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Palaeoanthropologie: Mischmaschmenschwerdung

Die Meinungsverschiedenheit dreht sich um große Fragen: Wer sind wir? Und: Wo kommen wir her? Das dürfte nicht allzu bald endgültig geklärt sein - neue Argumente wie die alten Knochen des nun ausgegrabenen Prä-Chinesen hin oder her.
Unterkiefer aus der Tianyuan-Höhle
Erik Trinkaus hat seine eigenen Meinung zum Thema Menschwerdung, und vielleicht ist sie nicht einmal falsch. Zumindest aber ist sie nicht allgemein akzeptiert. Eher im Gegenteil: Trinkaus, ein renommierter Paläoanthropologe von der Washington-Universität in St. Louis, schart nun bereits seit Jahren eine kleine Gemeinde Dissidenten um sich, die sich gegen den Mainstream mit einer eigenen These durchsetzen müssen. Sie richtet sich gegen eine vermeintlich allzu simple Vorstellung der Evolution von Homo sapiens, nach der der moderne Mensch in Afrika entstand, von dort als etablierte Art auszog und weltweit alle Vor- und Frühmenschen auf seinem Weg ausstach und verdrängte.

Trinkaus und Co glauben dagegen eher an Liebe statt Verdrängung. Liebe zum Neandertaler zum Beispiel – dieser habe sich in Europa durchaus mit den neu ankommenden Menschen gut verstanden, teilweise auch sehr, sehr gut, was zu gemeinsamen Nachwuchs geführt hat. Demnach stammen wir Europäer auch vom Neandertaler ab.

Unterkiefer aus der Tianyuan-Höhle | Das am Unterkiefer eines frühen anatomisch modernen Menschen nicht alles wirklich modern ist, erkennt nur der Fachmann auf den ersten Blick. Manche Fachmänner streiten sich überdies über die Interpretation. Erik Trinkaus und seine chinesischen Forscherkollegen erkennen an diesem Unterkiefer aus der chinesischen Tianyuan-Höhle jedenfalls eindeutig das Fehlen bestimmter Merkmale von Kiefern, die dem späten archaischen Modell westeuropäischer Homo sapiens zu eigen sind. Dafür sehen die Wissenschaftler andere Merkmale spät-archaischer Homo sapiens durchaus: ein Merkmalsmix eben.
Die Mischehen im Alten Europa passen dabei ziemlich gut in Trinkaus' Gesamtweltbild: Sein Team buddelt weltweit immer wieder ein altes Skelett aus, das sowohl Merkmale von altertümlichen Menschenformen wie auch vom modernen Homo sapiens aufweist. All diese Funde können kein Zufall sein, sondern belegen nach seiner Meinung, dass der vorpreschende Mensch sich oft mit Alteingesessenen vermischte. Und vielleicht, geht Trinkaus noch einen Schritt weiter, entwickelten sich sogar ohne Zutun der Afrikaner alte Menschenarten zu einem neuen Homo sapiens? Die Herkunft des heutigen Menschen sei jedenfalls eher multiregional als zentralistisch "Out of Africa".

Immer neue alte Knochen

Der frischeste Beleg stammt nach Trinkaus aus der südwestlich von Peking gelegenen Tianyuan Höhle in China. Schon 2003 sind hier 34 rund 34 000 Jahre alte menschliche Skelettstückchen geborgen worden, die insgesamt einen der ältesten Funde eines urtümlichen modernen Menschen in der Region bilden. "Tianyuan 1" dürfte demnach zu einer Zeit gelebt haben, als es noch nicht allzuviele Homo sapiens von Afrika nach China geschafft haben dürften, wie die bislang gängigen genetischen Ausbreitungsanalysen errechnen.

Das Exemplar zeige – wieder einmal – den für allerlei Trinkaus-Fundstücke schon fast typischen anatomischen Mischmasch aus Altem und Neuen im Gebein. Eine detaillierte Schilderung muss exemplarisch ausfallen: Es geht um Einzelheiten wie vorspringende Symphysenhöcker (typisch modernmenschlich) in Kombination mit anterior verdrehten Radiusknochen mit verdächtig kleiner Talusrolle (finden sich eher bei anatomischen Frühformen des Menschen) mitsamt Dingen wie einem unverhältnismäßig großen oberen medialen Tuberositas pterygoidea (ganz typisch für archaische Menschenfrühformen; es handelt sich übrigens um angeraute Muskelansatz-Stellen im Unterkiefer).

Beinknochen aus der Tianyuan-Höhle | Auch an den Beinknochen von "Tianyuan 1" lassen sich alte und moderne Merkmale zeigen. Das rund 34 000 Jahre alte Skelett ist eine Mischung aus modernen Menschen und älteren lokalen Gruppen, glaubt Trinkaus – seiner Meinung nach nichts untypisches im Evolutionswirrwarr unserer Vorfahren.
Einen solchen Merkmalsmix in einem Wesen vereint zu sehen, dass vor mehr als dreißig Jahrtausenden in Asien gelebt hatte, beweist nach Trinkaus' fester Überzeugung erneut, was er ohnehin schon seit Jahren mit anderen, ähnlich interpretierten Skeletten belegt sieht: Stets habe der moderne Mensch Merkmale einer lokalen Urbevölkerung aufgenommen und seinen Genpool so schließlich nach und nach vermischt – hier sei nun der Beweis für China, den Skelettzeugen aus Rumänien und dem Nahen Osten auch schon nahe gelegt hatten.

Keiner war dabei. Oder doch wir alle?

Dass Trinkaus die Anthropologenzunft nun überzeugt hat, bleibt indes fraglich – alle bisher von ihm vorgelegten Skelettfunde haben andere Kollegen schließlich auch stets etwas anders interpretiert. Gelegentlich gibt es auch andere gute Gründe gegen die Trinkaus'sche Vorstellung: Im November erst hatten Forscher anlässlich seiner Studie zur angeblichen Vermischung von Neandertaler und Homo sapiens darauf hingewiesen, dass keine der bisher durchgeführten genetischen Analysen Spuren von Neandertaler-DNA in unserem Erbgut fanden.

Die Auflösung des Rätsels um die menschliche Herkunft wird also weiter auf sich warten lassen. Hilfreich für die Glaubwürdigkeit des Anthropologen-Dissidenten sind jedenfalls weitere Funde, die dann möglichst auch ziemlich vollständig sein sollten: "Tianyuan 1" fehlte zum Beispiel der gesamte Schädel vom Unterkiefer aufwärts.

Hilfreich wäre aber vielleicht auch, wenn Trinkaus, ein Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften der USA, nicht immer wieder vor allem im Hausblatt eben dieser Akademie veröffentlichen müsste. Wobei ja nicht etwa bewiesen ist, dass die Gutachter dieses Journals etwa einem Kollegen unzulässige Gefälligkeiten erweisen und ein paar Augen zudrücken: Vielleicht ist es ja auch eher so, dass die für Konkurrenzblätter tätigen Gutachterkollegen, die der anderen Meinungsfraktion angehören, einfach zu penibel hinschauen. Im Krähennest der konkurrierenden Anthropologen hilft da wohl nichts als weiter buddeln, arbeiten und Knochen interpretieren. Auf diesem Weg ist schließlich schon manche belächelte Hypothese zur belastbaren Erklärung geworden.

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