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Theoretische Biologie: Mutierende Ideen

Wie entsteht eine Idee, und was bestimmt, wie sie sich ausbreitet oder verändert? Woher kommen soziale Normen, und warum gibt es davon universell verbindliche, aber auch solche, die nur lokal begrenzt und für kurze Zeit gelten? Welche Rolle spielen dabei Individuen, welche größere Gruppen? Biologen suchen nach Antworten auf derartige Fragen - und nach Helfern, sie zu finden.
Simulation von Meinungsdynamik
"Mir ist nichts Menschliches fremd." Die Sentenz des römischen Komödiendichters Terenz heften sich Biologen gerne als Losung an die Brust. Denn schließlich ist ihr Forschungsobjekt ja alles Lebendige, und damit nicht nur das, was kreucht und fleucht, sprießt und gedeiht, sondern auch das, was plappert und schimpft, lacht und betrügt, was tüftelt und gestaltet, heiratet und handelt.

Die Entfaltung der Arten und das physische Werden des modernen Homo sapiens können die Lebenswissenschaftler inzwischen mit dem Vokabular Darwins und der modernen Genetik überzeugend erklären. Wollen sie sich jedoch die der biologischen Evolution quasi aufgepfropfte kulturelle Evolution des Menschen theoretisch einverleiben, knarzt und knackt es im Hypothesengebälk noch bedenklich. Zwar wurde bis dato schon einiges vorgeschlagen, aber im Wettstreit der Metaphern und Analogien konnte sich bislang keine als die im Darwin'schen Sinne am besten passende durchsetzen.

Warum beschäftigen sich die Epigonen Darwins überhaupt mit kultureller Evolution? Warum sollten sie, wenn sie Insektenkäscher oder Pipette einmal beiseite legen, denn etwas Kompetentes zur Erfindung von Töpferscheibe, Abakus, Turmfrisur und Automobil zu sagen haben? Der verdiente Schmetterlingsfachmann Paul Ehrlich von der Universität Stanford und der Biokomplexitätsforscher Simon Levin von der Universität Princeton haben jedoch nicht die lineare Abfolge von mehr oder minder historischen Meilensteinen im Blick.

In ihrem Fokus wimmeln mannigfaltige kulturelle Phänomene: Ansichten gelten hier als richtig und dort als verfolgungswürdig, ständig tauchen neue Ideen auf, Schuh- und Bartmoden wandeln sich, Dialekte sind plötzlich wieder in und Gerüchte breiten sich aus, während allerorts Geburtstagsdaten und Telefonnummern vergessen werden.

Alles in permanenter Veränderung – anderes wiederum nicht: Mord wird fast überall geächtet, und ein dreiviertel Jahrhundert Kommunismus haben der Religiosität in Russland trotz drakonischer Unterdrückung wenig anhaben können.

Aber was hat all das miteinander zu tun? Biologen vereinfachen die Sicht auf die Dinge zunächst einmal: Da wird etwas weitergegeben, da verbreitet sich etwas, da stirbt etwas aus oder überlebt Generationen, da wird etwas imitiert und bald darauf variiert. Aha – und was ist dieses ominöse Etwas, beziehungsweise "Was sind die wesentlichen kulturellen Einheiten?", fragen Ehrlich und Levin.

Zeit, Analogie Nummer eins vorzustellen. Sie setzt die jeweilige Rolle, welche ein solches Etwas in der kulturellen Evolution spielt, mit derjenigen eines einzelnen Gens in der biologischen Evolution gleich. In seinem kontrovers diskutierten Bestseller "Das egoistische Gen" von 1976 betrachtet der englische Zoologe Richard Dawkins nicht die Organismen als Hauptakteure im Darwin'schen Selektionsgerangel, sondern die Gene. Diese duplizieren und vermehren sich eigennützig, und zwar dann, wenn sie ihren Trägern irgendeinen Vorteil verschaffen.

