Zerfall entstehenden Protonen zu zählen.

"Wir dürfen diese Unstimmigkeit nicht einfach hinnehmen"Jeffrey Nico

Solche Strahlexperimente führen Physiker seit mehr als 30 Jahren durch, wobei das NIST eine führende Rolle einnimmt. 2013 veröffentlichte die Gruppe dort ihre aktuellsten und bisher besten Ergebnisse: Die Neutronenlebensdauer beträgt demnach 887,7 Sekunden, plus oder minus 3,1 Sekunden [1]. Speicherexperimente finden zwar erst seit rund 15 Jahren statt, doch verglichen mit den Strahlexperimenten weisen die publizierten Resultate bereits jetzt eine höhere Genauigkeit auf. Das bisher beste Ergebnis mittels Speicherflaschen lieferte 2008 eine Zusammenarbeit zwischen dem Petersburg Nuclear Physics Institute sowie dem Joint Institute for Nuclear Research in Russland, gemeinsam mit dem Institut Laue-Langevin (ILL) in Frankreich [2]. Das Team bestimmte die Neutronenlebensdauer auf 878,5 Sekunden, plus oder minus eine Sekunde.

Neun Sekunden verheißen nichts Gutes

Eine Differenz von etwa neun Sekunden mag sich nicht dramatisch anhören, doch liegt sie außerhalb der von den Gruppen angegebenen Messunsicherheit. Die Fehlerbalken müssen also bei einigen – vielleicht sogar bei allen – Ergebnissen unzutreffend sein. "Die Diskrepanz ist beschämend", sagt Geoffrey Greene von der University of Tennessee in Knoxville, der am NIST-Projekt mitarbeitet. "Eine oder mehrere Gruppen haben Mist gebaut. Welche das waren, müssen wir jetzt herausfinden."

Experiment auf Lebenszeit | Das "Neutron Lifetime Beam Experiment" zur Messung der Lebensdauer von Neutronen am National Institute of Standards and Technology in Gaithersburg, Maryland, funktioniert nach der Strahlmethode.

Neun Sekunden sind nicht lang, und doch führen sie in einigen Berechnungen, in denen die Neutronenlebensdauer als Parameter auftaucht, zu merklich unterschiedlichen Ergebnissen – beispielsweise bei Vorhersagen darüber, wie sich die ersten Atomkerne bildeten. Im heißen und dichten frühen Universum lagen Protonen und Neutronen zunächst als freie Teilchen vor. Erst nachdem sich der Kosmos ausreichend abgekühlt hatte – innerhalb der ersten 20 Minuten nach dem Urknall –, setzten sich die beiden Teilchen in einem Prozess namens Nukleosynthese zu Atomkernen zusammen. "Zu jener Zeit entstand praktisch das gesamte Helium im Universum", erläutert Nico. Wie viele Neutronen damals für die Bildung von Atomkernen verfügbar waren, hängt entscheidend von der Lebensdauer der Neutronen ab. "Für die primordiale Nukleosynthese stellt die Neutronenlebensdauer derzeit die Variable mit der größten Unsicherheit dar. Wenn wir sie genauer bestimmen können, lassen sich diese Vorhersagen verbessern", ergänzt der Physiker.

Sollten die Vorhersagen für die Nukleosynthese nicht mit den tatsächlich im Weltall beobachteten Häufigkeiten – etwa von Helium – übereinstimmen, könnte exotische Physik am Werk sein. Eine mögliche Ursache wäre Dunkle Materie, eine unsichtbare, aber reichlich vorhandene Substanz im Universum, die, so nimmt man an, aus bisher unentdeckten Teilchen besteht. "Alle Kandidaten für die Dunkle Materie könnten prinzipiell eine Rolle bei der primordialen Nukleosynthese spielen", sagt Susan Gardner von der University of Kentucky. Diese Teilchen traten womöglich mit den Protonen und Neutronen in Wechselwirkung oder waren in irgendeiner Weise an den Reaktionen beteiligt, wodurch sich mehr oder weniger Atomkerne bilden konnten.

Der Betazerfall des Neutrons bietet auch einen wichtigen Zugang zu einer der vier Grundkräfte der Physik – der schwachen Kraft. Diese Kraft ermöglicht sowohl die Kernfusion als auch den radioaktiven Zerfall, wie den Betazerfall des Neutrons. "Der Neutronenzerfall ist eines der einfachsten Beispiele für die schwache Wechselwirkung zwischen massearmen Teilchen wie Elektronen und massereichen Teilchen wie Quarks [den Bestandteilen von Neutronen]", sagt Greene. "Genau darauf haben wir es abgesehen bei der Untersuchung des Neutronenzerfalls." Das Standardmodell der Teilchenphysik beschreibt den Neutronenzerfall sehr gut, dennoch fragen sich Wissenschaftler, ob es eine vollständige Beschreibung liefert. Würden die Messungen des Neutronenzerfalls von den Vorhersagen des Standardmodells abweichen, deutet das vielleicht auf eine neue, tiefere Ebene der Physik hin.

