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Mittelaltermedizin: Mit Ochsengalle und Knoblauch gegen Keime

Neben allerlei Hokuspokus enthalten mittelalterliche Schriften auch Rezepte, deren Wirkung mit modernen Medikamenten vergleichbar ist. Ihre Identifikation steht jedoch erst ganz am Anfang.
Kräutermedizin

"Das beste Heilmittel": Schlicht und selbstbewusst ist die knappe Empfehlung des Verfassers für das Rezept aus Zwiebeln, Knoblauch, Ochsengalle und Wein. In einem Kupferkessel sei das Gemisch neun Tage zu lagern, dann ergebe es durch ein Tuch gedrückt eine Augensalbe, die gegen ein Gerstenkorn verwendet werden kann. So wurde die Anleitung im 10. Jahrhundert erstmals in der mittelalterlichen Handschrift "Bald's Leechbook" festgehalten und wahrscheinlich jahrzehntelang angewendet – bevor sie schließlich in Vergessenheit geriet.

Erst mehr als 1000 Jahre später sollte sich die einfache Rezeptur als hochpotentes Mittel entpuppen: Forscher der University of Nottingham konnten sie 2015 nicht nur nachbrauen, sondern auch zeigen, dass sie bei Mäusen multiresistente Staphylococcus-aureus-Erreger (MRSA) bekämpft – und damit ein hartnäckiges Bakterium, das gegen viele gebräuchliche Antibiotika resistent ist. Das Ergebnis sorgte weltweit für Aufsehen: Sollte ausgerechnet ein mittelalterliches Medikament Hoffnung für neue medizinische Mittel liefern? Verblüfft von ihren eigenen Ergebnissen fragte sich das Team aus Mikrobiologen, Medizinern und Kulturwissenschaftlern, welche Schätze die alte Handschrift noch bereithalten könnte – und wie sich diese am besten heben ließen.

"Bald's Leechbook" ist dabei nur eine von diversen Quellen, die für eine solche Suche geeignet wären. "Leechdom" nannte man im angelsächsischen Mittelalter die Kunst des Heilens, "Laece" waren ihre Anwender. Auch das "Lorscher Arzneibuch", das Ende des 8. Jahrhunderts im Kloster Lorsch bei Worms entstand, bietet nachvollziehbare Rezepte, die in die heutige Zeit übertragbar sind. Ihm und vielen anderen Schriften aus dem heutigen Deutschland widmet sich die Forschergruppe Klostermedizin um den Germanisten und Historiker Johannes Mayer, die sich in den 1990er Jahren an der Universität Würzburg formierte.

Zufällige Begegnung führt zur Entdeckung

Will man heutzutage die alten Manuskripte entziffern oder gar analysieren, müssen verschiedene Disziplinen zusammenkommen: Linguisten, um Schrift und Sprache zu übersetzen, Kulturwissenschaftler, welche die Inhalte in den historischen Kontext setzen, Botaniker und Pharmazeuten, um die Inhaltsstoffe zu identifizieren, und schließlich Biochemiker und Mediziner, um deren Wirksamkeit zu prüfen. Eine seltene Kombination, die auch im Fall des Augensalbenrezepts nur zufällig zu Stande kam. Christina Lee, Professorin für angelsächsische Studien an der University of Nottingham, begegnete in einer Lesegruppe für Altnordisches der Mikrobiologin Freya Harrison, die das Treffen als einzige Naturwissenschaftlerin besuchte. Ihr beiderseitiges Interesse an der jeweils anderen Disziplin führte 2013 schließlich zur Gründung der Arbeitsgruppe AncientBiotics, welche die alten Heilmittel in "Bald's Leechbook" genauer betrachten soll.

