Direkt zum Inhalt

Augmented Reality: Mit Spieletechnik Schmerzen bekämpfen

Nicht nur Spiele wie Pokémon Go setzen Virtual und Augmented Reality ein. Wissenschaftler und Ärzte nutzen die Technik auch zur Behandlung von Schmerzen - und haben damit erste Erfolge erzielt.
Virtual Reality

Spätestens seit dem Erfolg von Pokémon Go ist Augmented Reality (AR) – auch erweiterte Realität genannt – in aller Munde. In dieser Spieleapp für Mobiltelefone kann man kleine, bunte Wesen mit besonderen Fähigkeiten suchen und versuchen, sie zu fangen. Auf dem Handybildschirm sieht es so aus, als befänden sich die Pokémon in der realen Welt, da die Technik die virtuellen Wesen in das von der Kamera aufgenommene Bild setzt – deshalb erweiterte Realität. Doch nicht nur die Spielebranche setzt die erweiterte Realität ein, sie ist auch ein potenzielles Mittel, um Schmerzpatienten zu helfen.

Wo bisher nichts half

Phantomschmerzen beispielsweise – zirka 70 bis 90 Prozent aller Amputierten plagen diese im fehlenden Körperteil wahrgenommenen Schmerzen. In der Regel versuchen Ärzte ihnen mit der Spiegeltherapie Linderung zu verschaffen. Dabei wird die noch vorhandene Gliedmaße so gespiegelt, dass es für den Patienten aussieht, als hätten sie die amputierte Gliedmaße noch. Die Spiegeltherapie kann also nur durchgeführt werden, wenn nur ein Arm oder Bein fehlt. Das ist bei einer Therapie mit AR nicht nötig. Denn hier wird nicht das Spiegelbild des gesunden Körperteils projiziert, sondern ein virtueller Arm oder ein virtuelles Bein erscheint am Körper des sich im Computerbildschirm betrachtenden Patienten.

Solch eine erste Fallstudie führten schwedische Wissenschaftler 2014 an einem über 70-jährigen Mann durch. Er verlor im Alter von 23 Jahren bei einem schweren Unfall seinen rechten Unterarm und leidet seitdem unter Phantomschmerzen, welche auch die Spiegeltherapie nicht lindern konnte. Für die Therapie mit AR befestigten die Forscher Messelektroden an seinem Stumpf am Ellbogen. Diese maßen die elektrische Aktivität in den Muskeln des Armstumpfes und übersetzten sie in Bewegungen des virtuellen Arms. Der Patient sieht dann im Computer, wie sich sein fehlender Arm bewegt – so wie er es möchte. Bereits nach vier Wochen reduzierten sich die Phantomschmerzen merklich, nach etwas mehr als zehn Wochen waren sie zeitweise sogar komplett verschwunden – das erste Mal seit mehr als 48 Jahren. Nun führt der Mann die Therapie zu Hause weiter. Auch das ist ein Vorteil der AR: Theoretisch ist sie mit dem nötigen Equipment auch in den eigenen vier Wänden selbstständig durchführbar.

Wie genau die Methode funktioniert, ist noch ungewiss. Das liegt auch daran, dass die Ursachen für Phantomschmerzen noch nicht vollständig geklärt sind. Man weiß mittlerweile, dass es nach einer Amputation zu kortikaler Reorganisation kommen kann, also der Umstrukturierung neuronaler Repräsentation im Gehirn – die fehlende Gliedmaße wird im Gehirn sozusagen durch eine andere ersetzt. Fehlt beispielsweise der Daumen, reagiert der einst für den Daumen zuständige Bereich der Großhirnrinde zum Beispiel auf den Zeigefinger. Da das bei Amputierten ohne Phantomschmerzen nicht der Fall ist, vermutet man, dass diese Art von Schmerzen mit der kortikalen Reorganisation zusammenhängen.

"Das von uns genutzte System hat mehrere Eigenschaften, die kombiniert möglicherweise zur Schmerzreduktion führen", sagt Max Ortiz Catalán von der Chalmers University of Technology in Göteborg, Schweden. Es reaktiviere die Hirnareale, die zur Bewegung des amputierten Arms notwendig sind. Außerdem gaukele das visuelle Feedback dem Gehirn vor, es gäbe einen Arm, der auf die motorischen Signale reagiert. Möglicherweise wird dadurch die kortikale Reorganisation verhindert oder rückgängig gemacht, so dass auch die Phantomschmerzen zurückgehen.

Chronischer Schmerz

Wie visuelles Feedback die Schmerzwahrnehmung beeinflusst, zeigte auch eine Studie an Patienten mit chronischen Nackenschmerzen, die man mittels Helm in eine virtuelle Realität (VR) schickte. Der Unterschied zur erweiterten Realität besteht darin, dass man komplett in eine virtuelle Welt eintaucht, meist durch eine Brille, welche die eigenen Kopfbewegungen in diese Welt integriert. Die erweiterte Realität hingegen setzt auf dem Bildschirm virtuelle Objekte in die reale Welt.

