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Welternährung: Mit Nahrungsergänzungsmittel gegen Mangelernährung?

Vitaminhersteller drängen auf Märkte im armen Süden mit dem Argument, Mangelernährung zu bekämpfen. Nötige strukturelle Veränderungen und Hilfe zur Selbsthilfe bleiben dabei auf der Strecke.
Ein afrikanisches Mädchen hält Tabletten in der Hand

Die gute Nachricht: Die Zahl der Hungernden sank von über einer Milliarde im Jahr 2010 auf nunmehr 795 Millionen. Und das liegt daran, dass mehr Kalorien pro Kopf erzeugt wurden, vor allem durch eine erhöhte Getreideernte. So hat es Rosemary Green, Epidemiologin an der London School of Hygiene & Tropical Medicine, kürzlich in einer Studie belegt. Dafür hat sie landwirtschaftliche Daten von 124 Ländern unter die Lupe genommen. Vor allem Kleinwüchsigkeit, das so genannte "Stunting", das bei Kindern vorkommt, wenn sie nicht genügend Nahrung bekommen, ist durch ein Plus an Kalorien aus Reis, Mais, Weizen und Soja zurückgegangen. Auch Zahlen des UN-Kinderhilfswerks UNICEF zeigen, dass im Jahr 1990 40 Prozent der Kinder weltweit unterentwickelt waren, während es 2011 nur noch 26 Prozent waren.

Die schlechte Nachricht: Die Welt hat damit ein anderes Problem noch längst nicht in den Griff bekommen. So leiden rund zwei Milliarden Menschen an einem Mangel an Mikronährstoffen, dem so genannten "versteckten Hunger". Dieser wird nicht unbedingt durch Symptome sichtbar, sondern erst, wenn erhebliche Mangelzustände eintreten oder wenn ständige Infektionen wie Durchfall, Wurmbefall, Malaria oder Tuberkulose die Betroffenen heimsuchen. Dieser stille Hunger resultiert aus einseitiger Ernährung. In Ostafrika und dem südlichen Afrika essen die Menschen etwa oft nur Maisbrei, morgens, mittags, abends. Laut der Hilfsorganisation Misereor wurde in den letzten 50 Jahren zu wenig darauf gesetzt, die Verfügbarkeit und den Zugang zu Hülsenfrüchten, Obst und Gemüse zu steigern. "Hochertragssorten von Grundnahrungsmitteln wurden so gezüchtet, dass sie reich an Stärke sind, aber kaum noch Spurenelemente enthalten", meint Sarah Schneider von Misereor.

Bereits im Jahr 2012 hat der Agrarökologe Teja Tscharntke von der Universität Göttingen nachgewiesen, dass mit einer reinen Produktionssteigerung Biodiversität verloren geht. So wurden nährstoffreiche Kulturpflanzen wie Hirse, Sorghum und Quinoa von den Äckern verdrängt. Das südamerikanische Pseudogetreide Quinoa hat beispielsweise einen Eisengehalt von acht Milligramm pro 100 Gramm Getreide, während Mais nur drei Milligramm pro 100 Gramm enthält. Hirse hingegen ist sehr zinkhaltig.

Doch ein Zuwenig an Mikronährstoffen wie Vitamin A, Eisen, Jod oder Zink hat gravierende Folgen für die Gesundheit vor allem von Kindern von unter fünf Jahren und für Schwangere. Bei starkem Eisenmangel leiden Kinder unter verzögerter Gehirnentwicklung, es kommt später zu Lernproblemen. Das kann im Erwachsenenalter zu verringerter Arbeitsproduktivität führen. In einigen Ländern wie Sierra Leone oder Indien sollen 80 Prozent der Kinder von Eisenmangel betroffen sein.

Auch das Vitamin A ist lebenswichtig. Der Mensch braucht es für die Sehfähigkeit, aber auch für das Immunsystem. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO erblinden 250 000 bis 500 000 Kinder jährlich wegen eines Vitamin-A-Mangels. Wenn zu wenig Zink in der Nahrung ist, bleiben die Kinder in ihrem Wachstum zurück. Etwa 400 000 Kinder sterben jährlich wegen Zinkmangels. Des Weiteren führt zu wenig Jod in der Schwangerschaft zu geistigen und physischen Behinderungen bei Kindern.