Analog dazu schlägt er zum Verständnis kultureller Dynamik das Konzept des Mems vor. Damit bekommt er alle möglichen Kulturphänomene unter einen Hut: Witze und Ohrwürmer, Moden und Ideologien, Verhaltensmuster und Gesetze. Entscheidend ist dabei die Reproduzierbarkeit eines Mems. Ist die gegeben, bedienen sich die Meme eines Sprechers, Parteimitglieds oder Trendsetters als Vehikel, um sich zu vermehren. Kopiergerät für die Meme ist – entsprechend dem DNA-Verdopplungsapparat in der Zelle – das imitationsbegabte menschliche Gehirn sowie technische Hilfsmittel wie Buchdruck, Filme und Internet.

Die Gen-Analogie hat aber ihre Grenzen. Während Erbfaktoren – jedenfalls außerhalb des Bakterienreiches – nur in einer Linie, von Generation zu Generation, von den Eltern zum Kind, weitergegeben werden, können sich Meme in alle Richtungen verstreuen. Über Massenmedien erreicht eine Idee innerhalb eines Tages Millionen von Lesern weltweit – und diese übertragen den Geistesblitz dann weiter, möglicherweise leicht verändert oder gar falsch verstanden.

Und damit sind wir schon beinah im Bild von Analogie Nummer zwei. Der italienische Populationsgenetiker Luigi Luca Cavalli-Sforza vergleicht den Mechanismus kultureller Übermittlung lieber mit der epidemischen Ausbreitung von Krankheitserregern. Das erinnert an die viel zitierte Metapher des Beat-Poeten William S. Burroughs "language is a virus from outer space" – die Sprache als Virus. Nach Cavalli-Sforza schwankt die Popularität eines ansteckenden kulturellen Konstrukts wie eine sich ausdehnende und wieder abebbende Infektionswelle. In dieser Allegorie infizieren die Ideen also ihre humanen Wirte, wenn sich diese nicht als resistent erweisen.

Doch auch die Virus-Metapher erfasst nicht alle Merkmale des Ideenverkehrs, betonen Ehrlich und Levin. Schließlich sind Menschen nicht immer passives Opfer kultureller Beeinflussung, sondern durchaus fähig – ihre Erfahrungen reflektierend –, eigenes Wissen zu konstruieren und Gedankengebäude zu erschaffen. Außerdem ist es für Naturwissenschaftler ein ziemlich unbefriedigender Zustand, nur bei der Diskussion von geistreichen Metaphern zu verharren. Es verlangt sie nach Modellen und Parametern, mit denen sie Experimente durchführen und überprüfbare Vorhersagen treffen können.

Simon Levin entwirft dazu ein recht einfaches mathematisches Modell. Er simuliert die dynamische Verteilung zweier Meinungen, indem er eine zweidimensionale Bildfläche konzipiert, auf der jeder Bildpunkt eine von zwei Farben annehmen kann. Das gepixelte Terrain stellt das Volk dar, die einzelnen Bildpunkte jeweils eine Person – das heißt deren Meinung. Mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit übernimmt ein Punkt die Meinung seiner Nachbarpunkte und wechselt daraufhin seine Farbe.

Simulation von Meinungsdynamik | Langzeitsimulation der Dynamik von Meinungen mit niedriger (a), hoher (b) und mittlerer (c) Reizschwelle: Eine komplexere Simulation (d) berücksichtigt die Neigung, den Nachbarn zu ähneln sowie das Bedürfnis bei einer starken Abweichung von der Gruppennorm, diese auch zu artikulieren.
Ist die Wahrscheinlichkeit hoch – gleichsam die Schwelle, welche fremde Ansichten überwinden müssen, niedrig – wechseln die Pixel ständig ihre Farbe. Es zeigt sich ein Flackern, aber kein Muster – jedes Pixel ist ein, wenn auch wankelmütiger, Individualist (a). Liegt die Wahrscheinlichkeit dagegen niedrig, also die Schwelle hoch, bleiben die Personenpunkte bei ihrer konservativen Auffassung. Auch dann entstehen keine Muster – das Meinungsbild ist wie eingefroren (b). Stellt Levin die Reizschwelle aber auf einen mittleren Wert ein, bilden sich allmählich Inseln von Gleichgesinnten – die Mitglieder einer Insel offenbaren sich dann allmählich als Konformisten (c).