Die Probanden sollten ihren Kopf so weit nach links oder rechts drehen, bis sie Schmerzen verspürten. Über das Display im Helm machten ihnen die Wissenschaftler aber vor, sie könnten ihren Kopf weiter beziehungsweise weniger weit drehen, als sie es tatsächlich konnten – und beeinflussten damit auch, wann der Schmerz einsetzte. War der Bewegungsradius in der virtuellen Realität vergrößert, konnten die Probanden ihren Kopf im Schnitt um sieben Prozent weniger drehen, bevor die Schmerzen einsetzten. Und umgekehrt vergrößerte ein virtuell eingeschränkter Bewegungsradius die tatsächliche Kopfbewegung – die Probanden empfanden erst später Schmerzen.

Das lässt sich erklären, wenn man die Krankheitshistorie chronischer Schmerzpatienten betrachtet. Über Monate oder sogar Jahre lernte das Gehirn, bestimmte Bewegungen mit Schmerzen zu assoziieren. Ein Schmerzgedächtnis bildet sich. Häufige Folge: Sie meiden diese Bewegungen und schonen sich übermäßig. Der Bewegungsmangel kann aber letztendlich zu noch stärkeren Schmerzen führen. Neben den schmerzhaften Bewegungen lernt das Gehirn aber auch simultane Reize, wie starkes Sonnenlicht oder das "Sehen" der Kopfbewegung, mit den Schmerzen zu assoziieren. Diese werden dann zu potenziell schmerzhaften Signalen. Letztendlich können sie sogar selbst Schmerzen auslösen – so wie die mit der Kopfbewegung wahrgenommenen Signale in der Studie.

Möglicherweise, so die Forscher, lässt sich die Therapie mit AR nutzen, um die Verknüpfung zwischen diesen nicht schmerzhaften Signalen und den Schmerzen abzuschwächen. Dazu könnte man die Betroffenen virtuell größere Bewegungen vollziehen lassen, während sie gerade schmerzfrei sind. Eine spielerische Komponente, mutmaßen Wissenschaftler, mag die Patienten auch dazu animieren, sich stärker zu bewegen, um den Heilungsprozess zu fördern. Leider sind das bisher hauptsächlich Spekulationen – zur Therapie chronischer Schmerzen mit AR- und VR-Spielen gibt es bislang nur wenige Studien.

Virtuelle Realität besser als Mario Kart

Anders ist die Studienlage jedoch bei der Behandlung akuter Schmerzen. Es gibt mehrere Studien zu dem Effekt, den das VR-Spiel auf die Schmerzwahrnehmung hatte, unter anderem an Verbrennungsopfern. Diese müssen oft über Wochen oder sogar Monate hinweg täglich Verbandswechsel und Physiotherapie über sich ergehen lassen – beides ist trotz medikamentöser Behandlung extrem schmerzhaft. Besonders bei Kindern ist es wichtig, die Schmerzen so gering wie möglich zu halten, damit sie bei den Behandlungen mitarbeiten und weniger Angst davor haben. Zudem verstärkt Angst das Schmerzempfinden.

Virtual Reality kann beruhigen | In Angst einflößenden Situationen – etwa beim Zahnarzt – kann eine VR-Brille besonders Kinder sehr beruhigen.

So verglichen Wissenschaftler die schmerzlindernde Wirkung eines VR-Spiels mit der von zwei Nintendo-64-Spielen (Mario Kart 64 und Wave Race 64). Im Vergleich zu den Spieleklassikern empfanden die Kinder dank des VR-Spiels nur halb so starke Schmerzen sowie viel weniger Angst und verbrachten während des Spielens auch weniger Zeit damit, über ihre Schmerzen nachzudenken. Durch die Brille konnten sie der Behandlung ihrer Wunden nicht zusehen, und das VR-Spiel lenkte sie vermutlich stärker von ihren Schmerzen ab als das Nintendo-Spiel.

Das erste VR-Spiel, dass an der University of Washington speziell dafür entwickelt wurde, Schmerzen zu reduzieren, heißt SnowWorld. In der virtuellen Eiswelt wirft man Pinguine, Schneemänner und Mammuts mit Schneebällen ab. Mehrere Studien zeigten, dass das Schmerzempfinden um bis zu 50 Prozent sank, wenn die Patienten während der Behandlung SnowWorld spielten.

Wissenschaftler vermuten dahinter folgenden Mechanismus: Die Aufmerksamkeitsspanne eines Menschen ist begrenzt. Wenn also eine Aufgabe, wie das Spielen von SnowWorld, einen Teil der Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, bleibt weniger für die kognitive Verarbeitung der Schmerzen übrig. Deshalb lindert das aktive Spielen von VR- oder Konsolenspiele die Schmerzen auch effektiver als das eher passive Schauen eines Videos. Je interaktiver, umso mehr Aufmerksamkeit nimmt das Spiel ein und umso stärker lenkt es von den Schmerzen ab. Der Effekt vergrößert sich auch mit besserer VR-Technologie.

Dass sich virtuelle Realitäten dazu eignen, akute Schmerzen zu lindern, bestätigen mehrere weitere Studien. Wer weiß, vielleicht sitzen wir eines Tages ja alle mit VR-Brillen auf dem Zahnarztstuhl und freuen uns schon auf die nächste Wurzelbehandlung. Schön wär's.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.