Mangelernährung führt zu Produktivitätsverlust

Damit schafft der versteckte Hunger nicht nur körperliches Leid, sondern auch immense Produktivitätsverluste und Gesundheitskosten in den betroffenen Ländern. So verdient ein Erwachsener, der als Kind unter Mangelernährung litt, im Schnitt 20 Prozent weniger als einer, der gut versorgt war. "Versteckter Hunger lähmt ganze Staaten. Er kann wirtschaftliche Entwicklungen abschwächen und teilweise sogar ganz und gar unmöglich machen", sagt Konrad Biesalski, Ernährungswissenschaftler an der Universität Hohenheim. Ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.

Derzeit wird der versteckte Hunger jedoch vor allem über die Anreicherung von Lebensmitteln bekämpft: In 80 Ländern ist eine solche Fortifizierung sogar gesetzlich vorgeschrieben. So werden etwa in Sambia Vitamin A und D routinemäßig in Mais gemischt. Immer beliebter werden auch Multivitaminpulver, die man über das Essen streut, oder Fertiglebensmittel, die mit Mikronährstoffen versetzt sind. In den Supermärkten der Elfenbeinküste findet sich seit Neuestem ein vitaminisiertes Müsli der Firma Protein Kissèe-La. Das Unternehmen wurde unterstützt von der "Global Alliance for Improved Nutrition" (GAIN). Erst kürzlich forderte die industrienahe Organisation gemeinsam mit dem Welternährungsprogramm, der Afrikanischen Union, der WHO und der Bill & Melinda Gates-Stiftung, dass diese Ergänzung von Nahrungsmitteln (die so genannte Fortifizierung) ein zentraler Bestandteil in Entwicklungsländern werden müsse. Vor allem, weil dieses das kosteneffizienteste Mittel gegen Mangelernährung sei.

"Versteckter Hunger lähmt ganze Staaten. Er kann wirtschaftliche Entwicklungen abschwächen und teilweise sogar ganz und gar unmöglich machen"Konrad Biesalski

Tatsächlich ist gut belegt, dass Nahrungsergänzungsmittel Mangelernährung lindern. "Wenn jemand an Eisenmangel leidet und ich gebe ihm ein mit Eisen angereichertes Lebensmittel, dann verbessern sich sein Blutspiegel und sein Gesundheitszustand", sagt Michael Krawinkel, Ernährungswissenschaftler an der Universität Gießen. "Das ist nicht nur plausibel, sondern auch gut bewiesen." Dass es immer weitere Studien dazu gibt, wundert den Wissenschaftler. Doch diese relativ einfach durchzuführenden Studien sind häufig von Lebensmittel- oder Vitaminherstellern gesponsert, darunter Coca-Cola, Nestlé, Unilever, verschiedene Milchverbände wie das US Dairy Export Council oder auch die Vitaminhersteller DSM und BASF.

Wandel weg von heimischen Produkten hin zu Functional Food

Im Zuge des Fortifizierungsbooms drängen die multinationalen Konzerne auch mit anderen vermeintlichen Gesundheitsprodukten auf den Markt. So gibt es etwa in Indien vitaminisierte Kinderjogurts namens Fundooz von Danone. Auch Kekse gibt es mit gesundheitsfördernden Stoffen. Oft werden diese Produkte besonders günstig angeboten, damit Arme sie sich leisten können. Dafür kommen häufig billige Rohstoffe wie Palmöl und Milchpulver anstatt Milch zum Einsatz. Die hygienisch verpackte Ware wird dann viel lieber gekauft als heimisch produzierte Produkte wie Maniok, "spider plant", Kürbisblätter oder Früchte des Affenbrotbaums. So vollzieht sich derzeit ein Wandel in Entwicklungsländern weg von heimischen Produkten hin zu Functional Food und sogar Junk Food. Laut einer aktuellen Studie in der Fachzeitschrift "The Lancet" werden Softdrinks immer häufiger in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen verkauft, während die Absatzzahlen im reichen Westen rückläufig sind.