"Es gibt viele, die sich bei der Entstehung solcher Rezepte irgendwelche Kräuterfräuleins im Wald vorstellen", sagt Lee. "Dabei beruhten viele mittelalterliche Rezepte auf empirischen Versuchen – die Verfasser haben beobachtet, was wirkt und was wirkungslos bleibt, und hielten das dann fest." Zwar hatten die damaligen Heiler nicht die Ausstattung, die es heutzutage bei der Suche nach neuen Wirkstoffen gibt, "aber im Rahmen ihrer Möglichkeiten haben auch sie Forschung betrieben", sagt Lee, "und versucht, den Menschen zu helfen".

"Es gibt viele, die sich bei der Entstehung solcher Rezepte irgendwelche Kräuterfräuleins im Wald vorstellen. Dabei beruhten viele solcher mittelalterlichen Rezepte auf empirischen Versuchen"Christina Lee

Die Basis für ihre Rezepturen bildeten dabei antike Schriften: Das Wissen des altgriechischen Mediziners Galen floss in die mittelalterliche Medizin ebenso ein wie das des persischen Universalgelehrten Ibn Sina, auch bekannt als Avicenna. Ihm setzte der US-Schriftsteller Noah Gordon ein Denkmal, als er ihn in seinem Roman "Der Medicus" zum Mentor seiner Hauptfigur machte. Will man die Wirksamkeit ihrer Rezepturen überprüfen, nimmt man zunächst eine Plausibilitätsprüfung vor, erklärt Johannes Mayer: "Da bei fast allen Arzneipflanzen die Hauptinhaltsstoffe bekannt sind, kann man schon theoretisch überlegen, ob ein Mittel bei der angegebenen Krankheit eine gewisse Wirkung haben könnte", so der Historiker. "Sehr interessant sind allerdings gerade jene Rezepte, die auf den ersten Blick rätselhaft sind – denn hier könnten sich wirklich neue Erkenntnisse ergeben."

Seite aus 'Bald's Leechbook' | Angelsächsische Handschrift aus dem 9. Jahrhundert.

Auch in "Bald's Leechbook" erscheinen manche Anleitungen nach heutigem Wissensstand sinnvoll: "An einer Stelle heißt es zum Beispiel, wenn jemand unter Blutarmut leidet, soll er Eisen in Wasser kochen und das dann trinken", zitiert Christina Lee – dass das Metall einen wichtigen Einfluss auf den Bluthaushalt des Körpers hatte, wussten die Leute offenbar damals schon. Ein anderes Rezept für Schlaganfallpatienten stellt ein Sitzbad mit verschiedenen Baumrinden dar. "Das hab ich auch erst einmal als Aberglaube abgetan", gesteht Lee, "bis mir ein Kollege mitteilte, dass Aspirin ursprünglich aus Weidenrinde gewonnen wurde." Salizylsäure, der Wirkstoff in Aspirin, verleiht dem Medikament seine schmerzlindernde und gerinnungshemmende Eigenschaft – seine Vorstufe Salicin wurde 1828 erstmals aus einem Extrakt von Weidenrinde gewonnen.

Gebete als Zeitmesser

Andere Rezepte sind da weniger nachvollziehbar: Gegen einen kahlen Kopf sollte man zum Beispiel Bienen fangen, zerbröseln und sich auf die Glatze streuen. "Sicherlich gab es auch in der angelsächsischen Medizin Placebos für Leute, denen gar nicht mehr geholfen werden kann", so Lee. "Da flossen auch Aberglaube und praktiziertes Christentum ein oder eben Gebete." Deren Bedeutung mag jedoch damals anders gewesen sein, als wir heute vermuten: Schließlich gab es häufig keine eindeutige Möglichkeit, um die Zeit zu messen. "Bei manchen Rezepten, wo Salben oder Umschläge aufgebracht werden, heißt es dann, man solle zum Beispiel neun Ave-Marias beten", erzählt Lee, "das kann dann auch eine Zeitspanne meinen, weil damals jeder wusste, wie lang ein Ave-Maria ist – nur verstehen wir das heute nicht mehr so, weil wir andere Methoden haben."