Steckt exotische Physik hinter der Diskrepanz?

Möglicherweise verhindert bisher unbekannte Physik aber auch, dass Forscher einen übereinstimmenden Wert für die Neutronenlebensdauer erhalten. Die Diskrepanz zwischen Speicher- und Strahlexperimenten verhält sich sonderbar, berichten die Physiker. Denn in Speicherexperimenten ergeben sich tendenziell kürzere Lebensdauern als in Strahlexperimenten. Vielleicht zerfallen Neutronen hin und wieder nicht über den Betazerfall, sondern durch einen anderen Prozess – sie könnten sich also in etwas anderes als Protonen umwandeln. Infolgedessen müssten in den Strahlexperimenten einige Protonen "fehlen" und die abgeleitete Lebensdauer wäre länger als die in Speicherexperimenten. (Scheinbar verschwinden weniger Neutronen in der vorgegebenen Zeit, während sie tatsächlich in weitere, unsichtbare Teilchen zerfallen.)

Protonenfänger | Wenn Neutronen zerfallen, wandeln sie sich in Protonen um, die mit dieser Vorrichtung eingefangen und auf einen Detektor gelenkt werden.

"Könnte irgendwelche neue Physik erklären, warum man bei diesen beiden Methoden abweichende Werte erhält?", fragt Greene. "Dass wir eine längere Lebensdauer beobachten, passt zu dieser Idee – und das wäre ungeheuer spannend. Aber ich denke eher, dass einer von uns irgendwo einen Schnitzer gemacht hat."

Experimente zum Neutronzerfall gestalten sich ungemein komplex. Bei Strahlexperimenten besteht die größte Herausforderung darin, sowohl die Neutronen im Strahl als auch die Protonen aus den Zerfällen fehlerfrei zu erfassen. "Das Konzept ist recht simpel, aber der Knackpunkt liegt darin, jedes einzelne Teilchen zu zählen", erklärt Nico. Darüber hinaus müssen die Forscher die Länge der Protonenfalle exakt bestimmen, um präzise Messungen zu erhalten.

Probleme bei Speicherexperimenten bereiten vor allem die Flaschenwände: Die Neutronen können mit den Wänden, die sich aus diversen Materialien wie beispielsweise ölbeschichtetem Kupfer fertigen lassen, in Wechselwirkung treten. "Wenn ein Neutron die Wand berührt, sollte es im Idealfall vollständig reflektiert werden – ohne Verluste –, aber an der Wand befinden sich möglicherweise Verunreinigungen", berichtet Peter Geltenbort von der ILL, der beim führenden Speicherexperiment mitarbeitet. Das Team baut derzeit eine größere Speicherflasche und will die Ergebnisse schließlich mit Experimenten vergleichen, in denen man kleinere Flaschen einsetzt. "Vergleicht man unterschiedliche Flaschen, so die Idee, kann man zu einer unendlich großen Flasche extrapolieren und so eine Präzision in der Größenordnung von 0,3 oder 0,4 Sekunden erreichen."

Todsichere Falle

Ein anderer Ansatz schafft die Wände der Speicherflaschen gänzlich ab. Denn die "Gefäße", in denen man die Neutronen einsperrt, bestehen hier nicht aus materiellen Wänden, sondern aus Magnet- und Gravitationsfeldern. Obwohl Neutronen keine elektrische Ladung besitzen, verleiht ihnen ihr Spin ein magnetisches Moment, wodurch sie sich in einem magnetischen Feld wie winzige Magnete verhalten. "Die Falle setzt sich aus mehr als 5000 einzelnen Magneten zusammen, und die Neutronen schweben durch die Anwesenheit dieses starken Magnetfelds", erläutert Chen-Yu Liu von der Indiana University Bloomington. Der Physiker arbeitet an einem entsprechenden Experiment am Los Alamos National Laboratory in New Mexico.

Schlussendlich hoffen die Wissenschaftler an Strahl- und Speicherexperimenten, ihre Ergebnisse in Einklang bringen zu können. "Es ist allgemein anerkannt, denke ich, dass beide Methoden grundsätzlich funktionieren", sagt Greene. "Der Teufel steckt eben im Detail." Und sollten die Neutronen ihr merkwürdiges Verhalten beibehalten, mag das Universum vielleicht ein bisschen komplizierter sein als angenommen.

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