In einem folgenden, etwas verfeinerten Modell haben die einzelnen Personen respektive Pixel zwar die Neigung, ihre Nachbarn zu imitieren. Wenn sich ihre schwankenden inneren Zustände indes weit genug von der Gruppenmeinung entfernen, schalten sie gleich ganz auf eine andere Meinung um – ihnen wohnt eine Tendenz zum Nonkonformismus inne (d).

Zugegeben, das Flimmern auf Levins Monitor hat mit Kultur noch wenig zu tun. Es erhellt aber beispielsweise die Bedeutung der Reizschwelle. In der Epidemie-Analogie entspricht sie der Resistenz eines Menschen gegenüber einer infektiösen Idee. Beim Menschen selbst gleicht sie funktionell dem Filter, mit dem er nützliche Informationen aus der Datenschwemme aussiebt, dabei brauchbare auffängt – etwa über die lokalen Sitten im nächsten Urlaubsort –, und unbrauchbare – wie Werbebotschaften – ignoriert.

Ferner lässt sich aus dem primitiven Modell ansatzweise Gruppenzwang erahnen. Ein Bildpunkt, der sich von der Meinung seiner Nachbarn anstecken lässt, ähnelt einer Person, die bevorzugte Anschauungen einer Gruppe imitiert, um dazuzugehören. Bei schon gefestigten Gruppen wiederum droht einem Mitglied der Ausschluss, wenn es gegen etablierte, indes oft unausgesprochene Normen verstößt.

Eventuell erklärt sich die Anziehungskraft, den die kulturelle Evolution für Biologen ausstrahlt, ja aus dem Frust, die rasante Entwicklung der vergangenen Jahrtausende nicht durch parallele genetische Umwälzungen erklären zu können. Denn an der genetischen Ausstattung hat sich seit der Steinzeit nicht mehr viel geändert – das gegenwärtige Erbgutarsenal ist mitnichten als Reaktion auf das turbulente moderne Leben zu verstehen. Den "Mammutjäger in der Metro" hat "der blinde Uhrmacher" Evolution – so zwei weitere populäre Buchtitel – in der fernen Vergangenheit auf lange Zeit konstante Umweltbedingungen hin optimiert. Um den rasch wechselnden Moden der Gegenwart zu folgen, ist das von seltenen und zufälligen Mutationen abhängige Erbgut schlicht nicht formbar genug. Daher überantwortete es die Leitung dem geschmeidigeren Gehirn.

Fragt sich, was denn nun eigentlich Ideen sind. Tauchen sie urplötzlich auf und sind im wörtlichen Sinne Einfälle? Oder entstehen sie durch Mischen von Trümmern schon herum geisternder Ideen, mal beim einsamen Brüten, mal in der Gruppe beim Brainstorming? Vielleicht sind sie ja ein zwar seltener, aber trotzdem planmäßiger Betriebsunfall, wie eine Mutation – ein unvorhersehbarer Bruch in der DNA, wenn diese von einem verirrten Energiestrahl getroffen oder einem aggressiven Molekül angerempelt wird.

Lichtstrahlen in ziemlich viele Köpfe halten übrigens Ehrlich und Levin für nötig, um kulturelle Evolution irgendwann streng naturwissenschaftlich zu fassen, weshalb sie Ökologen, Evolutions- und Verhaltensforscher um Mithilfe bitten.

Um dem Gesamtkunstwerk Homo den Mantel des Fremdartigen abzustreifen, dürften sicher auch Ideen von Soziologen und Psychologen, Computerwissenschaftlern und Kulturtheoretikern hilfreich sein. Womöglich hat dann der nächste Artikel zum Thema eine bessere Quote als neun Fragezeichen gegenüber nur wenigen konkreten Antworten.

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