Spätestens dann wird es schwierig, die Wirksamkeit der Heilmittel tatsächlich zu rekonstruieren. Dennoch ist das Interesse groß, vor allem von Laien, die sich an den vermeintlich einfachen Rezepten versuchen wollen. "Wir haben hinterher unheimlich viele Zuschriften bekommen", erinnert sich Lee an die Wirkung ihrer Publikation. "Was wir allerdings nicht bekommen haben, sind Forschungsgelder." Ein Problem, das auch der Würzburger Forscher Johannes Mayer kennt. Zwei- bis dreistellige Millionenbeträge wären seiner Meinung nach nötig, um ein probates Mittel aus der Handschrift ins Labor und schließlich auf den Markt zu bringen.

Crowdfunding statt Forschungsförderung

Zudem fallen die Vorhaben der Teams mit ihrer Mischung aus Altertum und Biochemie bei Begutachtungen zu sehr zwischen die Kategorien, vermutet die britische Altertumsforscherin Christina Lee. Eine Crowdfunding-Kampagne brachte für ihre Arbeitsgruppe im Sommer 2016 immerhin genügend finanzielle Mittel zusammen, um über mehrere Wochen einen Studenten einzustellen. Weitere Anträge für Projektgelder laufen jedoch noch. Dabei geht es ihnen nicht darum, dass die Salbe eines Tages als Produkt auf den Markt gelangt: "Das Rezept ist mehr als 1000 Jahre alt, es gehört niemandem", sagt Lee. "Wir wollen einfach wissen, was daran wirkt."

Sollte die Bewerbung um Forschungsgelder erfolgreich sein, möchte sich das Team bei weiteren Analysen auf Rezepte konzentrieren, die der Wundheilung dienen. Auch will es sich anschauen, mit welcher Häufigkeit bestimmte Zutaten verwendet werden. "Es gibt zum Beispiel nicht viele Rezepte, die Ochsengalle verlangen", so Lee. Möglicherweise sorgt die Flüssigkeit dafür, dass sich bestimmte chemische Komponenten besser verbinden können. "Deswegen interessiert uns, mit welchen anderen Zutaten sie verwendet wurde." Relativ häufig kommt dagegen die Echte Betonie vor, Stachys officinalis, eine der wichtigsten Heilpflanzen in der angelsächsischen Medizin. Andere Zutaten würde man hingegen heute sicher nicht mehr einsetzen: Quecksilber in einem Rezept gegen Läuse etwa.

Nicht zu Hause ausprobieren!

Vom Nachbrauen derartiger Rezepturen rät sie ab: "Nicht zu Hause ausprobieren!", warnt Christina Lee entschieden. Denn nicht nur, dass einige Inhaltsstoffe heute besser erforscht und wie im Fall des Quecksilbers als schädlich bekannt sind – es fehlen auch grundsätzliche Angaben wie die Menge oder die Reihenfolge der Beigabe. Bereits 2005 hatte eine andere Gruppe britischer Forscher versucht, das Rezept der Augensalbe zu rekonstruieren, doch sie konnte keine antibiotische Wirkung feststellen. Auch das Team um Christina Lee bemerkte, dass das Gemisch nur bei manchen Zubereitungsarten wirksam war. Vermutlich war dieses Wissen früher weit verbreitet und musste deshalb nicht festgehalten werden. "Aus diesem Grund haben wir das Augensalbenrezept ausgewählt", sagt Lee, "darin sind immerhin die Mengenverhältnisse angegeben."

Johannes Mayer sieht das Nachkochen und die Anwendung mittelalterlicher Rezepte dagegen lockerer: "Wenn es wirklich passt, habe ich damit kein Problem", sagt der Historiker. Jedoch gibt er zu bedenken: "Besonders bei schweren Erkrankungen muss man warnen: Es gibt für die historischen Rezepturen keine klinischen Studien, deshalb sollte man hier nicht experimentieren."

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