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Open Access: Meinung: Wann kommt das Spotify der Wissenschaft?

Die Wissenschaftspiratenseite Sci-Hub besitzt "disruptives" Potenzial, das zeigt eine umfangreiche datenjournalistische Analyse. Die Plattform, die illegal und kostenlos Millionen Veröffentlichungen bereitstellt, hat das Ende klassischer Publikationswege eingeläutet, glaubt Philipp Hummel.
Bücherregal

Sci-Hub, eine Onlineplattform, die mittlerweile 50 Millionen wissenschaftliche Veröffentlichungen anbietet – alle kostenlos, die meisten davon unrechtmäßig –, ist nicht nur in ärmeren Ländern ein großer Erfolg. Auch in den USA und Europa greifen Menschen in großer Zahl auf das Angebot zu. Das zeigt eine datenjournalistische Analyse des Wissenschaftsjournals "Science". Die Gründerin der Schattenbibliothek, die 27-jährige Kasachin Alexandra Elbakyan, stellte dem Journalisten John Bohannon dazu Serverdaten über die Downloads von September 2015 bis Februar 2016 zur Verfügung.

Aus diesem Datenschatz ergaben sich allerhand interessante Details zu den Nutzern und ihrem Verhalten. Zwar nehmen absolut gesehen Nutzer in bevölkerungsreichen, aber wirtschaftlich relativ schwachen Ländern die Dienste von Sci-Hub am stärksten in Anspruch. Die Top-Downloadzahlen kommen mit 4,4 Millionen aus China, 3,4 Millionen aus Indien und 2,6 Millionen aus dem Iran. Insgesamt fanden in den ausgewerteten sechs Monaten etwa 28 Millionen Downloads über die Sci-Hub-Server statt. Ein Viertel aller heruntergeladenen Studien landete jedoch auf Rechnern in einem der 34 OECD-Mitgliedsstaaten. Die OECD ist die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und vereinigt die wirtschaftlich stärksten Länder der Erde.

Die Frage lautet: Warum sollten Studenten oder Forscher an wohlhabenden Unis eine illegale Seite nutzen?

Die USA als wissenschaftlich, aber auch wirtschaftlich stärkste Nation, kommen bei den Sci-Hub-Downloads gleich nach Russland auf Platz 5. Es zeigte sich zudem, dass die Downloadzahlen um akademische Kraftzentren in den USA relativ zur Bevölkerung überproportional hoch lagen. So gab es aus der Region um die Stadt East Lansing im US-Bundesstaat Michigan 68 000 Downloadanfragen in den betrachteten sechs Monaten. Die Stadt hat aber nur ein Hunderstel der Einwohner von New York City, wo es mit 74 000 Anfragen nur wenig mehr gab. Jedoch befindet sich in East Lansing die Michigan State University mit über 50 000 Studenten und Mitarbeitern. Und es gibt weitere solche Beispiele aus den USA und Europa.

Die Frage lautet nun: Warum sollten Studenten oder Forscher an relativ wohlhabenden "westlichen" Unis eine illegale Seite nutzen, wenn sie doch verhältnismäßig breiten legalen Zugang zu Fachjournalen haben?

Eine mögliche Antwort: Bequemlichkeit. Das klingt zunächst als Erklärung geradezu trivial, dürfte jedoch den klassischen wissenschaftlichen Verlagshäuser wesentlich mehr Furcht einflößen als ein paar Millionen illegal heruntergeladene Paper in China, Indien oder Iran.

Bequemlichkeit als Schlüssel zur "Disruption"

Die These steht schon länger im Raum: Neben dem kostenfreien Zugang sei einer der größten Vorteile von Sci-Hub gegenüber den Plattformen der Verlage der einfache, zentrale – eben bequeme – Zugriff. Selbst wenn man von einem Computernetzwerk einer Hochschule mit breiten Lizenzrechten auf wissenschaftliche Literatur zugreift, sind Suche und Download teils relativ mühsam, beschweren sich Forscher. Bei Sci-Hub genügt die DOI-Nummer, eine digitale Identifikationsnummer für Dokumente, oder der Titel der Veröffentlichung, um die Plattform zu nutzen. Die Seite erinnert optisch an große Suchmaschinen wie Google. Sie besteht im Prinzip nur aus einem einzigen Eingabefeld. Einer oder wenige Klicks, manchmal ein bisschen kaum störendes Kyrillisch hier und da, und man hat das gewünschte PDF vor sich.

Solche bequemen Lösungen haben auch in anderen Branchen das Ende klassischer Verbreitungswege eingeläutet; man denke an den Musik-Streamingdienst Spotify, das Videoportal Youtube oder die Spielfilm- und Serienplattform Netflix. Im Start-up-Jargon spricht man von einer "Disruption" der alten Geschäftsmodelle. Sie werden durch neue Technologien zerfetzt, zerstört, hinweggefegt.

Diese These für den Erfolg von Sci-Hub bekommt durch die "Science"-Analyse und die Berichterstattung darüber nun weiteren Auftrieb. In der Gesamtschau wachsen die Indizien für eine ernsthafte Bedrohung der Verlage durch eine "disruptive Technologie".

Die Zahlen zu den Downloads von westlichen Unicampus lassen sich zwar zum Teil nicht ganz eindeutig interpretieren, weil einzelne "Großkunden", die mit automatischen Programmen Veröffentlichungen in großer Zahl von den Servern ziehen, die Statistik verzerren können. Doch "Science" hat sich auch die Mühe gemacht, im Rahmen der Berichterstattung über die Datenanalyse eine anonyme Umfrage unter seinen Nutzern durchzuführen. Die Ergebnisse mögen zwar nicht repräsentativ für die Wissenschaftsgemeinde sein. Dennoch werden sie die Verlage aufgeschreckt haben.