Und das hat wiederum Folgen für die Gesundheit: Laut einer Studie von Krawinkel aus dem Jahr 2014 sind im ländlichen Tansania bereits 22 Prozent der Frauen übergewichtig, nur sieben Prozent untergewichtig. Auch in anderen Ländern, in denen Mangelernährung grassiert, kommt es zu einer doppelten Bürde: In Indien ist die Zahl der diabeteskranken Erwachsenen in 35 Jahren von 12 Millionen auf 65 Millionen angestiegen. In Deutschland kam es in dieser Zeit nur zu einer Zunahme von drei auf fünf Millionen.

Einheimische Landwirtschaft hat ihre Stärken | Experten sind der Ansicht, dass zur nachhaltigen Lösung des Problems der Mangelernährung auch die einheimische Landwirtschaft gestärkt werden muss. Dazu gehören sowohl Schulungen für die Bevölkerung über Nährwerte einheimischer Pflanzen wie Hirse oder Quinoa als auch solche für die Bauern über Methoden, wie sie ohne teuren Dünger ihre Erträge steigern können.

Viele Wissenschaftler und auch Hilfsorganisationen sehen darum den Trend zur Fortifizierung in südlichen Ländern skeptisch. Der Gießener Wissenschaftler Krawinkel meint, diese Produkte hätten zwar durchaus ihre Berechtigung, aber nicht nach dem Gießkannenprinzip, sondern in akuten Krisen, etwa in Flüchtlingslagern oder in Notsituationen. "Ich kann beispielsweise Slumbewohnern in Indien nicht raten, einen Kleingarten anzulegen. Hier muss Mangelernährung mit angereicherten Produkten bekämpft werden." Er kritisiert jedoch, dass es viel zu wenig Forschung dazu gibt, wie man Mangelzustände durch heimische Produkte verbessern kann. "Solche Studien sind natürlich aufwändig und teuer." Auch Patrick Kolsteren, Wissenschaftler an der Universität Gent, hat in einer Studie aus dem Jahr 2014 mehr Präventionsprogramme angemahnt; nur Symptome zu bekämpfen, sei zu wenig. Dafür müssten vor allem afrikanische Forscher stärker eingebunden werden.

Lieber auf die Kleinbauern setzen anstatt auf Technologie

Um das Problem der Mangelernährung zu lösen, bedarf es laut Ansicht vieler Wissenschaftler eher struktureller Veränderungen: die Verbesserung der Hygiene, Ernährungsaufklärung etwa über die Vorteile des Stillens und heimischer Produkte, Förderung von Hausgärten, Bildung, die Stärkung von Mädchen und Frauen, Wandel in der Landwirtschaft, soziale Sicherung und Gesundheitsdienste. Gerade die Bildung scheint der Schlüssel zur Lösung zu sein. So hat Michael Krawinkel in einer weiteren Studie kürzlich belegt, dass in Kenia mittels einer Elternberatung die Beikost der Kinder vielfältiger wurde. Dabei wurde der Abwechslungsreichtum der Babynahrung über einen Index erfasst; dieser war mit Beratung um 27 Prozent höher als ohne.

Wichtig sind auch Schulungen für Bauern darin, wie sie ihre Erträge steigern können, etwa mit Hilfe von Stickstoff bindenden Bohnen anstatt mit teurem Kunstdünger. Oder mit dem Pflanzen von Bäumen zwischen den Feldern, die Schatten spenden und den Boden vor Erosion bewahren. So sehen auch die Wissenschaftler Tscharntke und Biesalski die Kleinbauern als Rückgrat bei der Bekämpfung von Mangelernährung und Hunger. Und Krawinkel meint: "Wenn Produktivität nachhaltig gesteigert werden soll, dann muss das traditionelle Wissen für Ernährungssouveränität miteinbezogen werden." Doch die Entwicklungszusammenarbeit hat in den vergangenen Jahren nicht auf die Kleinbauern gesetzt, sondern auf Technologie bei Ackerbau, Saatgut, Düngung und Bewässerung. "Das hat die nachhaltige Entwicklung aber nicht gefördert", so Krawinkel.

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