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Kosmische Teilchenschauer: Mehr Myonen als erwartet

Extrem hochenergetische Teilchen aus der kosmischen Strahlung verhalten sich anders als erwartet: Sie erzeugen mehr Myonen, als bekannte Modelle vorhersagen.
Blick von oben auf die Erde

Ihre Energie übertrifft bei Weitem alles, was irdische Teilchenbeschleuniger zu leisten im Stande sind: In der kosmischen Strahlung treten hin und wieder Teilchen auf, die zigmillionenfach energiereicher sind als die Teilchen, die im weltweit stärksten Beschleuniger kreisen. Solche extrem energiereiche Teilchen sind allerdings – zum Glück – selten. Pro Quadratkilometer und Jahr trifft nur etwa eines auf die Erdatmosphäre.

Dann aber verwandelt sich seine Energie in zahlreiche andere Teilchen, ganz ähnlich wie bei den Kollisionen in Beschleunigern. Hier wie dort entstehen Tausende so genannter Sekundärteilchen, leichte Elementarteilchen, die man in einem Detektor registrieren kann.

Indem die Forscher am CERN und anderswo die Sekundärteilchen exakt vermessen, können sie die Ereignisse am Kollisionspunkt nachvollziehen – zum Beispiel Entstehung und Zerfall eines Higgs-Bosons. Nach Jahrzehnten der Forschung galten die verschiedenen Wechselwirkungen zwischen hochenergetischen Teilchen mittlerweile als sehr gut verstanden.

Doch neue Messungen des Pierre-Auger-Observatoriums weisen nun darauf hin, dass dem nicht so ist. Das auf einer Hochebene in Argentinien installierte Observatorium ist das weltweit größte Experiment zur Beobachtung der extrem hochenergetischen kosmischen Strahlung. Es ist darauf spezialisiert, den "Luftschauer" zu erfassen, die Teilchenkaskade, die entsteht, wenn ein Teilchen aus dem Weltall mit Luftmolekülen kollidiert und in Sekundärteilchen zerfällt. Bei extrem energiereichen Teilchen kann ein solcher Schauer bis zur Erde durchdringen.

Das Observatorium deckt eine Fläche von 3000 Quadratkilometern ab, um möglichst viele dieser seltenen Ereignisse beobachten zu können. Insgesamt 1660 Bodenstationen sind über dieses Areal verteilt. Dies sind wassergefüllte Tanks mit speziellen Kameras, die das Licht messen, das die Teilchen hinterlassen, wenn sie das Wasser durchqueren. Zusätzlich suchen 27 Fluoreszenz-Teleskope den Nachthimmel über dem Experiment nach verdächtigen Lichtblitzen der Teilchenschauer ab. Wenn sowohl die Bodendetektoren als auch die Fluoreszenz-Teleskope denselben Teilchenschauer nachweisen, lassen sich besonders präzise Daten erzielen.

Wie die Wissenschaftler der Pierre-Auger-Kollaboration nun berichten, konnten sie dabei einen signifikant erhöhten Anteil an Myonen nachweisen. Diese Teilchen sind sehr kurzlebig und zerfallen schnell in ihre leichteren Geschwister, die Elektronen. Wie diese sind sie elektrisch geladen, aber viel durchdringender. Laut den Messungen kamen bis zu 60 Prozent mehr Myonen am Observatorium an, als erwartet worden war.

Für ihre Analyse haben die Forscher insgesamt 411 Ereignisse aus über zehn Jahren Messzeit ausgewertet, in denen beide Detektortypen eindeutige Signale liefern konnten. Damit sind die neuen Daten deutlich wertvoller als frühere Messungen, bei denen sich bereits ein gewisser Myonenüberschuss abgezeichnet hatte.

Eine Erklärung für die vielen Myonen steht derzeit noch aus. Sehr wahrscheinlich werden die Ergebnisse Spekulationen befeuern, man könne es hier mit "neuer Physik" zu tun haben – sprich: Bislang unbekannte Elementarteilchen oder Kräfte könnten sich bei solch hohen Energien bemerkbar machen. Da diese im heutigen Standardmodell der Teilchenphysik nicht vorgesehen sind, wäre es denkbar, dass sie einen Anteil an der Entstehung der vielen Myonen haben.

Doch auch diverse andere – profanere – Prozesse könnten für den Überschuss verantwortlich sein. So ist es durchaus möglich, dass in der komplizierten Theorie der Elementarteilchen bei hohen Energien Effekte eine Rolle spielen, die man bisher vielleicht auch bei geringeren Energien unterschätzt hat. Die Kollisionsenergie, die die Forscher der Pierre-Auger-Kollaboration nun untersucht haben, lag immerhin mehr als das Zehnfache über dem, was mit dem LHC möglich ist.

Dass sie nicht millionenfach höher liegt, obwohl die Ursprungsteilchen eine millionenfach höhere Energie besitzen als die Teilchen im LHC, liegt übrigens an der Physik bei hohen Energien: Im LHC treffen zwei Teilchenstrahlen mit gleicher Energie gegenläufig aufeinander. Die hochenergetischen kosmischen Teilchen treffen hingegen auf ruhende Teilchen in der Erdatmosphäre. Rechnet man das um, kommt man nur auf die rund zehnfache Kollisionsenergie.

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