So geben zwar 41 Prozent der knapp 11 000 Befragten an, Sci-Hub noch nie benutzt zu haben. Fast 88 Prozent halten es aber nicht für falsch, Studien von Piratenseiten herunterzuladen. Fast 37 Prozent aller Befragten haben sich bereits ergaunerte Artikel beschafft, obwohl sie einen legalen Zugang gehabt hätten. Das spricht für die Bequemlichkeitsthese. Direkt nach dem individuellen Hauptgrund für die Nutzung von Sci-Hub befragt, gaben knapp 17 Prozent eben diese Bequemlichkeit an. 51 Prozent hatten keinen Zugang zu dem gewünschten Paper, und 23 Prozent geben an, das äußerst profitable Geschäftsmodell der Verlage abzulehnen. Das bedeutet, dass wohl fast die Hälfte der Befragten Sci-Hub und Co nutzen, obwohl sie legalen Zugang zu den Veröffentlichungen hätten. Schließlich erwarten 62 Prozent, dass Sci-Hub die klassische Wissenschaftpubliktionsbranche tatsächlich im Sinn einer Disruption umpflügen wird.

Schaut man sich andere Medienzweige an, scheint derselbe Weg für die Wissenschaftsverlage nahezu unausweichlich

Glaubt man den Ergebnissen der Datenanalyse von "Science" und der Umfrage, ergibt sich der Erfolg von Sci-Hub also aus dem nicht vorhandenen Zugriff auf Publikationen aus wirtschaftlich schwächeren Ländern einerseits und einer Mischung aus Bequemlichkeit und "Systemkritik" in den Industriestaaten andererseits. Diese Zutaten könnten tatsächlich zu einer Umwälzung der Branche führen. Neben einem einfachen, zentralen, umfangreichen Zugriff, wie ihn Sci-Hub bereits bietet, spielt das Gefühl einer gerechteren Verteilung von Arbeit und Entlohnung zwischen zumeist staatlich finanzierten Forschern und Gutachtern und Verlagen als privaten Wirtschaftsbetrieben im Prozess der Publikation einer wissenschaftlichen Arbeit eine fundamentale Rolle. Wenn sich an diesem – durchaus subjektiven, aber deshalb nicht weniger mächtigen – Gefühl nichts ändert, kann Sci-Hub tatsächlich das Napster oder Pirate Bay der wissenschaftlichen Verlagsbranche werden.

Schaut man sich andere Medienzweige an, die bereits Opfer der Disruption wurden, scheint derselbe Weg für die Wissenschaftsverlage nahezu unausweichlich. Mehr als 72 Prozent der Teilnehmer der "Science"-Umfrage sind unter 35. Sie sind mit dem Internet und illegalen Downloads aufgewachsen. Jetzt jedoch nutzen sie legale Alternativen wie Spotify, die ihnen sogar personalisierte Empfehlungen für bestimmte Lieder oder Filme aussprechen – Empfehlungen von Fachartikeln könnten auch für Wissenschaftler sehr interessant sein. Für die Verlage kann der Blick auf andere Branchen daher nur bedeuten, sich möglichst schnell dem Internetzeitalter anzupassen und junge Leute mit guten Ideen und Mut wie Sci-Hub-Gründerin Alexandra Elbakyan einzustellen, statt sie mit ohnehin nutzlosen Klagen zu überziehen.

Die über Sci-Hub beschafften Artikel machen im Moment schätzungsweise zwar noch weniger als fünf Prozent aller weltweit heruntergeladenen Publikationen aus. Diese Zahlen allein wären also kein Grund zur Unruhe für die Verlage. Doch die Zeit lässt sich nicht mehr zurückdrehen, der Vorgang nicht mehr umkehren. Sci-Hub wächst weiter und wird immer bekannter. Und junge Wissenschaftler werden immer weniger Verständnis für die alten Verlage und ihr Geschäftsmodell aufbringen.

Open Access bekommt immer mehr Schwung

Projekte wie die Ende März gestartete Open-Access-2020-Initiative (OA2020) zeigen, dass sich auch die großen Forschungsinstitutionen weltweit nicht mehr mit dem aktuellen System zufriedengeben. Die 48 Unterzeichner der OA2020-Absichtserklärung, darunter die Max-Planck- und die Fraunhofer-Gesellschaft, die Leibniz-, die Helmholtz- sowie die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Hochschulrektorenkonferenz, wollen "den Großteil der heutigen Fachjournale vom Abonnementmodell zum Open Access Publishing umwandeln". Dazu plant man "Ressourcen, die momentan in Abonnements von Journalen fließen, in Mittel zur Unterstützung nachhaltiger OA-Geschäftsmodelle umzuwidmen".

Von der Sci-Hub-Bibliothek existieren bereits viele komplette Kopien, wie Gründerin Alexandra Elbakyan gegenüber "Science" sagt. Selbst wenn sie ins Gefängnis geschickt würde – und diese Möglichkeit besteht in Anbetracht der laufenden Ermittlungen und der Gerichtsentscheidungen gegen sie durchaus, sollten die USA ihrer habhaft werden – würde die Plattform dennoch weiter existieren. Am Ende dieses tief greifenden Transformationsprozesses der Wissenschaft wird sich als Lösung ein mindestens gleichwertiges, legales Angebot durchsetzen – eine Art Spotify der Wissenschaft eben.

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