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Vogelgrippe: Meinung: Zugvögel sind billige Sündenböcke

Wer wirklich die Geflügelpest H5N8 eindämmen will, sollte bei der Massentierhaltung ansetzen, meint Daniel Lingenhöhl.
In großen Mastbetrieben stehen bisweilen mehrere zehntausend Vögel. Krankheiten können sich hier rasch ausbreiten.

Die Vogelgrippe – gerne auch Geflügelpest genannt – schreckt wieder Mastbetriebe in Europa: Der Grippevirus H5N8 befiel in den letzten Wochen je eine Zuchtanlage in Mecklenburg-Vorpommern, den Niederlanden und Großbritannien, wo in der Folge vorsorglich insgesamt fast 200 000 Puten, Legehennen und Enten getötet wurden, um die Ausbreitung des Erregers zu stoppen. Zudem erließen die Behörden Transportverbote im Umkreis der betroffenen Bauernhöfe, um eine unabsichtliche Verschleppung von H5N8 zu verhindern. Und gleichzeitig wird nach dem Auslöser der Krankheit gefahndet, der die Geflügelzüchter empfindlich treffen könnte – ähnlich wie der verwandte Grippevirus H5N1, der ab dem Winter 2005/2006 auch in Europa grassierte und auch dem Menschen gefährlich werden kann (was zumindest bislang nicht für H5N8 gilt).

Daniel Lingenhöhl

Wie damals verweisen Experten als Erstes auf Wildvögel, die das Virus "am häufigsten übertragen", so der Vorsitzende der Weltorganisation für Tiergesundheit (OIE) Bernard Vallat gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. Fakt ist, dass wildlebende Wasservögel wie Schwäne, Enten oder Gänse ein natürliches Reservoir für Grippeviren bilden. Sie müssen daran nicht zwangsläufig erkranken oder sogar daran sterben, weil sich ihr Immunsystem daran angepasst hat. Allerdings scheiden sie die Viren mit dem Kot zahlreich aus und können darüber Hausgeflügel infizieren. Diese oft hochgezüchteten, genetisch verarmten und in der Massenhaltung gestressten Tiere haben dagegen keine Abwehrmechanismen entwickelt und sterben folglich zahlreich daran – auch weil sich in den Ställen mit teilweise mehreren zehntausend Vögeln ein Krankheitserreger wie ein Lauffeuer ausbreiten kann.

So einfach und einleuchtend die Theorie der Wildvögel als Virenschleudern ist, so billig ist sie aber auch: Sie macht Zugvögel zu Sündenböcken, mit denen die wahren Missstände kaschiert werden können. Die H5N8-Epidemie begann im Frühjahr in Südkorea, wo sie sich rasch ausbreitete. Verschiedene Fälle traten zudem in China auf. Ein direktes Einschleppen über Zugvögel aus Ostasien scheidet allerdings aus, denn es existiert keine Zugroute zwischen Fernost und Mitteleuropa: Die meisten europäischen Arten zieht es zum Überwintern in den Mittelmeerraum oder nach Afrika; Einzelfälle über Nordamerika in den Pazifik oder den Mittleren Osten nach Indien – fernab des Ausbruchherds; zudem handelt es sich dabei um "unkritische" Arten wie den Karmingimpel beziehungsweise das Odinshühnchen, einen Watvogel. Damit fällt auch die Möglichkeit weg, dass Tiere in einem gemeinsamen Winterquartier die Viren ausgetauscht und in verschiedene Weltregionen übertragen hätten.

Möglich wäre dagegen, dass sie sich im Brutgebiet angesteckt hätten: Wasservögel auf der ostasiatischen Zugroute könnten das Virus in Südkorea "absetzen", wo sich Zuchtgeflügel ansteckt: Südkoreanische Behörden sammelten auch mindestens 1000 tote Wildenten in einem Feuchtgebiet ein, dass in der Nähe einer der ersten betroffenen Farmen liegt. Überlebende Tiere tragen den Erreger weiter nach Sibirien, wo viele Gänse nisten. Dort treffen sie auf Arten, die eine westliche Zugbahn einschlagen und so H5N8 auf der herbstlichen Reise in den Süden nach Mitteleuropa verschleppen. Bei H5N1 hielten das Ornithologen für durchaus denkbar, doch schätzten sie die dafür erforderliche Zeitspanne auf mehrere Zugperioden und nicht auf wenige Monate, wie es auch jetzt der Fall wäre. Bislang kennt man jedoch noch keinen einzigen Fall eines H5N8-Ausbruchs in Skandinavien, Russland oder Ost- beziehungsweise Südosteuropa, wo Wildgänse und -enten ebenfalls in großer Zahl rasten und überwintern. Und schließlich wurde bislang in keinem untersuchten Wildvogel in Europa der H5N8-Subtyp nachgewiesen, der die gegenwärtigen Ausbrüche verursacht hat. Angesichts von Millionen potenzieller Überträger muss dieser fehlende Nachweis nichts bedeuten; zumal die Zahl der Kontrollen seit der H5N1-Epidemie deutlich zurückgefahren wurde. Hier müsste die Europäische Union ansetzen und mehr finanzielle Mittel für das Monitoring ansetzen.

Doch selbst wenn dann herauskommt, dass H5N8 unter europäischen Enten und Gänsen in der Natur vorkommt, wäre dies nur ein Nebenschauplatz, der nichts am eigentlichen Problem ändert. Denn eine direkte Ansteckung kann bei der Massentierhaltung nicht stattfinden: Die Ställe sind abgeriegelt, das Geflügel hat gerade wegen der Gefahr von Seuchen keinen Freigang und damit Kontakt zu Wildtieren. Die Übertragung muss also über infizierte Zuchttiere, kontaminiertes Futter oder Arbeitskleidung stattfinden. Ersteres schließen Veterinäre aus, da H5N8 ein hoch ansteckendes Pathogen sei, dass befallene Tiere rasch tötet. Letzteres können die Betriebe nur selbst lösen, indem sie strikte Hygiene einhalten und beispielsweise Schuhe jedes Mal gründlich desinfizieren lassen, sobald damit ein Stall betreten wird.

Sowohl beim Futter als auch bei Zuchttieren sollten die Behörden dagegen strenger kontrollieren: Woher stammen die Futtermittel? Werden sie vielleicht sogar mit Geflügelkot gedüngt, der hochinfektiös sein kann? Werden Fleischimporte auch von Privatpersonen – zumal aus Asien – ausreichend stark überprüft? Wie verlaufen Handelsrouten für lebende und verarbeitete Tiere? Hier lauert ein deutlich höheres Risiko der Ausbreitung von H5N8 und andere Vogelgrippeviren als durch Zugvögel. Bei H5N1 lagen viele betroffene Zuchtbetriebe entlang wichtiger Handelsrouten von Ost nach West.

Über allem thront letztlich ohnehin der Stellenwert der Massentierhaltung: Fußballfeldgroße Hallen mit zehntausenden Hühnern, Gänsen oder Enten sind fragile Einheiten, in denen sich Seuchen rasch ausbreiten, wenn nicht in höchstem Maße auf Sauberkeit geachtet wird. Sie sind angewiesen auf Futterlieferungen im Industriemaßstab, deren Herkunft nicht immer klar ist. Und sie bedeuten eben auch hunderttausende Keulungsopfer, wenn eine Krankheit auftritt. Wer das tatsächlich verhindern möchte, muss diese Art der Haltung hinterfragen – und sollte nicht auf Wildtiere zeigen, die sich nicht dagegen wehren können.

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